II. Im Ersten Weltkrieg
1. Dschihad für Kaiser Wilhelm II.
Auf dem Höhepunkt der Julikrise 1914 erteilte Kaiser Wilhelm II. für den Fall eines Eingreifens Großbritanniens in den Konflikt die Anweisung,
„daß unsere Consuln in der Türkei und Indien, Agenten etc. die ganze mohammedanische Welt gegen dieses verhaßte, verlogene, gewissenlose Krämervolk zum wilden Aufstand entflammen müssen; denn wenn wir verbluten sollen, dann soll England wenigstens Indien verlieren.“23
Am 2. August schlossen Deutschland und das Osmanische Reich einen geheimen Vertrag, in dem sich Deutschland zu militärischer Unterstützung verpflichtete und das Osmanische Reich sich bereit erklärte, deutsche Offiziere, die sich bereits seit 1913 dort befanden, in die Führung der türkischen Streitkräfte einzubinden. Damit erhielt Deutschland entscheidenden Einfluss auf die Operationen der türkischen Streitkräfte, während die Türkei auf die Rückgewinnung verlorener Gebiete hoffte. Als Großbritannien am 4. August dem Deutschen Reich den Krieg erklärte, gab der Chef des Generalstabes, Helmuth von Moltke, ganz im Sinne des Kaisers die Order aus:
„Von höchster Wichtigkeit ist die Insurrektion von Indien und Ägypten, auch im Kaukasus. Durch den Vertrag mit der Türkei wird das Auswärtige Amt in der Lage sein, diesen Gedanken zu verwirklichen und den Fanatismus des Islam zu erregen.“24
Gemeinsam mit den Türken und mit einem Aufruf zum Dschihad, dem Heiligen Krieg, sollte ein Aufstand in der von Russen, Briten und Franzosen beherrschten islamischen Welt von Marokko bis Indien entfacht werden. Die Türken sollten umgehend Russland angreifen.
Zu den ersten Aktionen gehörte Anfang September der Versuch, den Suezkanal durch Versenken eines Schiffes unpassierbar zu machen und mit Sabotageakten eine explosive Stimmung in Ägypten zu schaffen, die schließlich in einen Aufstand gegen die Briten münden sollte. Der Versuch scheiterte. Der Admiralstab der Marine meldete am 10. September an das Auswärtige Amt:
„Gewaltsames Festnehmen deutscher Dampfer und starke Überwachung anderer Schiffe haben Sperrung misslingen lassen. Weitere Versuche in Ägypten erfolglos.“
Immerhin rief am 12. November der Sultan, zugleich das geistliche Oberhaupt des Islam, zum Heiligen Krieg gegen die Alliierten auf, was allerdings unter den Mohammedanern nicht das erwartete Echo fand. Dagegen gelang es der Entente, große Teile der islamischen Bevölkerung für ihre Kriegsführung zu gewinnen. Für das Deutsche Reich und seinen Verbündeten, die k.u.k Monarchie, war jedoch zunächst einmal eine direkte Landverbindung zur Türkei vorrangig, um das türkische Heer aufzurüsten und mit Nachschub zu verstärken (was beim ersten Versuch im Krieg gegen Serbien im Dezember 1914 gründlich misslungen war). Der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg verlangte dann nach dem ersten Scheitern am Suezkanal eine weitere militärische Aktion gegen die Engländer in Ägypten. Im Februar 1915 sollte dies mit einem 16.000 Mann starken türkischen Expeditionskorps durchgeführt werden. Geplant war, nach dem Marsch durch die Wüste durch einen Handstreich den Suezkanal zu überqueren, um diese Verbindung zu sperren. Die Zusammensetzung dieser Truppe war allerdings mehr als zweifelhaft, bestand aus „eingeborenen Freiwilligen und Irregulären“, die nichts leisteten und „unbotmäßig, feige und anspruchsvoll“ waren, wie es im deutschen Bericht heißt. Und weiter: die türkischen Offiziere hätten den ganzen Tag geschlafen, ihre Energie habe nur dazu ausgereicht, den Deutschen „passive Resistenz zu leisten“.25 Den Engländern gelang es mit ihren indischen Einheiten auf das östliche Ufer des Kanals überzusetzen und die Türken in der Flanke anzugreifen. Die konnten zunächst den Angriff abwehren, verloren aber ihren deutschen Kommandeur. Am Abend des 3. Februar wurde das Unternehmen abgebrochen. Erst im August 1917 wurde ein erneuter Versuch unternommen, der ebenfalls scheiterte. Damit war die Offensivkraft der Türken an der Sinai-Front erschöpft. An anderen Fronten gab es dagegen schwere Kämpfe mit wechselhaftem Erfolg.
Die Blaupause für die deutschen Revolutionierungsbemühungen im Nahen Osten lieferte ein Mann namens Max von Oppenheim. Der legte Ende Oktober 1914 eine 136 Seiten umfassende „Denkschrift zur Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde“ vor. Zu Beginn heißt es da:
„In dem uns aufgedrängten Kampf gegen England wird der Islam eine unserer wichtigsten Waffen werden. Die ganze Art der Kriegsführung unserer Feinde gibt uns ein Recht, die Notwendigkeit unserer Selbsterhaltung die Pflicht, diese so wichtige Waffe für das Endziel des Kampfes nicht unbenutzt zu lassen.“
Man solle Banden bilden, um überall „auf dem Lande die Engländer totzuschlagen“. Der letzte Satz der Denkschrift lautet:
„Das Eingreifen des Islam in den gegenwärtigen Krieg ist besonders für England ein furchtbarer Schlag. Tun wir alles, arbeiten wir vereint mit allen Mitteln, damit derselbe ein tödlicher wird.“
Wer war dieser Max von Oppenheim (1860–1946)? Er entstammte der einflussreichen Kölner Bankiersdynastie. Als er 16 war, schenkte man ihm eine Ausgabe von „Märchen aus 1001 Nacht“, die seinen weiteren Lebensweg bestimmen sollte. Der Orient ließ ihn nicht mehr los. 1892 zog er nach Kairo, mietete im arabischen Teil ein Haus, lernte Arabisch und pflegte, anders als die übrigen Europäer in Kairo, engen Kontakt mit Einheimischen. Von Kairo aus unternahm er Expeditionen an den Euphrat, nach Syrien und Mazedonien. Sein erster Versuch, in den Auswärtigen Dienst aufgenommen zu werden, scheiterte: sein Name klinge „zu semitisch“. Der zweite Versuch gelang: 1896 wurde er dem Generalkonsulat in Kairo zugewiesen. 1910 quittierte er den Dienst. Bis dahin hatte er mehr als 500 Berichte an das Auswärtige Amt geschrieben und seinen Ruf als Orientexperte gefestigt. In den folgenden zwei Jahren leitete er die Ausgrabungen der 3000 Jahre alten aramäischen Tempelanlagen von Tell Halaf in Syrien, die er 1899 entdeckt hatte. Die Funde dort machten den Hobbyarchäologen weltberühmt. Bei Kriegsausbruch meldete er sich in Berlin zum Dienst zurück.
In der angelsächsischen Historiographie ist das Urteil über ihn und die deutsche Nahostpolitik eindeutig: Oppenheim ist „The Kaiser’s Spy“, die männliche Mata Hari des Orients, und die deutsche Nahoststrategie der perfide Versuch, das britische Empire zu vernichten und an seiner Stelle ein deutsches Weltreich zu errichten.26 Ähnlich sah man das auch in der deutschen Geschichtsschreibung, ausgehend von Fritz Fischers Einordnung der Denkschrift. Der sah darin einen weiteren Beweis für Deutschlands „Griff nach der Weltmacht“ – so der Titel seiner in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts kontrovers diskutierten Arbeit über die deutsche Kriegsschuld am Ersten Weltkrieg. Offensichtlich beeinflusst von dieser Interpretation fällte der Nahostkenner Wolfgang G. Schwanitz 2013 ein vernichtendes Urteil über Oppenheim. Für ihn ist er der „deutsche Vater des Heiligen Krieges“, der den „armenischen Genozid rechtfertigte“; die Denkschrift somit ein „diabolischer Jihad-plan“ mit „ tödlichen Dimensionen“, bis hin zum heutigen extremen Islamismus. Schwanitz: „Dieser deutsche Abu Jihad sah Terror, Boykott, Mob und politischen Mord vor.“27
Andere sehen das alles ganz anders, etwa Stefan Kreutzer in seiner 2012 erschienenen Arbeit. Für ihn ist Oppenheim „kein demagogischer Agitator“, „kein agitatorischer Spion des Kaisers“, sondern das genaue Gegenteil, lediglich ein „politisch interessierter, leidenschaftlicher Orientfan“. Seine Denkschrift verdeutliche demnach seine „liberale Seite, seine Aufgeschlossenheit anderen Kulturen gegenüber und seinen Wunsch, diesen auf dem Weg in die Unabhängigkeit beizustehen“. Ihn trieb demnach auch „kein Hass gegen England oder eine andere Ententenation“. Er habe damals für Deutschland die Gelegenheit erkannt, als Befreier der unterdrückten islamischen Nationen aufzutreten.28
Jeder möge sich sein eigenes Urteil bilden. Tatsache ist, dass Oppenheim im Laufe des Krieges eine wichtige Rolle spielte. Er richtete die Nachrichtenstelle für den Orient ein, ein Übersetzungs- und Propagandabüro mit Orientalen und Helfern im Nahen und Mittleren Orient. In Berlin gab es 15 vom Auswärtigen Amt bezahlte Mitarbeiter. Die Nachrichtenstelle gab vielsprachliche Flugschriften und ein wöchentliches Informationsblatt heraus. Es war die Propagandastelle des Auswärtigen Amts für den Heiligen Krieg.
Neben Max von Oppenheim waren Colmar Freiherr von der Goltz, Rudolf Nadolny, Wilhelm Waßmuß und Fritz Klein die wichtigsten...