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KAPITEL 2
Töte und stirb für Allah!
Der Schrecken von Halabdscha
Schon sechs Monate lang kämpfte ich gegen die Ungläubigen in der südlichen Provinz Khuzestan. Unsere Armee erzielte Erfolge, der Feind zog sich zurück, wir rückten vor. Es war an der Zeit, sich von der Stadt Schalamtsche zu verabschieden und nach Halabdscha weiterzuziehen, auf irakisches Territorium; der Aggressor bekam, was er verdiente.
Wir fuhren genau an unserem Neujahr an die Font. Im Iran wird es im Frühling gefeiert, am 21. März, zusammen mit der Tag-und-Nacht-Gleichen. Der genaue Zeitpunkt wird jedes Jahr neu exakt berechnet und kann sowohl in den Tag als auch in die Nacht fallen, nicht so wie in Europa und der christlichen Welt immer auf zwölf Uhr mitternachts. Traditionsgemäß beschenkt das Familienoberhaupt die Seinen mit neuen Kleidern. Auf der Festtafel muss es unbedingt sieben vergetarische Ritualspeisen geben, deren Namen in unserer Sprache alle mit dem Buchstaben S anfangen. Knoblauch und Essig, gekeimte Weizenkörner und eine Suppe aus Blattsalat müssen unbedigt dabei sein. Nach einer uralten heidnischen Tradition zünden die Leute auf den Straßen ein Feuer an, über das sie springen, um gesund zu bleiben. Im Augenblick des Jahresanbruchs muss jeder eine Silbermünze in der Hand halten als Versprechen, sich nicht von der Familie und dem Geburtsort zu trennen.
Doch ich, ich sollte dieses Neujahr weit entfernt von meiner Familie und meinem Geburtsort sein, keine Silbermünze der Welt konnte mir helfen. Ich begrüßte das neue Jahr 1988 auf dem Weg in eine Stadt, deren Name zu einem Synonym für Schrecken und Völkermord wurde.
Am 22. März näherten wir uns Halabdscha. Unsere Truppen hatten das irakische Territorium angriffen und einen Teil davon eingenommen, konnten sie sich doch voll und ganz auf die Unterstützung der lokalen kurdischen Bevölkerung verlassen. Die kurdischen Kämpfer, die Peschmerga, kämpften gegen das ihnen ebenfalls verhasste sunnitische Regime von Saddam Hussein, was sie ihm noch mehr zu einem Dorn im Auge machte, Verbündete des feindlichen Iran.
In diesem heiß umkämpften Gebiet sollte ich bleiben, unbekannt wie lange. Ich hatte schon das Selbstbewusstsein eines an der Feuerlinie erfahrenen Kämpfers. Ich hatte einen Führerschein und erschien furchtlos, dadurch hatte ich die Möglichkeit, den Krankenwagen zu fahren, worauf die Anderen nicht scharf waren. Es war allen zu gefährlich, denn es war sonnenklar, dass alle Fahrzeuge zu den ersten Zielen des Feindes gehörten. Und je größer ein Ziel war, desto leichter war es aus der Luft oder vom Boden zu treffen. Das galt besonders für die großen Lastwagen, mit denen Soldaten und Munition an die erste Linie der Kampfhandlungen gefahren wurden. Aber auch für die Krankenwagen gab es keine Gnade, absichtlich oder versehentlich wurden tagtäglich welche beschossen.
Mich kratzte das nicht besonders. Ich wollte alles erreichen, was für mein Land möglich war, der Sache des Iran und der Revolution maximal nützlich sein. In diesen Tagen hatte nichts anderes Bedeutung für mich. Deshalb war ich hierher gekommen, also musste ich es mit aller Kraft und bis zum Ende tun – wie alles, womit ich anfange, denn warum fange ich es sonst an?
Als ich ein halbes Jahr zuvor in der Gegend angekommen war, hatte ich mich, ohne Zeit zu verlieren, schnell in der neuen Umgebung orientiert. Schalamtsche, Halabdscha, Sulaymanyja, der Fluss Karun, all diese Namen, bis gestern nur geografische Bezeichnungen, wurden nun zu dauerhaften Orientierungspunkten im Koordinatensystem einer mir bis dahin unbekannten Welt: einer Welt mit tagtäglichen Luftangriffen und häufigen chemischen Attacken, einer Welt voller Angst und Gewalt, Schrecken und Blut!
So war es auch bei unserem Einzug in Halabdscha. Nur einige Tage, bevor wir ankamen, am 16. März, heulten die Sirenen vor einem Luftangriff. Es gab unterschiedliche Signale für Fliegerbomben oder Angriffe mit Chemiewaffen. Die Menschen in Halabdscha verstanden sie sehr gut, und deshalb versteckten sie sich, wie immer bei Alarm, in Bunkern, Kellern und Tunneln. Einige blieben in ihren Häusern, sie hatten sich zu sehr an die Signale gewöhnt und die Wahrnehmung der Bedrohung verloren. Nach so vielen Angriffen und so vielen Leichen fängt man an zu denken: Was passieren muss, passiert sowieso, man kann vor seinem Schicksal nicht weglaufen. Diese Haltung wird ein Teil von dir, ganz davon zu schweigen, dass Fatalismus überhaupt kennzeichnend für die muslimische Denkweise ist und mit der Ergebenheit vor Allahs Willen zusammengeht.
All die friedlichen Menschen konnten jedoch nicht wissen, dass das Signal für einen Luftangriff diesmal irreführend war. Wer konnte vermuten, dass der Angriff diesmal nicht den Kampfstellungen, sondern friedlichen Bürgern gelten würde und dazu nicht Sprengkörper abgeworfen wurden, sondern chemische Waffen?
Es war das mörderische Gas aus den höllischen Laboratorien von Saddam, vor dem sich die Leute nicht in Kellern, Tunneln und Bunkern schützen konnten. Im Gegenteil, das Gas war schwerer als Luft, sank schnell auf den Boden, drang durch alle Ritzen und Spalten und tötete alles Leben. Es tötete die Menschen so schnell, dass viele sicher gar nicht merkten, was genau passierte.
Als wir sechs Tage später in die gespenstische Stadt kamen, gingen wir durch menschenleere Straßen, an geöffneten Geschäften vorbei, schauten in die verstummten Häuser und sahen übrall das Gleiche: erstarrte, scheinbar eingeschlafene Menschen. Da war keine Reaktion auf den Angriff in den eingefrorenen Gesichtern, da war nicht diese schreckliche Maske des Todeskampfes, die ich schon bei umgekommenen Soldaten gesehen hatte und die mein ständiger Begleiter werden sollte. Hier sah ich diese Maske nicht. Ich sah einen Vater, der sein Kind im Arm hatte, niedergesunken mit ihm an der Tür seines Hauses. Ein anderer Mann mit einem Kind auf dem Arm, an eine offene Autotür gelehnt … ich sah eine Familie am Tisch … einen Mann, wie er einen Löffel hielt und sich zurücklehnte … der Löffel steckte noch in seiner Hand … die Teller auf dem Tisch … die ganze Familie wie eingeschlafen … alles war so absurd, so erschütternd, so sinnlos.
Es ist ungeheuerlich, aber bei den vielen unbegrabenen Leichen auf dem Feld gewöhnt man sich mit der Zeit an die Grimassen der Ermordeten. Der Tod sieht schrecklich aus, wie er sich im Gesicht der Toten abbildet. Und so sehr man auch versucht, sie nicht anzuschauen, es lässt sich nicht vermeiden. Du hast das Gefühl, sie sehen dich an, suchen deinen Blick, suchen eine Erklärung, suchen Antwort auf die Frage: »Warum bin ich gestorben, warum musste ich sterben?« Du hast keine Antwort auf diese Frage, weil du tief in dir spürst, es war ein sinnloser Tod.
So viele meiner Landsleute, meine Waffenbrüder, einige davon auch meine Freunde, waren hierher gekommen und gestorben. Die schrecklichen Todesgrimassen auf ihren Gesichtern, sie konnten auch dir als Überlebendem nicht als Erklärung dienen, konnten ihrem Fronteinsatz, ihren Anstrengungen und Bemühungen vom Anfang bis zum Ende der Schlacht keinen Sinn verleihen. Ob es darin eine Logik gab – du warst doch gekommen, um zu kämpfen, und im Krieg wird getötet, und du warst eben einer der Getöteten und hattest hier dein Ende gefunden. Ungeheuerlich, aber war das nicht schon eine Erklärung? Aber ein Sinn?
In den Gesichtern der Opfer aus der friedlichen Bevölkerung in Halabdscha war der Schmerz vom Ende nicht eingezeichnet, ich sah nichts davon. Ich sah friedlich eingeschlafene Menschen. Als ruhten sie sich aus, weil morgen wieder das Leben auf sie wartete mit seinen Aufgaben, Problemen und Träumen. Als würden sie bald aufwachen und aufstehen. Aber ich wusste, sie wachten nie wieder auf. Es war erschreckend, wie der Tod in dieser friedlichen Ruhe das Leben imitierte. Dieser tote Frieden in der Kriegshölle war das Erschreckendste von allem.
Beim Verlassen der Stadt nahmen wir nur ein paar Eier aus einem Geschäft mit – das Gas drang überall ein und hatte alle anderen Nahrungsmittel vergiftet, und wir konnten es nicht riskieren, so verlockend einige Sachen auch waren. Wenigstens wussten wir davon und konnten uns schützen.
Schwieriger war es, sich vor dem Gift zu schützen, das in die Seele eindrang und allmählich das Menschliche in uns wegbröckeln ließ, das Gute niederdrückte und sich an seiner Stelle ausbreitete. Wir verließen Halabdscha mit mehr giftigen Erinnerungen an einen schonungslosen Massentod.
Vor der gespenstischen Stadt sahen wir ein muhendes Kälbchen an der Straße liegen. Woher war das unglückliche Tier in dieser Leere gekommen, wie hatte es in der vergifteten Umgebung überlebt, wo hatte es sich vor dem erstickenden Gas versteckt? In den Kriegsbildern gibt es keine Logik. Wir kamen näher und sahen, dass das Kälbchen neben der Leiche einer gestorbenen Kuh lag und seinen Kopf auf den ihren gelegt hatte. Es trauerte um seine Mutter.
Wir fuhren weiter zu unseren Stellungen und die ganze Zeit hatte ich die ruhigen, unschuldigen Kindergesichter in Halabdscha vor Augen. Dazu erstarrte Gesichter von Müttern und Vätern, von friedlichen Menschen. Und in den Ohren das durchdringende, verzweifelte »Muh-muh!«. Ich brach in Tränen aus.
Später erfuhr ich, dass der Angriff von Saddam Husseins Bruder Ali Hassan al-Madschi persönlich organisiert worden war, der deswegen später »Kurdenschlächter« und »der chemische Ali« genannt wurde. Die Gasattacke wurde mit einer Kombination aus Iprit, Zarin, Tabun und Gas XV ausgeführt. Etwa fünfhundert Kurden kamen um. Unsere Leute waren sich sicher, dass diese chemischen Angriffe eine Verletzung jeglicher...