Einleitung zur amerikanischen Ausgabe 1999
Seit dem ersten Erscheinen dieses Buches sind fast zwanzig Jahre vergangen, und diese Jahre waren für das Wiedererstehen des Schamanismus höchst bedeutsam.
Zuvor war der Schamanismus überall unaufhaltsam auf dem Rückzug gewesen, denn Missionare, Kolonialherren, Regierungen und kommerzielle Interessen hatten die indigenen Völker und Stämme zurückgedrängt und viele alte Kulturen ausgelöscht. Mit überraschender Kraft ist jedoch in die letzte Dekade der Schamanismus ins menschliche Bewusstsein zurückgekehrt, auch in solchen Hochburgen westlicher Zivilisation wie New York, Wien oder München. Diese Renaissance ging allerdings so subtil vor sich, dass die Öffentlichkeit die Existenz des Schamanismus meist überhaupt nicht bemerkte. Freilich gibt es in den Vereinigten Staaten von Amerika und auch anderswo eine zweite, rasch wachsende Öffentlichkeit. Sie hat die Methoden des Schamanismus aufgegriffen und zu einem Bestandteil ihres täglichen Lebens gemacht. Sie zählt inzwischen viele Tausende von Anhängern.
Diese unerwartete Wiederkehr des Schamanismus hat auch außerhalb der schamanischen Bewegung für Erstaunen gesorgt. So verwunderlich ist das allerdings nicht, denn die Ursachen sind klar erkennbar: Ein Grund für das zunehmende Interesse am Schamanismus ist, dass viele gebildete, denkende Menschen die Epoche blinden Gehorsams ein für alle Mal hinter sich gelassen haben. Sie glauben nicht länger an kirchliche Dogmen und vertrauen, wenn es um spirituelle Angelegenheiten geht, nicht länger irgendeiner Autorität, sondern der einzig wahren – nämlich der spirituellen. Anekdotische, kulturspezifische Berichte aus zweiter oder dritter Hand in Sachen vergleichender Religionswissenschaft befriedigen nicht länger; vor allem bieten sie keine überzeugende persönliche Hilfe. Heutzutage ist Klarheit, sind Beweise gefragt.
Das sogenannte New Age ist ein Produkt des wissenschaftlichen Zeitalters: Die Paradigmen, Vorstellungen und Lösungsansätze zweier Jahrhunderte seriöser wissenschaftlicher Arbeit dringen ungehindert ins persönliche Leben ein. Die Kinder des Wissenschaftszeitalters, zu denen auch ich gehöre, ziehen Ergebnisse aus erster Hand, eigene Beobachtungen und Schlussfolgerungen über die Natur und die Grenzen der Wirklichkeit vor.
Schamanismus ist solch eine Methode für persönliche Experimente, denn bei ihm handelt es sich um eine Technik und nicht um eine Religion.
Ein Produkt dieses Zeitalters der Wissenschaft ist das LSD. Viele, die für sich den Schamanismus entdeckten, haben diesbezügliche Experimente hinter sich, Trips mit psychedelischen Drogen. Sie fanden in den Büchern Carlos Castanedas und anderer ein System, in das sie ihre Erfahrungen einordnen können. Seither wissen sie: Hilfe kommt vom Schamanismus.
Auch die nunmehr weithin bekannten Nahtodeserfahrungen sind Kinder des Wissenschaftszeitalters. Grundlage hierfür ist eine neue Art medizinischer Technologie, die Millionen Amerikaner aus dem klar definierten klinischen Tod ins Leben zurückgeholt hat. Obwohl sie nicht geplant ist, stellt jede Nahtodeserfahrung doch eine Art Experiment dar: in dem Sinne, dass die Weltsicht genauso wie die Vorurteile der »Testperson« geprüft, infrage gestellt und durch die Erfahrung meist nachhaltig beeinflusst werden – vor allem das Wirklichkeitsverständnis und die Einstellung zur Spiritualität.
Die Methoden des Schamanismus erfordern sozusagen »entspannte Disziplin«, dazu Konzentration und Ausrichtung auf ein Ziel. Der Schamanismus der Gegenwart verwendet, so wie in den Traditionen der meisten Stammeskulturen, den monotonen Klang von Schlaginstrumenten, um einen veränderten Bewusstseinszustand zu erreichen.
Der große Vorteil dieser klassischen drogenfreien Methode: Sie ist erstaunlich sicher. Wenn den Ausübenden Aufmerksamkeit und Disziplin fehlen, fallen sie einfach in den Zustand des Normalbewusstseins zurück. Zudem gibt es auch keinen vorherbestimmten veränderten Bewusstseinszustand, wie das bei Drogenerfahrungen häufig der Fall ist.
Zudem wirken diese Methoden überraschend schnell. Das hat zur Folge, dass die meisten Menschen in wenigen Stunden Erfahrungen machen können, für die andere jahrelang meditieren, beten oder chanten müssen. Schon allein deshalb ist der Schamanismus für moderne, meist viel beschäftigte Menschen bestens geeignet – mindestens ebensogut wie für die Inuit (Eskimo), deren Tagesarbeit dem Überlebenskampf gewidmet war, deren Abende jedoch dem Schamanismus gehörten.
Ein weiterer Faktor für die Wiederkehr des Schamanismus ist die ganzheitliche Sicht vom Menschen, die bewusst geistige Kräfte zur Gesundung und zur Erhaltung der Gesundheit einsetzt. Viele Methoden der ganzheitlichen New-Age-Gesundheitsbewegung basieren auf dieser Wiederentdeckung individueller Versuche – und letzten Endes auf den Methoden und Sichtweisen der Stammes- und der Volksmedizin.
Der Schamanismus, der vieles von diesem alten Wissen enthält, wird von jenen immer stärker beachtet, die neue Lösungen von Gesundheitsproblemen suchen, seien sie nun körperlich oder geistig-seelisch. Hochspezifische Techniken, wie sie seit Langem Bestandteil des Schamanismus sind (etwa Änderung des Bewusstseinszustandes, Stressbekämpfung, Visualisierung, positives Denken und Hilfe seitens Instanzen der nichtalltäglichen Wirklichkeit) sind zugleich Beispiele aus der ganzheitlichen Praxis.
»Spirituelle Ökologie« ist ein weiteres Schlagwort, das auf die Bedeutung des Schamanismus hinweist. In der gegenwärtigen weltweiten Umweltkrise bietet der Schamanismus etwas, das keine der großen anthropozentrischen Religionen enthält: Ehrfurcht vor und spirituelle Kommunikation mit allen Wesen und mit der Erde selbst. Schamanismus besteht nicht einfach in Verehrung der Natur, sondern ist wechselseitiger Erfahrungsaustausch, der die verloren gegangenen Verbindungen unserer Vorfahren zu den spirituellen Kräften und Schönheiten unserer Erde wiederherstellt.
Die Schamanen waren, wie Mircea Eliade, der leider verstorbene führende Forscher in Sachen Schamanismus und vergleichender Religionswissenschaften, formulierte, »die letzten Menschen, die imstande waren, mit den Tieren zu reden«. Ich würde noch hinzufügen, dass sie auch die letzten waren, die mit der gesamten Natur – mit den Wassern, der Luft und den Steinen – reden konnten. Unsere Vorfahren, die Jäger und Sammler, wussten, dass ihre Umwelt über ihr Leben und ihren Tod bestimmte; Kommunikation mit ihr hielten sie für lebensnotwendig.
Auch wir werden jetzt auf diesen Punkt hingewiesen. Nach der erbarmungs- und rücksichtslosen Vernichtung vieler Arten auf dieser Erde, der Zerstörung und Vergiftung des Wassers, der Böden und des gesamten Planeten, beginnt uns langsam zu dämmern, dass unser Überleben letztendlich von dem Umfeld abhängt, das uns die Erde bietet. Aber – dieses allein zu achten ist zu wenig. Was wir brauchen, ist innigste Kommunikation mit ihm und liebende Zuwendung zu dem, was der Lakota »alle unsere Verwandten« nennt. Wir brauchen das Gespräch nicht nur mit den Menschenwesen, sondern auch mit den Tierwesen, den Pflanzenwesen und allen anderen Teilen der Umwelt, einschließlich des Bodens, der Steine und des Wassers. Aus der Sicht des Schamanen ist unsere Umgebung nicht »Umwelt«, sondern Familie.
Heutzutage gehen viele Menschen zwischen Zürich und Auckland, zwischen Chicago und São Paulo wieder den alten Weg des Schamanen – sehr häufig in Trommelgruppen, die sich regelmäßig zu schamanischer Arbeit und zum Heilen treffen. Diese Gruppen arbeiten vollkommen selbstständig – so wie das Schamanen seit undenklicher Zeit gemacht haben: Zusammenarbeit in kleinen Gemeinschaften, um sich und einander zu helfen. Und diese formlosen Kleingruppen sind Teil von größeren Gemeinschaften: vollkommen international, ohne jede Hierarchie und ohne jegliche Dogmen, denn die wahren spirituellen Autoritäten sitzen, wie zu den Zeiten der Stammesgesellschaften (und wie von jedem schamanisch Reisenden überprüft werden kann), in der nicht alltäglichen Wirklichkeit.
Die Trommelgruppen kommen üblicherweise wöchentlich oder zweimal im Monat zusammen; meistens sind es zwischen drei und zwölf Menschen, die sich einander in der Organisation der Abende und in der Verantwortung ablösen. Sie trommeln nicht nur miteinander, sondern sie helfen sich auch gegenseitig und Freunden, Verwandten und Bekannten – und das ohne Geld.
Andere wieder arbeiten allein, mit Tonbändern, CDs, Kopfhörern – mit allen Hilfsmitteln des modernen schamanisch Tätigen. Mit richtig verwendetem Tonband (oder CD) – siehe Anhang A dieses Buches – sind die Ergebnisse oft überraschend gut. Das Tonband und andere technische Hilfsmittel werden auch in der Problemlösungsmethode Shamanic Counseling (Schamanische Beratung) verwendet.
Core Shamanism – Basis-Schamanismus, wie er in diesem Buch beschrieben und in den Seminaren der Foundation gelehrt wird, hat nichts mit »Indianerspielen« zu tun. Der moderne Mensch verwendet dieselben schamanischen Techniken wie seine Vorfahren, und er kommt zu denselben spirituellen Quellen wie die Schamanen der alten Kulturen. Die, die diese Techniken anwenden, behaupten nicht, Schamanen zu sein – wichtig ist, dass sie schamanisch arbeiten und konkrete Ergebnisse haben. Ihre Erfahrungen sind echt und mit den Berichten der Schamanen aus schriftlosen Kulturen absolut wesensgleich, ja sogar miteinander vertauschbar.
Die schamanische Arbeit ist immer und überall gleich; Herz, Hirn und Körper sind gleich – nur die kulturelle Ausformung ist verschieden.
Diejenigen, die Schamanismus betreiben, stoßen auch in besondere...