I Einladung zum Leserfinden
Stillehre – klingt das nicht nach vorgestern? Heißt das nicht so viel wie: Da behauptet einer, gutes Deutsch sei immer noch ungeheuer wichtig – gutes Deutsch lasse sich auch definieren, sogar lehren –, und ausgerechnet dieser Autor wisse, wie?
Ja, wichtig ist sie wie eh und je, die klare, herzhafte Sprache – für jeden, der etwas zu sagen hat; der damit auch gelesen werden möchte; der mit Worten etwas bewirken will. Werbetexter wissen das, viele Politiker auch. Wer es nicht weiß oder nicht danach handelt, der verschleudert die Vorteile, die er davon haben könnte.
Und auch dies: Gutes Deutsch lässt sich definieren. Es ist das anschauliche, saftige, elegante Deutsch – und für alle, die nicht auf einen Nobelpreis für Lyrik spekulieren, hat es vor allem eines zu sein: verständlich ohne Rückstand, lesbar ohne Mühe. Die Verständlichkeit ist längst in Gesetze gefasst, eine seriöse Wissenschaft hat sie aufgestellt; über die Eleganz sind sich alle Stillehrer ziemlich einig seit dem römischen Rhetor Quintilian, und die Großen der Literatur bieten ihre Muster an.
Und dies alles ließe sich lehren? Wieder ja! Man müsste nur einen finden, der sich in die Verständlichkeitsforschung vertieft und alle Stillehren ausgewertet hat, die auf Deutsch und Englisch je erschienen sind. Der seit Jahrzehnten Höhepunkte deutscher Sprache sammelt, beginnend mit Martin Luther und mit Martin Walser nicht endend. Der seit einem Vierteljahrhundert angehende Journalisten in klarem Deutsch unterrichtet (so dass er all ihre Schwächen und Probleme kennt) und der sein Programm überdies an der Öffentlichkeitsarbeit von mehr als dreihundert Wirtschaftsunternehmen getestet hat. Er wäre also überhaupt nicht originell und würde es nicht einmal sein wollen. Er wäre lediglich auf der Höhe von Praxis, Literatur und Wissenschaft und hätte überdies gelernt, die manchmal verwirrende Fülle der Aspekte auf eine überschaubare Zahl alltagstauglicher Rezepte einzudampfen.
Der Lehrbarkeit kommt zugute, dass zwei Drittel aller Sprachprobleme dieselben geblieben sind seit Erfindung der Schrift; ihre Lösung unterliegt keiner Mode. Ein praller Satz ist ein praller Satz, zu allen Zeiten, in allen Sprachen, auf jedem Niveau – ob bei Tacitus oder in der Bibel, in der Tagesschau oder im Geschäftsbericht. Nur haben überraschend viele Deutschlehrer und Berufsschreiber das bis heute nicht begriffen.
Die Wörter, ja, die wandeln sich: Die «Saumseligkeit» ist selten geworden, Goethes «Fraubaserei» versteht kaum noch einer, und Goethe wiederum konnte nicht nur nichts von «software» wissen – ebenso hätte er Mühe gehabt, hinter dem heutigen Modewort «Beziehung» eine Art Liebe zu vermuten.
Doch auch den Wörtern ist etwas gemeinsam geblieben, zweierlei sogar. Das eine: Wenn sie einen Nerv treffen, bewegen sie die Gemüter wie eh und je. Mit Wörtern kämpfen Parteien, Ideologien, Produzenten um ihren Platz in unseren Hirnen. Mit «sozialer Gerechtigkeit» (oder dem Vorwurf, an ihr mangle es) wird große Politik gemacht, mit der «Achse des Bösen» ebenso, und selbst Gerhard Schröders «Agenda 2010» hat oder hatte ihren Zauber – obwohl uns doch keiner sagt, ob sie in eine ziemlich ferne Zukunft zielt oder ob wir die Zahl 20 - 10 so ähnlich lesen sollen wie 08 - 15 oder 47 - 11.
Gemeinsam seit Jahrtausenden ist den Wörtern ferner: Mit «Schwulst und Gepränge» erzielt man keine Wirkung – das sagt schon Quintilian. Schlanke, muskulöse Sätze zu formen aus Wörtern mit Saft: Das war von jeher eine Kunst, sie ist es geblieben, und sie zu beherrschen zahlt sich noch immer aus.
Inwieweit wir uns dabei der vielen Importe aus dem Englischen bedienen sollten, lohnt ein kurzes Nachdenken. Hier wird nicht zur Treibjagd auf Anglizismen geblasen: Viele davon haben unsere Sprache bereichert, niemand will an so praktischen Wörtern wie Job, Team, Flirt oder Training herummäkeln, und es wäre töricht, die überragende Rolle zu ignorieren, die das Englische in der internationalen Verständigung spielt.
Doch wer wollte leugnen, dass manche Leute – Marketing-Strategen, Werbetexter, Computer-Freaks zumal – sich an englischen Silben geradezu berauschen, weit über jeden Nutzen und Gewinn hinaus? Zu stutzen hie und da, ob nicht das deutsche Wort manchmal das stärkere ist – das würde keinen schänden. Wie meistens ist die Dosierung das Problem: Ganz ohne Kochsalz könnten wir nicht leben, aber wer zwei Esslöffel davon herunterschluckt, dem zerfrisst es die Magenwände.
Mehr als die englische Invasion hat eine andere Entwicklung die Sprache der Gegenwart geprägt: Das Ansehen gedruckter Texte, welcher Art auch immer, ist drastisch gesunken. Die Hälfte der Jungen in Deutschland und ein Viertel der Mädchen lesen überhaupt nichts mehr (Stern 2004). Ein Drittel jener Deutschen, die noch lesen, liest grundsätzlich keine Texte mit langen Sätzen (Geo 2003). Die meisten Studenten sind es nicht mehr gewöhnt, «sich selbständig in ein Thema einzuarbeiten; sie benötigen Animation» (Spiegel 2003). Und nun gar heilige Schriften studieren, sich Sprachkunstwerken genießend hingeben, nach dem treffenden Wort fahnden, Sätze meißeln – das tut kaum noch einer. Allem Gedruckten und Geschriebenen bläst der Wind ins Gesicht. Lesen, mehr als ein paar flotte Zeilen lesen ist altmodisch geworden im Tanz der Pixel und der Bits.
Wer also im 21. Jahrhundert noch gelesen werden, mit Wörtern Informationen transportieren, ja etwas bewirken will, der muss mehr investieren als seine Großeltern. Um Leser muss er werben, überlisten muss er sie. Möglichst interessante Stoffe (von denen kann dieses Buch nicht handeln) muss er appetitlich servieren – das ist hier das Thema, und dazu gehört vor allem zweierlei: der Wille, sich mit den einschlägigen Gesetzen, Regeln und Erfahrungen für attraktives Deutsch auseinander zu setzen, und die Bereitschaft, an seinen Wörtern und Sätzen zu feilen, ja notfalls sich mit ihnen abzuquälen. Wer seinen Text sogleich gut findet, bloß weil schließlich er selbst ihn geschrieben hat, der ist mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit ein Genie und mit sehr hoher ein weltfremder Zeitgenosse – falls er auf Leser hofft.
Steht der Text einmal da, so ist die Arbeit eben nicht beendet, nun fängt sie an, wann immer die Zeit reicht und wo immer der Ehrgeiz regiert: Ich will gelesen werden – ganz, gern und mit der angepeilten Wirkung. «Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor», sagt Faust, und er irrt sich gewaltig. Die populäre Vorstellung, Klarheit sei in die Wörter gleichsam eingewebt, ist ein Aberglaube.
Vielleicht enthält die erste Niederschrift ja taube Nüsse, Schwabbelfett, Elemente der Geschwätzigkeit. Vielleicht verstoßen einige Passagen gegen die Gesetze der Verständlichkeit, wie hier in den Rezepten 1 bis 23 beschrieben. Vielleicht holpern manche Sätze so, dass das Trommelfell erschräke, wenn es sie hören müsste (und das laute Lesen sollte man zur Kontrolle immer praktizieren, wenn die Umstände es zulassen). Vielleicht brüstet sich der Text mit einem Wissenschafts-Chinesisch, das eher imponieren als informieren soll («Die Konversationsimplikaturen als konstituierende Elemente der Perlokution»); vielleicht bläst er schlichte Wörter zu jenen bombastischen Gebilden auf, wie sie durch Marketing- und Kommunikations-Abteilungen geistern: «Dienstleistungsbasierte Aktivitäten» zum Beispiel, wo etwas anderes als «Dienstleistungen» schwerlich gemeint sein kann.
Und all dieser gute bis allzu gute Rat sollte noch einen Nutzen haben im Zeitalter der E-Mail und des Internets? Ja, und nicht nur das: Die fröhliche Schludrigkeit, die dort regiert, bietet dem gewogenen Wort, dem geschliffenen Satz die Chance, das elektronische Umfeld stärker zu überstrahlen als jemals den herkömmlichen Text.
Also, Schreiber: Wollt ihr gelesen werden? Dann erkennt das Problem! Studiert, was man dafür beherzigen muss! Plagt euch! Geht mit der Sprache so um, dass eure Wunschleser euch mühelos verstehen, euch bis zum Ende folgen und euch mögen! Nur wenn die Sätze rote Backen haben, werden die, auf die sie zielen, sie mit roten Ohren lesen.
Was plakatierte 2003 das Schweizer Institut Inlingua? «Die strenge Sprachschule. Hauptsache, es macht nicht nur Spaß.»
Aber auch.
Ermutigungen
Große deutsche Philosophen werden vornehm die Achseln zucken über den dürftigen Zuschnitt alles dessen, was ich hier hervorbringe. Aber sie mögen gefälligst bedenken, dass das wenige, was ich sage, ganz klar und deutlich ausgedrückt ist, während ihre eigenen Werke zwar sehr gründlich, unermessbar gründlich, stupend tiefsinnig, aber ebenso unverständlich sind. Was helfen dem Volk die verschlossenen Kornkammern, wozu es keinen Schlüssel hat? Das Volk hungert nach Wissen und dankt mir für das Stückchen Geistesbrot, das ich ehrlich mit ihm teile.
Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland
Man hat den Deutschen vorgeworfen, dass sie bloß für die Gelehrten schrieben; ob nun dieses gleich ein höchst...