2 Die Benediktsregel und das normative Gerüst benediktinischen Mönchtums im Mittelalter
»Die Regel als Anfang unseres Weges zur vollen Gerechtigkeit« (RB 73).
Der Bezug auf Benedikt von Nursia und die ihm zugeschriebene Regel stellt die zentrale Gemeinsamkeit dar, die das benediktinische Mönchtum verband. Diese Gemeinsamkeit bewirkte jedoch keine Uniformierung klösterlichen Lebens, eher ließe sich von einer gewissen Familienähnlichkeit zwischen den verschiedenen Klöstern sprechen, in denen nach der Regula Benedicti gelebt wurde. Neben diesem normativen Text dienten andere Schriften, allen voran die Bibel, ferner ein breites Spektrum monastischer und anderer theologischer Literatur als Inspirationsquellen für die asketische Praxis. Darüber hinaus spielten schließlich die Entwicklungen christlicher Religiosität, die Erwartungen der Umgebung an ihre Klöster sowie die Vernetzung mit kirchlichen Institutionen wie gesellschaftlichen Eliten eine entscheidende Rolle für die Vielfalt asketischen Lebens, das unter Bezug auf den einen Regeltext verwirklicht wurde. Diese Faktoren führten nicht zuletzt dazu, dass sich auch der Umgang mit der Benediktsregel und anderen normativen Basistexten innerhalb des mittelalterlichen Mönchtums in fundamentaler Weise wandelte. Daher bündelt die Geschichte des normativen Gerüsts, das das benediktinische Mönchtum trug und formte, zentrale Aspekte seiner mittelalterlichen Entwicklung.
2.1 Eine sehr kurze Geschichte des frühen christlichen Mönchtums
Die Abfassung der Benediktsregel und die Entstehung des benediktinischen Mönchtums lassen sich nicht ohne einen knappen Rückblick auf die frühe Geschichte christlicher Askese verstehen, denn sie bündelt zahlreiche ältere Traditionen, auf die sich der Regeltext sogar ausdrücklich bezieht. Auch das Modell klösterlichen Lebens, das Benedikt von Nursia entwirft, speist sich aus zahlreichen älteren Quellen, die daher an dieser Stelle wenigstens in einigen groben Strichen nachgezeichnet werden müssen.
Asketen
Seit dem Beginn des Christentums gab es zwar bereits Asketen, aber noch keine Mönche. Asketen, die sich aus religiöser Motivation bestimmte Einschränkungen bei Nahrung, Schlaf oder Sexualität unterwerfen, sind bereits im Neuen Testament belegt. Die Anfänge christlichen Mönchtums fallen erst auf das Ende des 3. nachchristlichen Jahrhunderts. Es ordnet sich damit in ein breites Panorama »asketischen Virtuosentums« (Max Weber)1 ein, das in den meisten religiösen Traditionen der Welt zu beobachten ist. Zugleich greift es Motive einer im Hellenismus wie im zeitgenössischen Judentum verbreiteten Sorge um sich selbst auf. Philosophen wie der Neoplatoniker Plotin († 270) bemühten sich um eine strenge Disziplinierung körperlicher und geistiger Vollzüge im Dienste eines philosophisch-religiösen Lebensentwurfs. Ähnliches wird in der Bibel etwa vom Propheten Elias oder von Johannes dem Täufer berichtet. Neben diesen literarisch bezeugten Figuren dürfte bei der Entstehung des christlichen Mönchtums die Präsenz einer hohen Zahl heidnischer wie christlicher viri Dei, sogenannter »Gottesmenschen«, in der Spätantike als Vorbild gedient haben. Dabei handelte es sich um Personen, deren asketischer Lebenswandel ihnen in den Augen der Zeitgenossen einen direkten Zugang zu Gott, Göttern oder anderen jenseitigen Mächten eröffnete und es ihnen ermöglichte, Botschaften oder den heilsamen Beistand göttlicher Mächte an ihre Umgebung zu vermitteln. In christlichen Zusammenhängen fungierten Märtyrer als Vermittler göttlichen Heils, von denen geglaubt wurde, dass sie nach ihrem Tod unmittelbar in der direkten Anschauung Gottes weiterlebten und daher in der Lage seien, den Menschen göttlichen Beistand zukommen zu lassen. Nach dem Ende der antiken Christenverfolgungen traten Mönche in die Tradition der Märtyrer ein, die ihr Leben in rigoroser Askese als Zeugnis für die »wahre« Religion und für einen Bruch mit der Welt verstanden.
Antonius und die Eremiten
In das Panorama religiöser Virtuosen der Spätantike ordnen sich die frühen Mönche als eigenständige Spielart christlichen Asketentums ein. Ihre ersten beiden namentlich bekannten Vertreter, Antonius und Pachomius, lebten um die Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert im Gebiet des heutigen Ägypten. Antonius, der nach seiner Lebensbeschreibung (Vita) im Jahr 356 mit über 100 Jahren starb, verließ als junger Mann den heimatlichen Bauernhof im mittleren Niltal, um in der Einsamkeit der Wüste ein allein Gott geweihtes Leben zu führen. Ausschlaggebend dafür sei, so die Vita, ein Ausspruch Jesu gewesen, den er zufällig gehört habe:
»Willst du vollkommen sein, so geh, verkaufe deinen Besitz und gib ihn den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir!« (Mt 19,21).
Sein Weg führte ihn in mehreren Etappen in die Wüste, wo er in Gräbern und Ruinen hauste. Dort habe er, so wird weiter berichtet, seine Tage damit zugebracht, zu beten und über Bibelpassagen nachzudenken sowie seinen Körper durch harte Askese zu disziplinieren. Dieses psychische wie physische Training habe ihn dazu in die Lage versetzt, sich erfolgreich gegen die Anfechtungen zu verteidigen, mit denen der Teufel und seine Dämonen ihn bedrängt hätten. Die Vita Antonii beschreibt diese Anfechtungen als Auseinandersetzungen darum, wer den Ort kontrolliere, an dem sich Antonius aufgehalten habe, weil der Heilige und die Dämonen dort nicht gemeinsam Platz gefunden hätten. Trotz dieses gezielten Rückzugs in die Einsamkeit sei Antonius nach einigen Jahren wieder vermehrt mit anderen Menschen in Kontakt gekommen. Einerseits hätten sich jüngere Einsiedler dem älteren Eremiten angeschlossen, um nach seinem Vorbild und nach seinen Weisungen zu leben, andererseits habe er sich in die innerchristlichen Auseinandersetzungen des 4. Jahrhunderts eingemischt – ehe er hoch geehrt gestorben sei. Durch die Lebensbeschreibung, die der alexandrinische Bischof Athanasius bald nach Antonius’ Tod verfasste und die rasch in einer lateinischen Übersetzung im Westen Verbreitung fand, wurde der Einsiedler und »Altvater« (= abbas) Antonius zur wohl wichtigsten Gründerfigur des mittelalterlichen Mönchtums. Sein Modell, sich aus der Welt in die Wüste, in den éremos, zurückzuziehen, um dort in strenger Askese unter beständiger Meditation an einem Ort auszuharren und den Anfechtungen zu widerstehen, stand an der Wiege des christlichen Mönchtums im eigentlichen Sinne. Als »Reglement« des eremitischen Lebens begegnet hier – neben der Orientierung an der Bibel – die Autorität eines erfahrenden Einsiedlers, der jüngeren Schülern als Vorbild dient und sie mit individuellen Mahnungen berät.
Pachomius und das Zönobitentum
Die zweite Gründungsfigur des ägyptischen Mönchtums, Pachomius († 346/7), steht für die Entstehung von Klöstern, in denen die sogenannten Zönobiten ein streng reglementiertes Gemeinschaftsleben führten. Nach seiner Vita soll Pachomius, ein Sohn nichtchristlicher Eltern, erst nach Beendigung seiner Militärzeit zum Christentum konvertiert sein. Ähnlich wie Antonius habe er sich dann einem erfahrenen Eremiten angeschlossen, der ihn in das asketische Leben der Wüste eingeführt habe. Dauerhafte Bedeutung gewann Pachomius jedoch erst dadurch, dass er gegen 320 dem monastischen Leben mit den ersten Klöstern eine neue institutionelle Form gab. Die Vita des Pachomius sowie die unter seinem Namen überlieferten Bestimmungen zum klösterlichen Alltag lassen Grundzüge dieser neuen Institution erkennen, die sowohl für die Benediktsregel als auch für andere Traditionen des christlichen Mönchtums prägend werden sollten. Im Zentrum stand das Bemühen, in einem von der Welt durch eine Mauer abgetrennten Bereich ein möglichst vollkommenes Leben zu führen, das den Weg zum ewigen Heil ebnen sollte. Durch die Gemeinschaft Gleichgesinnter, so die Erwartung, sei es möglich, nach dem Vorbild der Jerusalemer Urgemeinde zu leben, wie es die Apostelgeschichte (Apg 4) schildert. So sollten viele Asketen ihre Lebensentwürfe verwirklichen können, weil sie unter der strengen Aufsicht von Vorgesetzten standen, die Fehlverhalten korrigierten. Die Hierarchie im Kloster diente allerdings nicht nur der Aufrechterhaltung der Autorität des Abts und des weiteren Leitungspersonals, sondern auch dem Kampf gegen den Eigenwillen – ein im frühen Mönchtum breit...