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E-Book

Die Bekenntnisse (Autobiografie)

AutorJean Jacques Rousseau
Verlage-artnow
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl790 Seiten
ISBN9788026845164
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis1,99 EUR
Dieses eBook: 'Die Bekenntnisse (Autobiografie)' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) war ein französischsprachiger Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge, Naturforscher und Komponist der Aufklärung. Rousseau hatte großen Einfluss auf die politische Theorie des späten 18. sowie des 19. und 20. Jahrhunderts in ganz Europa. Er war ein wichtiger Wegbereiter der Französischen Revolution. Sein Werk ist unlösbarer Bestandteil der französischen und europäischen Literatur- und Geistesgeschichte. In Rousseaus pädagogischem Hauptwerk Émile oder über die Erziehung wird die fiktive Erziehung eines Jungen beschrieben. Rousseaus Theorien beeinflussten Immanuel Kant und viele namhafte Pädagogen, so z. B. Johann Heinrich Pestalozzi, Joachim Heinrich Campe, Adolph Diesterweg, Maria Montessori, Ellen Key, Hartmut von Hentig und Dietrich Benner.

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Leseprobe

Zweites Buch.


1728 – 1731


So traurig mir der Augenblick, in welchem mir die Angst den Gedanken an die Flucht eingab, vorgekommen war, in so bezauberndem Lichte erschien mir der, in welchem ich ihn zur Ausführung brachte. Noch im Kindesalter meine Heimat, meine Verwandten, meine Stützen, meine Hilfsmittel verlassen; aus einer nur halbvollendeten Lehrzeit treten, ohne die genügende Fertigkeit in meinem Handwerke zu besitzen, um davon leben zu können; mich den Schrecken des Elendes aussetzen, ohne ein Mittel zu haben, mich daraus emporzuarbeiten; mich im Alter der Schwachheit und der Unschuld allen Versuchungen des Lasters und der Verzweiflung preisgeben; in fernen Landen Leiden, Verirrungen, Fallstricke, Sklaverei und Tod aufsuchen, mir ein Joch aufladen, das weit schwerer abzuschütteln war als das, welches ich nicht hatte aushalten können: das war es, was ich zu thun im Begriff stand, das war die Aussicht, die ich hätte ins Auge fassen sollen. Wie verschieden davon war die, welche ich mir ausmalte! Die Unabhängigkeit, die ich gewonnen zu haben wähnte, war das einzige Gefühl, welches mich erfüllte. Frei und Herr meiner selbst, glaubte ich alles thun, alles erreichen zu können; ich brauchte nur meine Kraft zu entfalten, um mich emporzuschwingen und in den Lüften zu fliegen. Sorglos trat ich in die weite Welt; meine Talente mußten sich in ihr Geltung verschaffen: auf jedem Schritte mußte ich Feste, Schätze, Abenteuer, dienstwillige Freunde, um meine Gunst buhlende Geliebte finden; wenn ich mich nur zeigte, mußte ich das Weltall mit mir beschäftigen; wenn auch nicht das ganze; ich überhob es gewissermaßen desselben, so viel hatte ich nicht nöthig; eine reizende Gesellschaft genügte mir, und um den Rest kümmerte ich mich nicht. In richtiger Maßhaltung beschränkte ich mich auf einen zwar engen, aber trefflich gewählten Kreis, in dem ich sicher war zu herrschen. Ein einziges Schloß war für meinen Ehrgeiz genügend, als Günstling des Herrn und der Herrin, als Geliebter des Schloßfräuleins, als Freund ihres Bruders und als Gönner der Nachbarn war ich zufrieden; mehr bedurfte ich nicht.

In Erwartung der Erfüllung dieses bescheidenen Zukunfttraumes irrte ich einige Tage um die Stadt herum und fand während derselben bei mir bekannten Bauern ein Unterkommen, die mich alle mit größerer Güte aufnahmen, als es Städter gethan haben würden. Sie nahmen mich auf, sie gaben mir Obdach, sie speisten mich, alles mit zu viel Treuherzigkeit, um ein Verdienst davon zu haben. Man konnte das nicht als eine Almosenspende bezeichnen; dazu nahmen sie nicht genug die Miene der Überlegenheit an.

Auf diesen Reisen und Streifereien durch die Welt kam ich nach Confignon auf savoyischem Gebiete zwei Stunden von Genf. Der Pfarrer hieß Herr von Pontverre. Dieser in der Geschichte der Republik berüchtigte Name fiel mir auf. Ich war neugierig zu sehen, wie sich die Abkömmlinge der Ritter vom Löffel1 ausnähmen. Ich besuchte Herrn von Pontverre. Er empfing mich herzlich, redete mit mir von der Genfer Ketzerei, von der Macht der heiligen Mutterkirche und gab mir zu essen. Auf Gründe, die so endigten, fand ich wenig zu erwidern, und ich schloß, daß Pfarrer, bei denen man so gut speiste, wenigstens eben so viel werth wären wie unsere Prediger. Ich war sicherlich gelehrter als Herr von Pontverre, ein so vollendeter Edelmann er auch war; aber ich war ein zu guter Gast, um ein eben so guter Theologe zu sein, und sein Frangiwein, der mir vortrefflich vorkam, brachte für ihn so unwiderlegliche Gründe vor, daß ich mich geschämt hätte, einem so wackern Wirthe gegenüber das letzte Wort zu behalten. Ich gab deshalb nach oder widersprach ihm wenigstens nicht in das Gesicht.

Erwägt man die Rücksichten, die ich nahm, so hätte man mich für falsch halten können. Man hätte sich geirrt; ich wahrte nur die Schicklichkeit, so viel ist gewiß, Schmeichelei, oder vielmehr Nachgiebigkeit, ist nicht immer etwas Schlechtes; sie ist öfter eine Tugend, namentlich bei jungen Leuten. Die Güte, mit der ein Mensch uns behandelt, stimmt uns freundlich für ihn; man giebt ihm nicht nach, um ihn zu hintergehen, sondern um ihn nicht zu betrüben, um ihm nicht Gutes mit Bösem zu vergelten. Welchen Vortheil hatte Herr von Pontverre davon, mich aufzunehmen, mich freundlich zu behandeln, mich überzeugen zu wollen? Keinen andern als meinen eigenen. Mein junges Herz sagte sich das. Ich war von Erkenntlichkeit und Achtung vor dem guten Priester ergriffen. Ich fühlte meine Ueberlegenheit, wollte ihn aber zum Lohn für seine Gastfreundschaft nicht damit demüthigen. Bei diesem Benehmen war alle Heuchelei außer dem Spiele: ich dachte nicht an einen Religionswechsel, und weit entfernt, mich mit diesem Gedanken so schnell vertraut zu machen, betrachtete ich ihn nur mit einem Abscheu, der ihn lange Zeit von mir fern halten mußte; ich wollte nur denen nicht wehe thun, die mir wohl wollten, wenn sie es auch nur in jener Absicht thaten; ich wollte mir ihr Wohlwollen bewahren und ihnen die Hoffnung des Erfolges lassen, indem ich weniger gewaffnet schien, als ich es in der That war. Mein Fehler in dieser Beziehung läßt sich mit der Koketterie ehrbarer Frauen vergleichen, die, ohne etwas zu gestatten oder zu verheißen, doch zur Erreichung ihres Zwecks es sehr wohl verstehen, mehr hoffen zu lassen, als sie zu erfüllen willens sind.

Vernunft, Theilnahme, Christenpflicht hätten doch gewiß verlangt, daß man, anstatt auf meine Thorheit einzugehen, mich dem Untergange, dem ich entgegenlief, entrissen hätte, indem man mich meiner Familie zurückschickte. Das würde jeder wahrhaft tugendhafte Mann gethan oder sich zu thun bestrebt haben. Allein war Herr von Pontverre auch ein guter Mann, so war er doch sicherlich kein tugendhafter Mann, im Gegentheil, er war ein Frömmler, der nur Bilderanbetung und Hersagen des Rosenkranzes als Tugenden anerkannte; eine Art Missionär, der zum Besten des Glaubens nichts Besseres wußte, als Streitschriften gegen die Genfer Geistlichkeit zu verfassen. Anstatt daran zu denken, mich nach Hause zurückzuschicken, benutzte er mein Verlangen, mich davon zu entfernen, um mich außer Stand zu setzen, dahin zurückzukehren, selbst wenn ich wieder Lust dazu verspüren sollte. Man hätte fest darauf wetten können, daß er mich der Gefahr aussetzte, im Elend umzukommen oder ein Taugenichts zu werden. Das faßte er nicht ins Auge. Er sah nichts als eine der Ketzerei entrissene und der Kirche wiedergegebene Seele. Was kümmerte es ihn, ob ich ein ehrlicher Mensch oder ein Taugenichts wurde, wenn ich nur in die Messe ging? Man darf übrigens nicht glauben, daß diese Denkweise nur den Katholiken eigenthümlich sei; sie wird von jeder Dogmenreligion getheilt, die den Glauben über das Thun stellt.

»Gott beruft Sie,« sagte Herr von Pontverre zu mir. »Gehen Sie nach Annecy; dort werden Sie eine gute und sehr mildthätige Dame finden, welche die Wohlthaten des Königs in den Stand setzen, andere Seelen aus dem Irrthume zu reißen, den sie selbst abgelegt hat.« Es handelte sich um Frau von Warens, eine Neubekehrte, welcher die Priester in der That den Zwang auferlegten, eine ihr von dem Könige von Sardinien ausgesetzte Pension von zweitausend Francs mit dem Pack zu theilen, welches seinen Glauben zu verkaufen kam. Ich fühlte mich sehr gedemüthigt, eine gute und sehr mildthätige Dame nöthig zu haben. Ich sah es gern, wenn man mir gab, was ich gebrauchte, aber Almosen wollte ich nicht, und eine Frömmlerin war für mich nicht sehr anziehend. Allein von Herrn von Pontverre angetrieben, vom Hunger gepeinigt, auch sehr froh darüber, eine Reise zu machen und endlich einen bestimmten Zweck zu haben, entschließe ich mich, wenn auch ungern, dazu und breche nach Annecy auf. Ich konnte den Weg dorthin leicht in einem Tage zurücklegen, aber ich eilte nicht, ich verwandte darauf drei. Ich sah kein Schloß zur Rechten oder zur Linken, ohne mich vor ihm nach dem Abenteuer umzusehen, von dem ich überzeugt war, daß es mich dort erwartete. Da ich sehr schüchtern war, wagte ich nicht in das Schloß einzutreten oder anzuklopfen; aber ich sang unter dem Fenster, wo ich am ehesten bemerkt zu werden hoffte, und war, wenn ich meine Lunge lange angestrengt hatte, sehr erstaunt, weder Damen noch Fräulein erscheinen zu sehen, die die Schönheit meiner Stimme oder der Witz meiner Lieder herbeigezogen hätte, was um so auffallender war, da ich doch bewunderungswürdige wußte, die ich von meinen Kameraden gelernt hatte und bewunderungswürdig sang.

Endlich lange ich an; ich sehe Frau von Warens. Diese Epoche meines Lebens hat über meinen Charakter entschieden. Ich kann mich nicht entschließen, leicht darüber hinwegzugehen. Ich war in meinem sechszehnten Jahre. Ohne das zu sein, was man einen hübschen Jungen nennt, war ich von schönem Wuchse, ich hatte einen hübschen Fuß, ein feines Bein, ein offenes Wesen, belebte Züge, einen niedlichen Mund,2 schwarze Augenbrauen und Haare, kleine und sogar tiefliegende Augen, die aber das Feuer, von dem mein Blut entzündet war, wiederstrahlten. Unglücklicherweise wußte ich nichts von dem allen, und mein Leben lang bin ich nie auf den Einfall gerathen, an mein Aeußeres zu denken, als bis es nicht mehr an der Zeit war, Vortheil daraus zu ziehen. Eben so hatte ich außer der Schüchternheit meines Alters noch die einer sich nach Liebe sehnenden Natur, die sich in steter Angst befand, zu mißfallen. Außerdem fehlten mir, da ich bei aller geistigen Tüchtigkeit die Welt nie gesehen hatte, völlig alle Umgangsformen; meine Kenntnisse boten dafür nicht nur keinen Ersatz; sondern dienten nur dazu, mich noch mehr einzuschüchtern, da sie mir meinen Mangel erst recht fühlbar machten.

Da ich also...

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