1. Auf der Suche nach der idealen Familie
John und Michelle ahnten schon in den ersten Stunden ihrer Bekanntschaft, daß sich zwischen ihnen eine Beziehung entwickeln würde. Michelle war neu in der Stadt. Sie war umgezogen, um etwas mehr Abstand zwischen sich und ihren geschiedenen Mann zu legen, und trat nun eine Stelle bei derselben mittelständischen Versicherungsgesellschaft an, für die John arbeitete. Ihr Sachverstand, ihre Klugheit und berufliche Qualifikation wurden uns bereits im ersten Gespräch deutlich, aber irgend etwas an ihr paßte nicht recht ins Bild. Vielleicht war es ihre äußere Erscheinung. Michelle ist schlank und gut gebaut, aber sie wäre um vieles attraktiver gewesen, wenn sie ihrem Äußeren mehr Beachtung geschenkt hätte. Es schien fast, als wollte sie unbemerkt bleiben. Überdies fiel es ihr für jemanden, der im Gespräch eine solche Kompetenz zeigt, schwer, anderen in die Augen zu sehen. Verbarg sich hinter ihrem vordergründigen Selbstvertrauen eine Unsicherheit, gegen die sie ankämpfen mußte? Oder hatte ihre erste Ehe bewirkt, daß sie sich ängstlich dagegen wehrte, mit anderen Männern Verbindung aufzunehmen?
John ist in mancher Hinsicht Michelles Gegenstück. Bei der ersten Begegnung könnte man aus seiner leisen Stimme und seiner stillen Art schließen, daß er schüchtern sei. Doch John kommt mit allen Menschen leicht ins Gespräch. Seine natürliche Offenheit und sein Interesse an den Menschen ermutigt sein Gegenüber oftmals, ihm Geheimnisse anzuvertrauen, die jahrelang sicher im verborgenen ruhten. In einer Hinsicht gleicht er jedoch Michelle, und das ist die offensichtliche Unbekümmertheit um seine äußere Erscheinung. Er bemüht sich schon seit Jahren nicht mehr, seine unvorteilhafte Glatze durch eine kunstvolle Frisur zu verdecken. Zwar ist er stets ordentlich und angemessen gekleidet, doch die Tatsache, daß sich die Mode alle paar Jahre ändert, ist für John noch lange kein Grund, sich neue Kleidung zu kaufen. Er wirkt eher wie ein leicht exzentrischer Professor als wie der erfolgreiche Versicherungsagent, der er ist.
John war noch mit seiner ersten Frau verheiratet, als Michelle in seine Firma kam – eine zwölfjährige Ehe, die er von den Flitterwochen an bedauert hatte. Gleich in der ersten Woche lud er Michelle zum Essen ein – ob der Grund dafür in seiner unbefriedigenden Ehe zu suchen war oder in seiner Empfänglichkeit für die zarten Anzeichen, daß sie sich in ihrer neuen Situation nicht ganz so wohl fühlte, wie sie die anderen gern glauben gemacht hätte, wußte er nicht genau.
Bevor ein Jahr vergangen war, trennte sich John von seiner Frau. Nach einem weiteren Jahr zog Michelle zu ihm, und sechs Monate später heirateten sie. Inzwischen ist fast ein Jahrzehnt ins Land gegangen, und weder John noch Michelle haben je auch nur einen Gedanken daran verschwendet, daß ihre Ehe nicht von Dauer sein könnte. Sie haben das Beste aus ihrem zweiten Versuch gemacht, und sie sind dankbar für diese Chance.
Nicht alle Geschichten haben einen so glücklichen Ausgang. Nehmen wir zum Beispiel Jane. Sie hatte sich nach ihrer Scheidung gut in ihrem Leben als alleinerziehende Mutter eingerichtet. In ihrem Beruf als Immobilienmaklerin in Washington und Umgebung war sie so erfolgreich, daß sie es sich leisten konnte, ein geräumiges Haus am Stadtrand zu kaufen und weitgehend so zu leben, wie es ihr gefiel. Sie ist eine liebenswürdige, extravertierte Frau und wirkt auf eine unaufdringliche, zurückhaltende Art anziehend. Darum fiel es ihr leicht, Männer kennenzulernen, so leicht, daß sie ihren gesellschaftlichen Aktivitäten Grenzen setzen mußte, um ihrem kleinen Sohn die Aufmerksamkeit zu geben, die er brauchte.
An einem Morgen, als sie ihren Sohn in den Kindergarten brachte, veränderte sich ihr Leben vollkommen. An diesem schicksalhaften Tag fiel sie Robert auf, als er seinen Sohn, der nur wenige Monate älter ist als ihr eigener, ablieferte. Robert war ein junger, aufstrebender Staatsanwalt, und er hatte sich gerade von seiner ersten Frau getrennt. Er war auf der Suche nach weiblicher Bekanntschaft, und Jane entsprach genau seiner Vorstellung. Er bat die Leiterin des Kindergartens, ihn mit Jane bekannt zu machen, und wartete um sechs Uhr abends auf sie – der Zeit, zu der Jane ihren Sohn gewöhnlich abholte. Die Leiterin kam ohne Umschweife zur Sache. Sie eröffnete Jane, daß Robert sie attraktiv fand und kennenlernen wollte. Jane fühlte sich geschmeichelt. Jahre später beschreibt sie die Begegnung so: »Ich hatte durch meinen Beruf sehr viele Männer kennengelernt, aber es war das erste Mal, daß ein Fremder einen so ungewöhnlichen Weg ging, um mich kennenzulernen. Und Robert sah überwältigend gut aus und war der charmanteste Mann, dem ich je begegnet war. Irgend etwas funkte gleich an diesem ersten Abend zwischen uns.«
Trotz ihrer Begeisterung für ihn verlor Jane nicht den Kopf und ließ sich Zeit. Erst nach einigen Telefongesprächen war sie bereit, sich mit ihm zum Essen zu verabreden. Wenige Wochen nach diesem ersten gemeinsamen Abend trafen sie sich täglich und verbrachten die meisten Wochenenden zusammen. Sie war bis über beide Ohren verliebt und hatte allen Grund zu der Annahme, daß er ihre Gefühle teilte.
Nach vier Jahren, in der sie sich ständig trennten und wieder versöhnten, heirateten sie. Die einzige Konstante in diesen Jahren war ihre gegenseitige leidenschaftliche Anziehungskraft.
Dreizehn Jahre sind seit ihrer Hochzeit vergangen, und Jane und Robert haben sich zum dritten und, wie Jane versichert, letzten Mal getrennt. Sie haben drei gemeinsame Kinder, die Robert etwa alle drei bis vier Monate sieht. Jane versucht schlecht und recht, sich mit Roberts sporadischen Unterhaltszahlungen über Wasser zu halten.
Noch vor einer Generation waren Geschichten wie die von Michelle und John, Jane und Robert eine Seltenheit. Stieffamilien bildeten die Ausnahme. Doch die Familienstrukturen haben sich geändert. Bis weit in unser Jahrhundert stellte sich die Frage, was das Wesen der Familie ausmacht, nicht. Ein Mann und eine Frau heirateten, bekamen Kinder und lebten, ob glücklich oder nicht, bis ans Ende ihrer Tage zusammen.
Doch ab Mitte der sechziger Jahre begann sich das Bild zu verändern. Im vorausgegangenen Jahrhundert war die Scheidungsrate verhältnismäßig stabil geblieben. Sie wies eine langsam und beständig ansteigende Tendenz auf, doch galt 1960 eine Scheidung immer noch als ungewöhnlich. Die meisten von uns, die in den fünfziger und frühen sechziger Jahren aufgewachsen sind, können sich an keine/n einzige/n Freund/in erinnern, der/die nicht in einer traditionellen Familie gelebt hätte. Mütter und Väter ließen sich nicht scheiden, sofern nicht wirklich außergewöhnliche Umstände vorlagen. Die sechziger Jahre kennzeichneten den Beginn eines revolutionären Wandels im familiären Leben. Von 1950 bis 1960 war ein Anstieg der Scheidungen um zwei Prozent zu verzeichnen. In dem Jahrzehnt bis 1970 lag die Steigerungsrate bei achtzig Prozent. Zehn weitere Jahre vergingen mit einer Zunahme von 68 Prozent. In den letzten fünfundzwanzig Jahren ist die Scheidungsrate stärker angestiegen als in den davorliegenden zweihundert. Zu Beginn der neunziger Jahre stehen wir vor der Tatsache, daß die Ehe, eine Institution, die wir für unauflösbar gehalten haben, eine ungefähr fünfzigprozentige Chance hat, zu überdauern.
Trotzdem versuchen etwa achtzig Prozent der geschiedenen Männer und Frauen es ein zweites Mal. Die Statistiken besagen, daß bei 46 Prozent aller Eheschließungen einer oder beide Partner schon einmal verheiratet waren, in 23 Prozent der Fälle ist es für beide eine Wiederverheiratung. Derzeit entstehen bei uns täglich eintausenddreihundert Instantfamilien, wenn ein Mann und eine Frau, von denen mindestens einer der Partner Kinder aus einer früheren Ehe mitbringt, sich in der Überzeugung das Jawort geben, daß sie aus den schmerzlichen Erfahrungen der Vergangenheit genug gelernt haben, um die neue Familie mit besserem Erfolg zusammenzuhalten.
Diese Instantfamilien sind etwas so Alltägliches geworden, daß Soziologen ihrem Wortschatz einen neuen Terminus hinzugefügt haben, nämlich den der binuklearen, also zweikernigen Familie. Gegenwärtige Schätzungen gehen davon aus, daß ein Drittel aller amerikanischen Kinder, bevor sie die Volljährigkeit erreichen, mit der Erfahrung einer binuklearen Familie konfrontiert werden und zwischen den Wohnorten von Mutter und Vater pendeln müssen.
Binukleare oder Stieffamilien, wie sie im allgemeinen heißen, werden stets mit den hochgestecktesten Hoffnungen befrachtet. Gleichgültig, wie viele schmerzliche oder enttäuschende Beziehungen vorausgegangen sind, die neue Ehe verspricht die Möglichkeit, ganz neu anzufangen und Fehler aus der Vergangenheit wiedergutzumachen. Paare wie Michelle und John oder Jane und Robert sind überzeugt, daß sie mit ihrer neuen Familie zufrieden leben können, solange sie nur genügend Liebe, Geduld und Verständnis aufbringen.
Aber gute Absichten und Entschlossenheit sind nicht immer genug. Auch wenn uns Fernsehserien wie ›Ich heirate eine Familie‹ Patentrezepte für die Problemlösungen in einer Stieffamilie vorgaukeln, ist die Realität viel zu komplex, als daß eine sorglose, glückliche Zukunft damit garantiert wäre. Vielmehr gaben sechzig Prozent der von uns befragten Männer und Frauen an, daß ihre zweite Ehe wesentlich schwieriger war, als sie erwartet hatten. Und selbst unter denjenigen, die ihre zweite Ehe nicht in Frage stellten, gaben immerhin 46 Prozent der Männer und 35 Prozent der Frauen an,...