Polarität, vier Seiten, die eine Mitte und das Ganze
Menschen haben immer Orientierung gesucht, in frühester Zeit geschah dies vor allem in der Ausrichtung auf den Osten, wo am Morgen mit der aufgehenden Sonne das Licht wiederkehrt. Und die Sonne bringt am Ende des Tages mit ihrem Verschwinden im Westen sogleich die Polarität ins Spiel.
Aus dem elementaren Naturschauspiel des sich im großen Bogen über das Himmelszelt ziehenden Lichtballs ergibt sich das Urmuster des Kreises. Er entsteht, wenn man den am Tag sichtbaren Sonnenlauf über den Himmel auf der nachtdunklen Schattenseite ergänzt. So haben es die alten Ägypter in ihrem Sonnenmythos besungen, in dem die Sonne auf ihrer Barke in jeder Nacht durch die Schattenwelt zurück zu ihrem Ausgangspunkt reist. Dasselbe Bild greift der Mythos der Antike auf mit der sich in den Schwanz beißenden Schlange (Uroboros), die den ewigen Kreislauf symbolisiert. Es sollte noch viele Jahrhunderte dauern, bis Gelehrte die Erde im wissenschaftlichen Sinn als Kugel erkannten.
Der Kreis war immer das Muster des Entwicklungsweges. Nordamerikanische Indianer bilden ihn traditionell in ihrem Medizinrad ab, in dem auch die vier Himmelsrichtungen vertreten sind. Dass die frühen indianischen Völker das Wagenrad dennoch nicht erfanden, zeigt, wo ihr Interessenschwerpunkt lag: in der Entwicklung zu höheren Zielen und der Kommunikation und der Austausch mit geistigen Welten, jedenfalls nicht in alltäglicher praktischer Anwendung.
Seit den Sumerern ist der Tierkreis ein Symbol menschlicher Entwicklung und spiegelt sich im Entwicklungskreis mit seinen vier Quadranten wider, dem ersten für den Körper, dem zweiten für die Seele, dem dritten für das Du und dem vierten für das Kollektive, die Allgemeinheit.
Wie zeitlos diese Vierer-Symbolik ist, zeigt uns auch die jüdische Kabbala mit dem Tetragrammaton, den vier Konsonanten JHWH als Namen Gottes (Jahve). Da Gott für Einheit und damit für das Eine und das All steht, ist auch die Symbolik ganz identisch.
In moderner Zeit beschäftigte sich Martin Heidegger mit einem Vier-Quadranten-Modell und verankerte es als Grundmuster in der Philosophie; Jean Gebser gab ihm als erster moderner Denker auch eine spirituelle Dimension. Ken Wilber entwickelte daraus sein integrales Weltbild. Tatsächlich ist im Entwicklungskreis mit seinen vier Quadranten bereits alles enthalten.
Bezogen auf den Entwicklungskreis der spirituellen Philosophie hat Paul Watzlawik, der österreichische Philosoph, Kommunikationswissenschaftler und Psychotherapeut, die Achse von erstem Quadranten (Körper) und drittem Quadranten (Beziehung oder Du) beschrieben. Er legte dar, dass jede Aussage unter einem Inhaltsaspekt und einem Beziehungsaspekt gesehen werden kann. Der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun erweiterte diese Betrachtung um ein weiteres Polaritätspaar und entwickelte sein Vier-Seiten-Modell (auch Vier-Ohren-Modell genannt) zur Bearbeitung und Lösung gestörter zwischenmenschlicher Kommunikation. Er baute damit vor allem auch auf der Arbeit zu einem Wertequadrat auf, das der Philosoph und Psychologe Paul Helwig in seinem Buch Charakterologie beschrieben hatte. Helwig stellte hier bereits die gegenpoligen Eigenschaften in ihren jeweils konstruktiven und destruktiven Ausformungen dar, was uns im Folgenden mit den 4 Seiten der Medaille noch intensiv beschäftigen wird.
Der Kreis erinnert uns an unsere Mitte; er ist sozusagen ein aufgeblasener und in der zweiten Dimension angekommener (Mittel-)Punkt. Das noch bessere Modell für unser Anliegen ist die Kugel, die den »aufgeblasenen« Mittelpunkt in die dritte Dimension des Raumes bringt. Sowohl im Kreis als auch in der Kugel lassen sich die vier Himmelsrichtungen oder auch die vier Quadranten finden. Außerdem können wir auf dem Kreis- und genauso Kugelumfang jederzeit den Gegenpol bestimmen, indem wir eine Achse durch die Mitte legen. Auf dieser Achse gibt es unendlich viele Punkte, aber nur eine Mitte, und nur durch die Mitte gelangen wir zum Gegenpol und werden der Polarität gerecht. Das heißt, es gibt nach dem Polaritätsgesetz zu allem stets einen Gegenpol, und auf dem Weg zu ihm müssen wir immer die Mitte passieren.
Die unterschiedlichsten Punkte liegen auf dem Kreis oft nahe beieinander und sind häufig gar nicht so präzise voneinander abzugrenzen. Auf dem Weg durch die Mitte hindurch klären sie sich und werden in ihrem Gegenpol deutlicher. Denn begreifen können wir, wie gesagt, letztlich immer nur durch die Polarität. Auf der Peripherie von Kreis oder Kugel ist also stets eine gewisse Unschärfe vorhanden. Dies kann uns vor Augen führen, dass die Dinge fließend ineinander übergehen, wir nicht um Definitionen streiten müssen und wir alles durchaus individuell unterschiedlich wahr- und wichtig nehmen können. Doch der Weg durch die Mitte, um die andere Seite (der Medaille) wahrzunehmen, hilft uns, Klarheit zu gewinnen. Eindeutigkeit gibt es immer nur in der Mitte, die alles enthält.
Sich auf den Weg machen
Bei den 4 Seiten der Medaille nutzen wir die Tatsache, dass es nicht nur einen einzigen Gegenpol gibt. Wir können nicht nur in Opposition zu jemandem stehen, sondern auch mit ihm über Kreuz sein. Durch den direkten Gegenpol werden Schattenthemen meist sofort deutlich, aber das, womit wir über Kreuz sind, enthüllt noch mehr und manchmal tiefere Schattenaspekte. So lässt sich mit einem Opponenten wegen der vielen eindeutigen Angriffspunkte gut streiten. Ist man aber mit einem Freund über Kreuz, kann die Kommunikation abbrechen, und es kommt zu keiner Lösung. In solch einer Situation wird mit der Methode der 4 Seiten der Medaille die eigene Handlungsfähigkeit gestärkt, da neben dem eigenen Standpunkt und dem des Opponenten noch zwei weitere Seiten einbezogen werden. Diese sind einem oft am wenigsten bewusst und stellen einen individuellen Schattenbereich dar, was auch im Horoskop, das einen Entwicklungsplan der betreffenden Person widerspiegelt, deutlich wird: Oppositionen sind an sich schon nicht leicht zu leben und zu bearbeiten, aber Quadrate haben es noch mehr in sich. Weil sie anspruchsvolle Lebensaufgaben darstellen, sind sie umso wichtiger.
Das Spiel mit der Opposition haben wir oft im Schatten-Prinzip geübt, die dritte und vierte Seite der Medaille, die nun ebenfalls einbezogen und gewürdigt werden, erleichtern es, klarer zu sehen und schließlich in die Mitte zu gelangen. Ähnliches geschieht, wenn wir uns in der Mitte des Medizinrades niederlassen: Wir gewinnen zu allen vier Richtungen oder Feldern den gleichen Abstand und Bezug und können im Idealfall erkennen, wie alles zusammengehört und letztlich eins ist, in der einen Mitte. Sie ist der Ort der Bewusstheit und damit auch der Entscheidungs- und Handlungsfreiheit. Von hier aus eröffnet sich eine wundervolle Perspektive auf alle vier Seiten der Medaille und damit auf die Ganzheit.
Doch normalerweise gehen wir im Konfliktfall erst einmal in Opposition – und geraten im Zuge der Auseinandersetzung mit unserem »Gegner« oft auch über Kreuz. Wenn wir mit dem Wissen der 4 Seiten der Medaille dieser Bewegung weiter folgen und sie in konstruktiver Weise nutzen, tritt ein weiteres Urmuster zutage: die Lemniskate, das Symbol der Unendlichkeit:
Nehmen wir den in vier Quadranten aufgeteilten Kreis, und beginnen wir unten links. Dieses Feld 1 stellt im Rahmen der 4 Seiten der Medaille die Ebene unseres Vorwurfs, unserer Beschuldigung (zum Beispiel »Du interessiert dich nicht für mich!«) dar. Sie ist Teil unserer »Unterwelt«; in diesem Schattenreich können wir etwas nicht integrieren, und wir wollen, dass jemand oder etwas sich gefälligst nach unseren Wünschen ändert. Obwohl sie im (arche-)typischen Schattenreich liegt, kennen wir diese Vorwurfsebene 1 gut, denn hier haben wir es uns oft schon lange bequem gemacht.
Dann bewegen wir uns quer durch die Mitte in den Gegenpol zu unserem Vorwurf nach rechts oben. Dies ist Feld 2 und enthält das, wonach wir uns sehnen beziehungsweise wie wir die andere Person oder die Angelegenheit gern hätten und wo wir alles in perfekter Ordnung und im Idealzustand wähnen. Hier liegt (arche-)typischerweise das Himmelreich.
Bei genauerer Betrachtung und im Wissen um die Polarität zeigt sich aber, dass unsere Wunschvorstellungen keineswegs nur lichtvoll und ideal sind, sondern ebenso eine Schattenseite haben. Diese Erkenntnis bringt uns neuerlich hinunter in das Schattenreich, und wir wenden uns nach rechts unten in das Feld 3. Dort wird uns bewusst, dass es – nach dem Polaritätsgesetz – auch zu diesem Schatten wieder einen lichten Gegenpol geben muss. Wir finden ihn, indem wir – wieder durch die Mitte – von rechts unten nach links oben in das Feld 4 streben.
Im Feld 4 stellen wir fest, dass dieser Quadrant unseres Entwicklungskreises die erlöste oder konstruktive Seite des ursprünglichen Ausgangspunktes oder Vorwurfs ist, der direkt darunter liegt: in Feld 1 des unteren Schattenreiches. Nun beißt sich auch unsere Schlange in den Schwanz, anders gesagt: Wir haben unser Denk- und Verhaltensmuster umkreist. Da auf diesem Weg zweimal die Mitte zu durchqueren war, sind wir jetzt auch in der Lage, das ganze Thema oder Muster in seiner Komplexität zu erfassen. Diesen differenzierten Ab- und Aufstieg zu üben – statt nur in Opposition zu gehen – bedeutet, die Methode der 4 Seiten der Medaille anzuwenden.
Wenn wir uns dann nochmals aus dem Schattenreich des Anfangsvorwurfs (Feld 1) von links unten in Richtung Gegenpol (Feld 2) bewegen und in der Mitte anhalten, haben wir...