EINFÜHRUNG
Auf der Suche nach dem wilden, zutiefst Weiblichen
Llyn Roberts
Im Frühjahr 2010 begab ich mich unter Anleitung von Anne Hayden und Sheila Belanger, zwei wunderbaren Frauen, im Osten des Staates Washington auf eine Vision Quest (Visionssuche). Über einige der Erfahrungen, die ich auf dieser Reise gemacht habe, berichte ich in meinem Buch Shapeshifting into Higher Consciousness (2011 bei Moon Books erschienen).
Wer schon einmal eine Vision Quest unternommen hat, weiß, wie kraftvoll die Anrufung ist, die man dabei an den Geist und die Natur richtet – und dass diese über Einsichten, Visionen und mitunter auch magische Manifestationen darauf reagieren. Nach der Suche besteht die Herausforderung dann darin, die derart erhaltenen Geschenke zu würdigen, was oft heißt, dass sich das Leben ändern muss.
Wie in Shapeshifting into Higher Consciousness beschrieben, trat während des Soloparts dieser Vision Quest, als ich drei Tage allein in einem Canyon kampierte, ein wundersames Phänomen auf. Ich weiß noch genau, dass ich immer wieder die Worte »Das Leben wird nie mehr so sein wie zuvor« von mir gab. Aber zu der Zeit hatte ich noch keine Ahnung, als wie wahr sie sich erweisen sollten.
Einige Wochen nach meiner Visionssuche bin ich schlimm gestürzt und Ende 2010 konnte ich auf dem rechten Auge nichts mehr sehen. Am 5. Januar 2011 wurde mir mitgeteilt, dass der Sehnerv aufgrund eines Hämangioms, einer Art Blutschwamm, schwer geschädigt sei.
Praktisch über Nacht halb erblindet, sah ich alles anders. Nichts war mir mehr vertraut.
Mit einem Mal bekam ich sehr lebhafte Träume, in denen immer Türkis eine Rolle spielte, sei es als Farbe von Alltagsdingen wie Jacken, Pullis und Autos, sei es als blaugrünes Wasser im Pool, türkisfarbene Decken oder Schals und so weiter. In meinen Träumen sah ich diese Dinge in unterschiedlichen Türkistönen – manche waren sehr satt und dunkel, andere heller, beinahe aquamarin.
Jeder dieser Träume endete damit, dass ich den jeweiligen blaugrünen Gegenstand fixierte, bis er sich meinem Bewusstsein entzog und nur noch das Türkis blieb. Anschließend konzentrierte ich mich scheinbar endlos auf die Farbe. Und mehr weiß ich dann auch nicht mehr.
Ich versuchte herauszubekommen, was diese Träume bedeuten mochten. Als Kind hatte ich Himmelblau und Türkis immer am liebsten gehabt, aber so oft von einer Farbe zu träumen, war neu für mich, und ich fand es verwirrend. Irgendwie fühlte ich mich davon verfolgt. Etwas schien meine Aufmerksamkeit zu verlangen.
In dieser Zeit des Suchens bat ich Mick Dodge, einen Freund von mir, mich an meinem Wohnort auf der Insel Whidbey im Bundesstaat Washington abzuholen und in den feuchten, wilden Hoh-Regenwald auf der Olympic-Halbinsel mitzunehmen, wo ich mich ein paar Tage lang in Klausur begeben wollte.
Mick ist ein außergewöhnlicher Mann, der mehr über die Natur weiß als selbst die meisten Angehörigen der indigenen schamanischen Kulturen, bei denen ich jahrelang gelernt habe. Er wurde im Hoh von Hebammen in die Welt geholt und lebt einen großen Teil des Jahres in der Wildnis.
Der Hoh, die Heimat des gleichnamigen indigenen Volksstammes, ist der größte gemäßigte Regenwald der Welt und befindet sich in der nordwestlichsten Ecke der Vereinigten Staaten. Übersetzt bedeutet das Wort Hoh »Wildwasser« beziehungsweise »schnelles Wasser«.
Wenige Jahre zuvor, als ich noch im Nordosten lebte, hatte ich weder von der Olympic-Halbinsel noch vom Hoh River oder dem Regenwald je gehört. Wie die meisten wusste ich nicht einmal, dass es in den Vereinigten Staaten überhaupt einen Regenwald gab.
Und als ich jetzt am unberührten Ufer des von Gletschern gespeisten Hoh River stand, hatte ich das Gefühl, direkt in meine Träume abzutauchen. Denn in seinen Strudeln und Wirbeln nahm das Wasser vor meinen Augen die schönsten Farbtöne an – genau die Türkisnuancen meiner nächtlichen Visionen.
Auf den Tag genau ein Jahr nachdem ich das mit meinem Sehnerv erfahren hatte, am 5. Januar 2012, ließ ich das Leben, wie ich es bisher kannte, hinter mir, um mit Mick Dodge als Begleiter in den Hoh-Regenwald zu ziehen. Weder hatte ich geplant, mit einem wilden Mann in den Wald zu fliehen, noch als Eremitin zu leben. Ein solches Verhalten würde die Probleme der Welt genauso wenig lösen, wie es der zunehmenden Gewalt auf unseren Straßen ein Ende setzen konnte. Aber jede und jeder von uns hat eine ganz eigene Lebensaufgabe, zu der sie oder er berufen ist. Und Mick Doge ermöglichte es mir, in der Abgeschiedenheit des Hoh zu leben, den Waldnamen Cedar (»Zeder«) anzunehmen, intensiv mit der Erde zu kommunizieren und darüber zu schreiben.
In einer der ersten Nächte, die ich in meiner Hütte auf einem nicht öffentlichen Landstreifen am Rand des Waldes verbrachte, hatte ich einen Traum, in dem Sandra Ingerman und ich glücklich an einem gemeinsamen Projekt arbeiteten. Und weil dieser Traum so angenehm war und derart real gewirkt hatte, beschloss ich nach dem Aufwachen am nächsten Morgen, Sandra zu fragen, ob sie nicht Lust hätte, ein Buch mit mir zu schreiben.
Die zwei Jahre, die ich im Hoh wohnte, wurden ganz von Der Weisheit der Natur lauschen beansprucht. Das Land schien mich genau zu diesem Zweck gerufen zu haben. Mein Anteil bestand lediglich darin, mich auf die Naturwesen des Regenwaldes einzulassen – was ein ganz wunderbares Geschenk darstellte. Doch abgesehen von meiner Kommunikation mit der Erde gelang es mir auch, Mick Dodge bei seiner Fernsehserie The Legend of Mick Dodge zu unterstützen beziehungsweise den Kontakt, den er mit dem Sender National Geographic hatte, zu intensivieren.
Kein Zweifel also, der Hoh hat seine ganz eigenen Absichten verfolgt. Ich bin fest davon überzeugt, dass seine Gewässer, Lande, Naturwesen genau die Ereignisse und Menschen angezogen haben, die er brauchte, um gesehen, wahrgenommen zu werden – und sei es nur, damit wir uns seiner erinnern, ihn lieben und beschützen. Und mit ihm die gesamte Natur.
Dass die Erde über ein Bewusstsein verfügt, war mir schon immer klar, und meine Zeit im Hoh hat dieses Wissen nur bestätigt. Wer sich dem Ruf der Natur nicht verschließt, kann Teil einer staunenswerten – aufregenden, tröstenden, aber auch demütig machenden – Entwicklung werden. Denn die Magie der Wildnis und die Rhythmen der Natur führen uns zur Intelligenz und zum Mysterium des Lebens zurück. Dabei werden wir wie die alten indigenen und matriarchalischen Kulturen, die das Mysterium und die zutiefst weibliche Natur der Erde verstanden, daran erinnert, sowohl die Frauen als auch unseren Planeten in Ehren zu halten. Bei allem, was wir heutzutage –und zwar durchaus mit der kreativen Kraft des Weiblichen – tun mögen, um uns neu mit der Natur zu verbinden, fühlen wir uns doch oft noch von der zutiefst weiblichen Kraft der Erde isoliert, die uns ebenfalls innewohnt. In diesem Buch stellen wir Möglichkeiten vor, diese Trennung aufzuheben und uns unserer instinktiven Natur zu öffnen.
Das weibliche Prinzip ist unter allerlei verschiedenen Bezeichnungen bekannt. Es wird mit Träumen und dem Unbewussten assoziiert, mit der Dunkelheit, der Erde sowie ihren Pflanzen und Tieren. Das heilige Weibliche ist die Verkörperung von Geist und Mysterium. Es verbindet uns mit Kraft, Fruchtbarkeit und Sinnlichkeit; sowohl mit dem Wasser als auch mit der Einsamkeit; mit Entwicklung, Tod und dessen Partnerin: der Wiedergeburt. Als erneuernde Kraft, als Nährerin des Lebens und der inneren Welten des Fühlens, Spürens und Ahnens stellt das zutiefst Weibliche eine geradezu alchemistische Muse dar.
Sandra und ich schreiben auf eine sehr persönliche Weise über die Naturwesen, von denen wir uns angesprochen fühlen. Wir erzählen von der Landschaft, dem Himmel und den Gewässern, die unser jeweiliges Lebensumfeld bilden, erkunden durch eine weibliche Linse aber auch Aussehen, Gewohnheiten und Aufenthaltsgebiete der daselbst und anderswo heimischen Geschöpfe. Damit verbinden wir den Wunsch, Sie, unsere Leserinnen und Leser, für kraftvolle Lektionen über ein Leben in Gnade und Anmut zu öffnen.
In den folgenden Kapiteln begegnen sich Göttinnen aus so unterschiedlichen Kulturen wie der des Amazonas und des alten Ägypten. Beim Lesen des Buches werden Sie sich, wie wir hoffen, für deren Geistmedizin und ihre subtilen Botschaften genauso öffnen wie für die der Pflanzen, Tiere und Elemente. Es bietet Ihnen Praktiken und (schamanische) Reisen, die Sie zu Hause oder wo auch sonst im Alltag einsetzen können, um Zugang zu den weiblichen Eigenschaften dieser Göttinnen und der Natur zu finden – um diese Kräfte in sich selbst zu verstärken.
Sandra und ich laden Sie herzlich ein, all dies in Ihrer eigenen Umwelt selbst zu erleben, sei es in einem Hinterhof oder Garten, sei es im Stadtpark oder in der freien Natur. Denn die kreative Kraft des Weiblichen wird erst durch persönliche Erfahrungen erlebbar. Dadurch, dass wir uns auf die Natur einlassen, stellt sich das tiefe Empfinden der Zugehörigkeit ein sowie der Respekt vor allem Leben, der die Visitenkarte der göttlichen Frau darstellt. Obwohl eine solche Intimität mit der Erde in der modernen Gesellschaft, die sich so sehr auf das Individuelle kapriziert, leicht übersehen wird, hilft sie, einen unverbrauchten Blick auf uns selbst zu werfen und uns mitfühlender und verständnisvoller mit unserer Umwelt zu verbinden.
Letzten Endes lassen sich die »weiblichen« nur schwer von den »männlichen« Aspekten des...