Spaltung
Vom Nachbarvolk kommt ein verzweifelter Hilferuf. Immer mehr von den Angehörigen dieses Volkes lösen sich aus der Matrix, aus der Einheit und verlieren die Verbindung zu den anderen Lebewesen. Sie sondern sich ab, haben unverständliche Gedanken und fangen an, verrückte Dinge zu tun. Die Angst vor einer Seuche geht um.
Der Ältestenrat der Hatoms beschließt, einen jungen Mann mit dem Namen Igorius, der sich durch besonders stabile Gesundheit, mentale Stärke und große Klugheit auszeichnet, zum Nachbarvolk zu entsenden. Er soll herausfinden, was der Grund für die Seuche ist, wie gefährlich sie ist und wie sie gestoppt werden kann.
Als Erstes reist Igorius zum nächstliegenden Dorf des Nachbarvolks. Dort angekommen, kann er kaum glauben, was sich ihm zeigt. Um das ganze Dorf ist eine hohe Mauer errichtet. Bevor Einlass gewährt wird, befragen Wächter ihn misstrauisch, wo er herkomme, was er wolle, welche Absichten er habe, wer ihn gerufen habe. Igorius versteht die Welt nicht mehr. Statt, wie sonst, mit Freude und offenen Armen empfangen zu werden, stößt er auf Ablehnung und Misstrauen. Bisher war ihm das Gefühl, ein Fremder zu sein, unbekannt. Erstmals fühlt er, wie es ist, mit anderen Wesen nicht wirklich verbunden zu sein. Hat ihn die Krankheit bereits befallen?
Was Igorius im Dorf zu sehen bekommt, verwirrt ihn noch mehr. Auf den ersten Blick fallen die neugebauten Häuser, gepflegte Straßen und der Einsatz praktischer fortschrittlicher Gerätschaften auf. Die Bewohner scheinen wie Besessene zu arbeiten. Sie bringen an ihren Häusern schwere Türen und Fensterläden mit Schlössern und Riegeln an, um sich vor „Feinden“ zu schützen. Sie häufen Besitztümer und Vorräte für „schlechte Zeiten“ an. Untereinander liegen sie im Streit darüber, welchen Wert dieser oder jener Gegenstand hat, wem was gehört oder wer was benutzen darf. Sogar die Nutzung des Wassers löst heftige Reibereien und manchmal sogar Gewaltakte aus.
Einige Bewohner sitzen weinend am Straßenrand. Als Igorius fragt, was ihnen Schlimmes passiert sei, können sie keinen konkreten Anlass nennen. Sie fühlen sich einsam, allein, ängstlich, schwach und hilflos. Sie behaupten, dass sie alles verloren hätten und auch selbst nichts mehr wert seien. Für Igorius sind dieses Verhalten und diese Aussagen rätselhaft und unverständlich.
Er muss lange suchen, bis endlich jemand das Vertrauen hat, mit ihm ein tiefergehendes Gespräch zu führen. Schließlich begegnet er Anga, einer Frau in ungefähr seinem Alter. Als er sie anspricht, lächelt sie so freundlich, dass ihm ganz warm ums Herz wird. Behutsam erklärt er, wie wichtig seine Mission sei, und fleht sie schließlich inständig an, ihm zu helfen. Anga, die Igorius recht nett findet, erzählt, wie die Veränderungen bei ihr begonnen haben: „Vielleicht hältst du mich für verrückt, Igorius“, sagt Anga, „aber ich bin der festen Überzeugung, dass das alles etwas mit einer Wolke zu tun hat.“
„Egal, was es ist“, erwidert Igorius, „erzähle, was dir in den Sinn kommt.“
„Also gut: Vor ungefähr zwei Wochen, es war ein schöner sonniger Tag, fiel mir eine ungewöhnliche Wolke am Himmel auf. Die Wolke war kompakt, fast rund und passte einfach nicht in den strahlend blauen Himmel. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass irgendetwas überhaupt nicht stimmte. Seit dieser seltsamen Erscheinung bin ich müde und schlapp, richtig krank. Alles kommt mir dumpf und vernebelt vor. Mein Blick ist irgendwie verschwommen und ich höre auch schlechter, als ob die Wolke eine Kiste über meinen Kopf gestülpt hätte. Das Essen schmeckt fad und ich nehme Gerüche kaum noch wahr. Das Auffälligste und Schlimmste aber ist, dass ich meinen eigenen Körper und die Anwesenheit der anderen um mich herum nicht mehr richtig spüre. Nur noch intensive Reize dringen durch. Mein Verstand ist dauernd mit irgendwelchen Phantasien und Problemen beschäftigt. Zuerst glaubte ich, dass das irgendeine Kreislaufschwäche oder Krankheit ist, die bald vorübergeht. Doch es wird einfach nicht besser. Obwohl ich kein Fieber habe, geht es mir richtig schlecht. Der Zustand bleibt auch unverändert. Ich gewöhne mich langsam daran, aber ich will endlich wieder klar denken können und mein Leben spüren. Allmählich verblassen sogar die Erinnerungen daran, wie es vorher war. Mein Rhythmus, meine Verbindung mit der Welt ist verloren. Ich bin wie ein Fremdkörper, der nicht mehr dazugehört. Wie kann ich das nur ändern?“
Anga umarmt Igorius und fängt laut zu schluchzen an. Bei der Umarmung spürt Igorius, dass nicht nur Anga, sondern auch noch irgendetwas anderes in seinen Armen liegt. Irgendeine Entität, eine fremde Substanz oder sogar fremde Wesenheiten? Er weicht erschrocken zurück und schaut Anga mit großen Augen an. „Anga, hast du das Gefühl, dass dich etwas beeinflusst oder lenkt?“
„Gelenkt werde ich nicht“, erwidert Anga. „Eher spüre ich, dass mir was entzogen wird, dass ich irgendwie ausgesaugt werde. Als ob meine Zufriedenheit, meine Wahrnehmung des Hier und Jetzt, mein innerer Frieden aus mir herausgesaugt würde. Gibt es Energievampire?“
Igorius lacht: „Nein, Vampire sind Märchengestalten. Obwohl? Ich habe schon von Kräften oder Verdichtungen gehört, die wie Wesen wirken können. Der Wirt dieser Verdichtungen nimmt diese selber nicht als solche wahr. Vielleicht hast du was eingefangen, das sich von Bedürfnissen ernährt und deshalb deine Bedürfnisse immer stärker und fordernder macht.“
Anga zuckt zusammen: „Wäre sowas möglich? Meine Sehnsucht nach Nähe, Liebe, Geborgenheit und Wärme wird jeden Tag größer. Erst als ich dich umarmte, waren für einen winzigen Moment die Bedürfnisse und die Kraftlosigkeit weg. Ich spürte wieder Verbundenheit. Ich fühlte mich für eine Sekunde wie früher. Igorius, wie werde ich diese Krankheit los? So kann ich nicht weiterleben!“
Igorius ist ratlos. Er beschließt, mit Anga zu seinem Volk zurückzukehren. Sie wollen den Ältestenrat und die Medizinfrauen und -männer um Hilfe bitten. Vielleicht haben die eine Idee.
Die Folgezeit wird für Anga die schrecklichste Zeit ihres Lebens. Klar, sie kann durch ihr Opfer für die Gemeinschaft womöglich eine ganze Zivilisation retten. Aber Igorius zerspringt das Herz angesichts dessen, was Anga erleiden muss. Die Behandlungen und Anwendungen der Heiler sind ein einziges Irren in dichtem Nebel. Alle möglichen Kräuter, Salben, Tinkturen, Drogen, Massagen werden ausprobiert. Schamanen machen stundenlange Rituale. Alles ist wirkungslos. Es geht ihr immer schlechter. Der Schmerz der Einsamkeit und die innere Leere sind unerträglich. Sie beginnt zu phantasieren. Ihre Gedanken kreisen um Erinnerungen an die gute alte Zeit, oder sie malt sich in allen Einzelheiten Zukunftsvisionen vom großen Glück aus. Gegenwart nimmt sie kaum noch wahr.
Igorius, der in Anga verliebt ist, zieht in seiner Verzweiflung eine letzte Heilungschance in Betracht. Er erinnert sich an beeindruckende Erzählungen aus seiner Kinderzeit. Sie handelten von einem alten Tempel hoch in den Bergen. Es ist ein Tempel, der angeblich von geheimnisvollen, spirituellen Wesen bewacht wird. Unzählige Geschichten ranken sich um ihn. In manchen Geschichten wird behauptet, der Tempel berge wertvolle Schätze. Andere erzählen von übernatürlichen Geschehnissen und Wundern. Keiner kennt die Wahrheit. Die meisten Hatoms halten den Tempel für ein reines Phantasiegebilde.
Drei Tage und drei Nächte irrt Igorius in den Bergen umher. Er ist völlig entkräftet und hat kaum noch Hoffnung, den Tempel zu finden. Außer Beeren bekommt er nichts in den Magen. Die Füße schmerzen und Kälte lässt ihn zittern. Da blinkt aus einer Felswand ein helles Licht. Wahrscheinlich ein Bergkristall, der sich im Sonnenlicht spiegelt, denkt Igorius und geht weiter. Doch trotz Positionsveränderung verfolgt ihn das Licht. Das will er nun genauer ansehen.
Nach kurzem Marsch gelangt er zur Felswand. In der Mitte der Wand ist ein schmaler Spalt. Igorius zwängt sich hindurch. Allmählich weitet sich der Spalt und mündet in ein kesselförmiges Rondell. Dieses ist von hohen senkrechten Felswänden umgeben, die bis in den Himmel zu reichen scheinen. In den Felswänden sind Stufen eingehauen. Stufen, die eine Wendeltreppe nach oben bilden und sich hinter einem Felsvorsprung verlieren. Igorius wagt sich die Stufen empor. Ganz nah drückt er sich an der Felswand entlang, denn er ist nicht schwindelfrei. Immer höher geht es und jeder Blick in den Abgrund lässt die Knie weich werden. Schließlich erreicht er den Felsvorsprung und sieht ein Plateau. Inmitten des Plateaus steht er! Groß und mächtig! Der Tempel. Ganz aus Stein. Er scheint aus einem einzigen Stück Felsen gehauen und das Plateau um ihn herum abgetragen worden zu sein. Der Tempel wurde nicht erbaut, sondern durch Befreien von überflüssigem Gestein in die...