Meine Adria
WIE MIR CAORLE ZUM SEHNSUCHTSORT WURDE
Das erste Mal am Meer. Noch traut der knapp Zweijährige dem Ganzen nicht. Etwas unsicher balanciert er auf dem Heck des eierschalenfarbenen Opel Rekord P 2, die Mutter hält ihn fest am linken Arm. Im Hintergrund schon die Adria, beiger Sand, schlierenblauer Himmel, dazwischen ein Bauchnabelstreifen Wasser. Kind und Mutter schauen campingplatzeinwärts, in Richtung des fotografierenden Vaters. Die Entdeckung des Meeres braucht seine Zeit, doch das Maritime ist bereits in Sicht. Ein blauweißgestreiftes Matrosen-T-Shirt trägt das Kind, auf dem Kopf eine Schiffermütze aus Papier, heute ist sie als US Navy Sailor Hat ein Hit bei Faschingspartys. Die Mutter posiert mit einer Kapitänsmütze. Es ist geschafft. Wir sind am Meer.
Eigentlich wollten meine Eltern den Sommer 1965 am Millstätter See verbringen. Doch über Kärnten hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet, so dass der Entschluss schnell feststand: an die Adria. Noch ohne Kind hatten Mutter und Vater schon 1960 die jugoslawische Adriaküste erkundet, waren mit ihrem VW Käfer über Villach und Laibach hinunter nach Split und Dubrovnik gefahren – »bis an die albanische Grenze«, wie meine Mutter später stolz betonte. Nun galt es, zum ersten Mal mit Kind zu reisen. Caorle hieß der Sehnsuchtsort, an den es meine Eltern zog.
Das gefiel nicht jedem. Caorle sei mittlerweile »der Strand von Wien, München und Ulm«, gruselte sich Pier Paolo Pasolini schon 1959. Im Auftrag der Illustrierten Successo hatte der Filmregisseur die italienischen Küsten von San Remo bis Triest bereist, runter den Stiefel und wieder hoch, und war dabei auch in das einst verschlafene Fischerdorf gekommen, das nun den Deutschen gehörte: »Auf drei-, viertausend Einwohner und ein-, zweitausend Sommerfrischler aus Venetien kommen achttausend Deutsche«, notierte Pasolini in seiner Reportage Die lange Straße aus Sand – und trauerte den Zeiten hinterher, als Caorle noch ein Geheimtipp war. »Ich schwöre, es war einer der schönsten Orte der Welt. Es gab keine Brücken, die Kanäle und Lagunen überquerte man auf sehr langsamen Flößen. Keiner kannte es.«
Mein Caorle sah anders aus. Nicht sentimental, sondern quietschbunt, ich trauerte nicht über Verlust, sondern begann zu entdecken: Die lustigen Dreiradlaster, auf denen die Lautsprecher unentwegt plärrten. Das Gelato am Strand, das so ganz anders schmeckte als das Softeis im schwäbischen Eislingen. Das Zelt, das nun für drei Wochen die heimatliche Wohnung ersetzte. Nichts davon würde ich, der Zweijährige, in Erinnerung behalten, nur den Geschmack dieser drei Silben: Ca-or-le. Mein erstes Mal am Meer wird immer mit dem Fischerort verbunden sein, der Pasolini zerronnen war wie Sand zwischen den Fingern.
Zwei Jahre später fuhren wir erneut nach Caorle. Wieder über Tauernpass und Villach. Wieder das Kanaltal hinab nach Udine. Wieder über die öde, ebene Vorlagunenlandschaft, Strandhinterland. Auch von diesem zweiten Adriaurlaub gibt es ein Foto. Es zeigt mich mit einem Mädchen im Schlauchboot. »Ursula aus Bayreuth«, wusste meine Mutter noch lange danach. Meine Eltern hatten sich mit Campingplatznachbarn angefreundet – und ich mich mit Ursula. Nach der Abreise entdeckte mein Vater ein Jackett, das die Bayreuther Familie vergessen hatte. Weil sie zuvor Adressen ausgetauscht hatten, nahm meine Mutter das Jackett mit nach Deutschland und wollte es von da an seinen Besitzer schicken. Als sie beim Einpacken aber ein Päckchen mit weißem Pulver entdeckte, wurde ihr klar, dass sie als Drogenschmugglerin missbraucht wurde. »Ich hab das Pulver weggeworfen und die Jacke losgeschickt. Nie wieder hab ich von denen gehört. Nicht einmal ein Danke. Das war der Beweis.« Heute kann meine Mutter darüber lachen. Adriageschichten sind Abenteuergeschichten. Nicht immer gehen sie so glimpflich aus.
Fünfundvierzig Jahre später sitzen meine Frau und ich im Auto, im Kofferraum ein kleines Zelt, Isomatten und Schlafsäcke. Campingstühle und Klapptisch hätten nicht mehr in den Renault Clio Baujahr 1997 gepasst. Ohnehin sitze ich lieber im Café und schaue aufs Meer als auf einem Klappstuhl Auto und Zelt zu bewachen.
Damals an der Adria hatten wir alles dabei. Das Zelt war unser Haus, Campingbesteck (nummeriert), Kocher (Spiritus) und Spülschüssel (Emaille) ersetzten die Küche, wobei meine Mutter keinen Zweifel daran ließ, dass der Abwasch im Urlaub Männersache war. Die Urlaubsreise als Schule der Emanzipation – zumindest da hat es geklappt. Auch sonst waren wir eine typische Wirtschaftswunderfamilie. Mein Vater verdiente als kaufmännischer Angestellter das Urlaubsgeld, meine Mutter besorgte den Haushalt. So ging das 49 Wochen im Jahr – bis auf jene drei, in denen wir ans Meer fuhren.
Je weiter wir in den Süden kommen – A9 Berlin-München, dann die A8 Richtung Salzburg – desto mehr Details gibt die Erinnerung preis: Die Reiserouten, die der ADAC aus München schickte, ein auf Kartonpapier gedrucktes Navi der sechziger Jahre; das Autoradio mit dem Schlagergedudel, bis heute kann ich Conny Froboess’ Zwei kleine Italiener auswendig. Wird es am Strand von Caorle immer noch Coco bello geben, die Kokosnussschnitten, die ich in Deutschland noch nie entdeckt habe, obwohl es inzwischen doch auch Orangina gibt im Prenzlauer Berg? Hinter Salzburg der Vorgeschmack des Südens auf einem Wegweiser: Rechts geht es zur Brennerautobahn, geradeaus zum Tauernpass. Wir nehmen die Route über Villach, wie vor fünfundvierzig Jahren meine Eltern.
Seltsames Meer, seltsame Adria, da sie noch immer diesen Klang hervorruft. Die Ostsee bleibt auch nach ausführlichem Besuch ein graues Meer, das Wellenrauschen ist ihr Markenzeichen und der Wind, der an ihr bläst. Auch das Mittelmeer bringt in mir nichts zum Schwingen, bleibt ohne Geschmack auf der Zunge. Es ist mehr die Summe seiner Einzelmeere, als dass es dort ein Caorle gäbe, ein kleiner Ort, stellvertretend fürs Ganze. Der große Historiker Fernand Braudel hat die Adria in seinem Werk über das Mittelmeer einmal das Meer genannt, das von allen Meeren des Südens am ehesten eine Einheit bilde. Natürlich hatte Braudel die Adria der Venezianer vor Augen, die Herrlichkeit der Serenissima, deren Handels- und Kriegsschiffe die Flotten der Griechen, Römer und Byzantiner abgelöst hatten. Die venezianische Adria war im 16. Jahrhundert, von dem Braudels Mittelmeerbuch handelt, der stato da mar, der Meeresstaat schlechthin. Den Zerfall Jugoslawiens und das Schlachten der Völker in den neunziger Jahren hat der französische Historiker nicht mehr erlebt.
Tunnel, Viadukt, Tunnel, Viadukt. Ich weiß nicht, wie es meinem Vater ergangen war. Ich habe vor sechs Kilometer langen Tunneln wie dem Tauerntunnel Respekt. Doch das Ziel kommt mit jedem Tunnel und jedem Viadukt näher. Bald werden wir in Villach sein, jener Stadt in Kärnten, für die es auch einen slowenischen Namen – Beljak – gibt, und in der die wichtigste Straße Italienerstraße heißt. Villach, das ist schon nicht mehr Österreich, das ist schon Süden. Wie auf einer Rutsche wird es von da an bergab gehen, bis nach zwei Stunden endlich die Lagune auftaucht. Dann werden wir da sein, Adria.
Eigentlich liegt Villach am Schwarzen Meer. Die Drau, die im Pustertal in Südtirol entspringt und – als Gebirgsfluss mit der unverwechselbar milchig grünen Farbe – durch Villach strömt, verbindet Kärntens zweitgrößte Stadt mit der Donau. Die polnische Autorin Olga Tokarczuk, sie ist an der Oder geboren, hat einmal vorgeschlagen, Europa nach den Einzugsgebieten der Flüsse zu ordnen. Ein poetisches Konzept, gewiss, aber was für eines. Wer einmal eine Karte der europäischen Flussregionen, zum Beispiel die Hydrographia Germaniae von 1712, neben eine politische Karte aus derselben Zeit gehängt hat, wird ihr recht geben. Übersichtlicher ist Europa da, und um seine Kleinstaaterei gebracht. Es gäbe in Mitteleuropa nur noch das Rheinland, das Elb- und Oderland oder das mächtige Donauland. Kriege würden, wenn überhaupt, zwischen Rheinländern und Donauländern, Elbländern und Oderländern geführt werden. Würde es dann noch Kriege geben? Flussfragen. Kinderfragen. Letzte Fragen.
Ob sie sich in Villach wirklich zu den Donauländern zählen? An den Laternenmasten auf der Brücke über die Drau flattern, schön in Reih und Glied, Plakate im Maiwind. »Ans Meer!« verkünden sie ihre Botschaft in blau und weiß. Die Schiffsreise auf der Drau zum Schwarzen Meer ist nicht gemeint. Villachs Meer ist und bleibt die Adria – und »Ans Meer!« ist der Titel einer Ausstellung über die Geschichte des Adriaurlaubes der Österreicher. Werner Koroschitz, der Ausstellungsmacher, hat die Villacher nach ihren Urlaubserlebnissen in den fünfziger und sechziger Jahren befragt – und Erstaunliches zusammengetragen. An der Adria, das haben ihm Hunderte von persönlichen Schilderungen und Fotos zu erkennen gegeben, begegneten das österreichische, wie auch das deutsche Wirtschaftswunder zum ersten Mal dem Dolce Vita in Italien.
Es war eine Begegnung mit Folgen bis heute. Aus den Busreisen oder den mühseligen Fahrten mit Moped oder Goggomobil wurden Reisen mit dem Opel Rekord P 2, das Zelt löste bald das Pensionszimmer ab und der Wohnwagen das Zelt. Aus Rimini wurde der Teutonengrill und aus Caorle der »Hausmeisterstrand«. Lange bevor die ersten Flieger in Palma de Mallorca landeten, war die Adria – im Gegensatz zum Mittelmeer und seinem Jet-Set in Cannes, Monte-Carlo und Santa Margherita – zum Inbegriff des Massentourismus geworden. Und mittendrin: meine Eltern und ich. Nicht...