Im Analyseteil dieser Arbeit soll, wie ihr Titel ankündigt, die Bedeutung der Geschwisterbeziehungen im grimmschen Märchen untersucht werden. Dabei gilt es im Vorfeld zu klären, welche Fragen sich von literaturwissenschaftlicher, volkskundlicher und psychologischer Seite zu diesem Thema aufwerfen.
Im Zusammenhang mit den von Lüthi herausgestellten Wesensmerkmalen des europäischen Volksmärchens stellte Rölleke fest, dass nur etwa ein Drittel der 211 Texte der KHM letzter Ausgabe tatsächlich als „eigentliche“ Märchen, also Zaubermärchen, zu bezeichnen sind. Die anderen Erzählungen fallen in andere Gattungen wie Sagen, Legenden, Schwänke, Anekdoten usw.[107]
In rund vierzig dieser Zaubermärchen tauchen Geschwister auf, sie begegnen uns als aktive Heldenpaare in der Konstellation von Bruder und Schwester, Zwillingsbrüdern, Schwestern, es erscheinen Brüder und (Stief-)Schwestern als Rivalen des Märchenhelden, ein andermal beschützen sie ihn/sie oder werden von ihm/ihr beschützt. In einigen Märchen geht es um die Geschwistertreue, in vielen um Geschwisterrivalität. Andere Märchen wiederum erwähnen die Geschwister des Helden bloß am Rande, sie sind im Laufe der mündlichen Übertragung zu „blinden Motiven“ geworden, doch auch wenn sie keine direkte Rolle mehr spielen, so funktionieren sie noch immer als Kontrastfiguren, wenn auch nur andeutungsweise.[108]
Etwa ein Drittel der Märchen, die in die Kleine Ausgabe übernommen wurden, erwähnen das Verhältnis zwischen Geschwistern, was zeigt, dass den Brüdern Grimm gerade diese Märchen besonders am Herzen lagen. So werden in ihrer Vorrede zu den KHM vor allem diese Märchen hervorgehoben, besondere Beachtung schenken sie dabei Brüderchen und Schwesterchen und Hänsel und Gretel, die sich auch in der Not „in allen Treuen“[109] beistehen.
Im Folgenden soll die Bedeutung der Geschwisterbeziehungen im Grimmschen Märchen im Hinblick auf verschiedene Fragestellungen behandelt werden. Angesichts der Vielzahl von Geschwistermärchen in den KHM soll das Feld der zu betrachtenden Märchen im Voraus eingegrenzt werden und zwar unter Gesichtspunkten der Geschwisterkonstellation: Wie viele Geschwister werden genannt? Ist die Geschwisterreihe gleichgeschlechtlich oder gemischtgeschlecht-lich? Welche Rolle spielt die Geburtenfolge? Ferner ist mit Rücksicht auf die Ergebnisse aus der Geschwisterforschung darauf zu achten, welchen Einfluss das familiäre Umfeld, insbesondere die Eltern-Kind-Beziehung im Märchen hat.
Exemplarisch sollen hier vier Märchen als Basistexte dienen, die, je nach Frage-stellung, in ihrer Relevanz unterschiedlich gewichtet sein können. Von diesen Märchen ausgehend werden Querbezüge zu verwandten Texten oder Varianten vorgenommen. Drei der zu untersuchenden Märchen erschienen auch in der Kleinen Ausgabe, deren Texte als allgemein bekannt vorauszusetzen sind und, wirkungsgeschichtlich gesprochen, ein großes Maß an Bedeutung für ihre Leser haben.
KHM 60, Die zwei Brüder, ist das wahrscheinlich am wenigsten bekannte Märchen meiner Auswahl, da es nicht in der Kleinen Ausgabe erschien. In den Kinder- und Hausmärchen erschien es erstmals 1819. Es ist das umfangreichste Märchen der Brüder Grimm und wurde von ihnen „mit Hingabe bearbeitet“[110]. Es ist für die Deutung vor allen Dingen deswegen interessant, weil die Hauptfiguren Zwillingsbrüder sind, von hier aus bietet sich ein Bezug zu anderen gleich-geschlechtlichen Geschwisterpaaren in Märchen an.
KHM 15, Hänsel und Gretel, zählt zu den Lieblingsmärchen der Deutschen[111] und erfreute sich allein deswegen einer großen Anzahl von Interpretationen in den verschiedenen Forschungsbereichen. Auch in diesem Märchen geht es um eine Paarbeziehung, allerdings zwischen Bruder und Schwester.
In KHM 9, Die zwölf Brüder, zeichnet sich die Geschwisterkonstellation durch eine Reihe von Brüdern gegenüber einer jüngeren Schwester aus. Dieses Schema findet sich auch in anderen Märchen der Grimmschen Sammlung.
KHM 21, Aschenputtel: Neben Hänsel und Gretel gehört dieses Märchen zu den bekanntesten der grimmschen Sammlung, ATU verzeichnet fast 350 Varianten weltweit. In diesem Märchen findet man eine gleichgeschlechtliche Geschwister-reihe von drei Schwestern vor, wobei der Heldin zwei Stiefschwestern gegenüber stehen. Hier ließe sich der Vergleich zum ‚Dreibrüdermärchen’ anstellen.
Die Geschwisterbeziehungen bilden für jede der dargelegten Methoden der Märchenforschung verschiedene Bedeutungsschwerpunkte, die im Weiteren behandelt werden sollen:
die Handlungsstruktur und stilistische Komposition der Märchen
ihre Verankerung in der sozial-historischen Wirklichkeit
in Familiensystemen
in Geschlechterrollen
ihre Spiegelung kollektiver Vorstellungen
in psychischen Vorgängen
in Initiationsmustern
Im Folgenden soll die Funktion der Geschwisterbeziehung für die Handlungsstruktur und den stilistischen Aufbau der einzelnen Märchen untersucht werden. Dabei beziehe ich mich zunächst auf die Ausgabe letzter Hand von 1857 und werde anschließend Vergleiche zu den früheren Fassungen ziehen. Der Übersichtlichkeit halber werde ich jeder Analyse eine Handlungsskizze im Sinne der Aufteilung Lüthis vorausstellen.
Handlungsstruktur von Aschenputtel
A. Aschenputtel wird nach dem Tod der Mutter von den Stiefschwestern zur Arbeit genötigt und darf nicht auf den königlichen Ball
1. Trennung von Linsen und Asche durch die Tauben
2. Besuch des Königsballs mit den vom Haselbaum erhaltenen Kleidern
3. Bestehen der Schuhprobe durch die Tauben
B. Aschenputtels Verlobung mit dem Prinzen, Blendung der Schwestern
Im Aschenputtel-Märchen wird das Geschwisterverhältnis dreier Schwestern dargestellt. Einer solchen Konstellation begegnet man auch in KHM 130, Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein.
Wie wichtig die Geschwisterbeziehung für die Handlung ist, lässt sich daran erkennen, dass die Stiefschwestern in jedem der drei Handlungsteile erscheinen.
Die Dreizahl beschreibt Olrik in seinen „Epischen Gesetzen“ als die „höchste zahl von menschen und dingen die man vorzuführen vermag“ und besonders darin unterscheidet sich die Volksdichtung von der modernen Literatur.[112]
Auch in Aschenputtel nimmt die Heldin eine Randposition ein. Zwar lässt sich nicht eindeutig erkennen, ob sie das jüngste Kind ist, sie ist jedoch mutterlos und als Stiefschwester nicht blutsverwandt mit den anderen Töchtern der Familie, also strukturfremd. Wenden wir die lüthischen Begriffe an, so erkennen wir, dass das Aschenputtel von seinem weltlichen Umfeld isoliert dasteht. Die einzigen Verbindungen, die es hat, gehen in die jenseitige Welt zur toten, guten Mutter. Ausgehend von dieser stehen dem Mädchen Helfer in Gestalt von Tieren des Himmels, nämlich Tauben, zur Seite (vgl. Eindimensionalität). Die jenseitige Welt ist hier dargestellt durch den Bereich außerhalb des Hauses, insbesondere durch den Garten und das Grab der Mutter.
Der Schauplatz des Diesseits ist das Haus der Familie. Es steht unter dem Regiment der Stiefmutter und den Stiefschwestern. Aschenputtel wird die Rolle der Dienstmagd zugeteilt, sie ist im familiären wie im gesellschaftlichen Sinne äußerstes Glied der Kette. Kontrastierend stehen ihr die bösen Gegenspieler gegenüber, dargestellt in der Einheit von den zwei Stiefschwestern und der Stiefmutter. Die Zahl Drei spiegelt sich schon in den drei Teilen der Handlungsskizze des Märchens sowie in den drei Ballnächten und der dreimaligen Schuhprobe wider. Anders als in KHM 24, Frau Holle, wo sich die Gegensätzlichkeit der beiden Schwestern in der Gegenüberstellung zweier Episoden auf die Handlungsstruktur niederschlägt, folgen die Prüfungen der Schwestern in KHM 21 unmittelbar aufeinander. Die Dreigliedrigkeit birgt hier zum einen eine qualitative Steigerung, Aschenputtels Kleider werden mit jedem Abend schöner. Zum anderen bildet sie dort, wo die Schwestern eingebunden sind, einen Kontrast: die Schuhprobe gelingt im dritten Versuch, die Tauben verkünden bei ihrem dritten Ausruf die Hochzeit der dritten Tochter. Dass die Linsenauslese nur zweimal stattfindet, lässt sich damit erklären, dass sie auch im dritten Anlauf keine Lösung des Konflikts herbeiführen würde.
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