Wie der Krebs in mein Leben kam
Wenn ich heute zurückblicke, habe ich manchmal das Gefühl, dass sich mein Brustkrebs auf subtile Art »angekündigt« hat: Durch Abschiede, schwierige Beziehungen und Trennungen, schließlich durch Begegnungen mit dem Tod um mich herum.
Eine erste unheilvolle Vorahnung hatte ich Anfang 2007: Gemeinsam mit meinem damaligen Freund Torsten erlebte ich einen schweren Auffahrunfall mit. Dabei beschlich mich zum ersten Mal das Gefühl, dass etwas auch »an meinem Stuhl sägte«. Meine Mutter war mit 41 Jahren von einem Auto überfahren worden, und nun war ich selbst – gerade 40 Jahre alt – auch in einen Unfall verwickelt. Zwar hatten alle ohne schwere Verletzungen überlebt, das unsichere Gefühl aber blieb mein Begleiter.
Im Frühjahr 2008, ein gutes Jahr vor der Diagnose, die mein Leben auf immer verändern sollte, hatte ich mich von Torsten getrennt. Hinter uns lag eine jahrelange Beziehung mit viel Auf und Ab und schließlich der Erkenntnis, dass wir es als Paar einfach nicht schaffen würden.
Ich lebte zu dieser Zeit allein mit meinen beiden Söhnen – Julian und Frederik waren gerade 13 und 14 Jahre alt geworden – im Kölner Agnesviertel. Die beiden Jungs hatten es von dort aus nicht weit zum Gymnasium und auch ich kam gut zur Arbeit an die Uniklinik, wo ich einen 30-Stunden-Job als Medizinisch-technische Assistentin hatte.
Trotz des turbulenten Beziehungsfinales waren Torsten und ich einander verbunden geblieben, als Freunde funktionierten wir: Er stand mir immer zur Seite, wenn ich mal Unterstützung brauchte.
So fand ich mich gerade wieder in meinen Alltag ein, als im August meine langjährige Kollegin Sigrid mit nur 46 Jahren an Brustkrebs starb. Zeitgleich bekam die Freundin meines Ex-Mannes dieselbe Diagnose. Aus der Distanz registrierte ich, dass sie operiert wurde, Chemotherapien und Bestrahlungen bekam. In meinem eigenen Leben spielte der Krebs noch keine Rolle. Eine Vorsorgeuntersuchung hatte ergeben, dass alles in Ordnung war.
Dann geschah etwas, was mich erschütterte und dem Thema Krankheit und Tod unverhofft nahebrachte. Es hing mit meinem Kaninchenmädchen Lisa zusammen, das ich als klitzekleine Häsin drei Jahre vorher in einem Zoogeschäft entdeckt hatte. Ihre Mutter war verstorben, bevor ihre Jungen entwöhnt waren. Ich nahm sie mit und musste zu Hause feststellen, dass dieses winzige Wesen kaum selbstständig fressen konnte. Also besorgte ich Katzenaufzuchtmilch und fütterte sie aus einer Liebesperlenflasche. Viele Stunden trug ich Lisa in einer Tasche nahe an meinem Körper mit mir herum: Ein ganz zartes Kaninchen, mit lockigem weißen Fell und den braunen Ohren, sie sah wie ein Kuscheltier aus. In der Wohnung lief sie wie ein Hündchen hinter mir her, schlief nachts mit in meinem Bett. Wie innig ich dieses kleine Wesen liebte!
Nun fraß sie auf einmal nichts mehr, konnte nicht kötteln und war apathisch. Ich fuhr mit Lisa zum Nottierarzt. Sie bekam eine krampflösende Spritze, nach der es ihr besser ging. Jedoch nur für wenige Tage, danach ging es von vorn los. Wir fuhren erneut in die Klinik. Und noch einmal dasselbe! Schließlich kam sie zum dritten Mal in die Tierklinik. Am Abend des 10. Mai kam der Anruf, dass Lisa soeben verstorben war. Ich weiß nur noch, dass ich geschrien und geheult habe, ich hatte wirklich das Gefühl, diesen unbändigen Schmerz nicht aushalten zu können.
Lisas Tod trat mit Wucht die Erinnerung an all die Verluste und Ängste meiner Vergangenheit los. Ich lag nachts wach, erinnerte mich an meine Kindheit und all die Jahre danach ...
Gedanken an meine Vergangenheit
Ich bin in Leipzig zur Welt gekommen. Die ersten Kindheitsjahre in der damaligen DDR verliefen recht beschaulich für meine Schwester und mich: Wir gingen in den Kindergarten, kamen in die Schule. Meine Eltern waren systemkritisch, hatten seit Jahren einen Ausreiseantrag laufen. Doch die damit verbundenen Repressalien erreichten uns in unserer Kinderwelt noch nicht wirklich, zumindest verstanden wir das meiste davon nicht.
Bis zu einem Tag im Februar 1975, ich war damals acht Jahre alt: Meine Schwester und ich erfuhren nur, dass wir nach Berlin fahren würden. Nach einer langen Zugreise kamen wir jedoch in Westdeutschland an. Das erste Bild, das ich vom »Westen« bekam, waren die unzähligen kunterbunten Autos. Welch ein Kontrast zu den langweiligen Fahrzeugen in Leipzig!
Nach Notaufnahmelager und Übergangswohnheim landeten wir schließlich in Michelbach-Aarbergen, einem kleinen, verschlafenen Nest im Taunus. Wir wohnten dort vielleicht anderthalb Jahre, in meiner Erinnerung meine glücklichsten Kindertage. Das lag auch daran, dass meine Mutter nicht arbeitete und viel Zeit mit uns verbrachte. Sie hatte in der DDR Rechtswissenschaften studiert, doch ihr Abschluss wurde in Westdeutschland nicht anerkannt.
Ich beendete die Grundschule und wechselte aufs Gymnasium. Und ich verliebte mich zum ersten Mal – in Jan, einen Schulkameraden. Er hatte wie ich großen Spaß an der Leichtathletik. Wir waren im selben Sportverein im permanenten Wettstreit, wollten ständig herausfinden, wer von uns schneller war. Auch im Schulchor waren wir gemeinsam. Wir sangen begeistert, wenn auch gänzlich ohne hörbares Talent. Zu Hause hatte ich mit meiner Puppe das Küssen geübt und irgendwann, nach einer Chorprobe, knutschten wir ganz unschuldig.
Jan ist später Berufsmusiker geworden und verdient heute sein Geld an der Kirchenorgel. Bei mir sollte es in eine ganz andere Richtung gehen. Unser kindliches Liebesglück währte nicht lange, denn mein Vater fand eine Anstellung bei Bayer in Leverkusen. Er pendelte kurze Zeit zur Arbeit, dann zogen wir ihm nach.
Ich lebte nun in Köln und fand neue Freunde auf dem Gymnasium. Doch schon bald kauften meine Eltern ein Haus in einem Kölner Vorort. Mit dem Umzug kam ich auch auf ein neues Gymnasium, das dritte für mich.
Die Jahre gingen ins Land, mit den üblichen kleinen Hochs und Tiefs. Bis sich an einem kalten Februarmorgen im Jahr 1983 alles veränderte: Meine Mutter war auf dem Weg zur Arbeit von einem Auto erfasst und durch die Luft geschleudert worden. Meine nette Kunstlehrerin fuhr mich zum Krankenhaus, doch ich bekam keine Gelegenheit mehr, meine Mutter zu sehen. Sie kämpfte auf der Intensivstation um ihr Leben. Etwa 20 Stunden nach dem Unfall erlag sie ihren Verletzungen. Ich war 16 Jahre alt.
Meine Schwester und ich waren voller Trauer, für die uns keine Zeit blieb. Denn wir mussten die Haushaltsführung übernehmen, waren gezwungen, sehr schnell erwachsen zu werden. Wir hatten beide eine sehr innige Beziehung zu unserer Mutter gehabt, sie fehlte uns schmerzlich. Zu unserem Vater hatten wir keine enge Beziehung. Wir fühlten uns so verlassen. Auch unsere Verwandten konnten uns nicht helfen, lebten sie doch alle in der DDR.
Kaum 18 geworden, zog ich in meine erste eigene Wohnung, ein kleines Einzimmerappartement. In der Schule mitzuhalten, war nach dem Tod meiner Mutter immer schwieriger für mich geworden. Dennoch machte ich 1987, etwas später als geplant, mein Abitur.
Und ich war wieder verliebt: Jürgen und ich zogen Hals über Kopf zusammen und waren so glücklich miteinander. Er motivierte und unterstützte mich in allem, was mir wichtig war. Meinen Kindheitstraum, Ärztin zu werden, gab ich dennoch auf. Ich hatte weder das Geld noch genügend Selbstvertrauen, um Medizin zu studieren. Also bewarb ich mich an mehreren MTA-Schulen und hatte Glück: In Köln wurde ich angenommen und machte zwei Jahre später mein Examen, bekam direkt eine Anstellung in einem Krankenhaus, zwei Jahre später wechselte ich zur Medizinischen Mikrobiologe der Universität zu Köln, dem Hygieneinstitut.
Es waren schöne Jahre, voller Liebe und Unbeschwertheit. Und an einem Januartag im Jahr 1995 kam unser Sohn Julian dazu. Wir waren so glücklich!
Unsere Freude sollte jedoch nicht lang andauern. Wenige Tage nach seiner Geburt wurde Julian immer schwächer. Ich fühlte, dass da etwas nicht stimmte. Tatsächlich stand die Diagnose dann recht schnell und zweifelsfrei fest: Julian hatte einen lebensbedrohlichen Herzfehler. Die schreckliche Angst, dass unser Kind sterben könnte, ergriff Jürgen und mich sofort übermächtig.
Sofort wurde Julian in die Kinderintensivstation der Uniklinik gebracht und noch in der gleichen Nacht notoperiert. Während der Operation wartete Jürgen, unterstützt von einem Freund, im Krankenhaus. Ich konnte die Anspannung nicht aushalten und musste nach Hause fahren. Eine noch nie gefühlte Leere hatte mich ergriffen. Mein Kind war nicht mehr in meinem Bauch, ich konnte es auch nicht mehr im Arm halten. Wie falsch sich das anfühlte. In meiner Verzweiflung putzte ich die Wohnung. Endlich, endlich, nach Stunden kam der erlösende Anruf von Jürgen: Julian hatte die Operation überlebt.
Nach einer Woche auf der Kinderintensivstation erholte er sich schnell und durfte vier Wochen nach seiner Geburt nach Hause. Endlich hatten wir unseren neugeborenen Sohn bei uns und für uns drei begannen wunderschöne Wochen als junge Familie.
Bei der ersten Nachkontrolle – sechs Wochen später – erlebten wir jedoch eine weitere...