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E-Book

Die Chance der Unvollkommenheit

Warum unsere Schattenseiten der Schlüssel zu unserem Potenzial sind - -

AutorSimon Hahnzog
VerlagKailash
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641170554
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Jeder von uns kennt sie und hat viele davon: ungeliebte Persönlichkeitsanteile, die man lieber verschweigt, unterdrückt oder ignoriert. Aber man wird sie nicht los - gleich ob es sich um Neid, Aggressivität, Eitelkeit oder Angst handelt. Simon Hahnzog zeigt, welch enorme Schätze der dunkle »Keller« unseres Ichs birgt: Wenn wir ihn gründlich erforschen und all unsere Persönlichkeitsanteile mithilfe unseres inneren Chefs zu einem Team zusammenschweißen, können gerade unsere Schattenseiten bedeutsame Ressourcen darstellen, um Herausforderungen im Leben souverän zu meistern.

Simon Hahnzog studierte Psychologie, Pädagogik und Mathematik in München und promovierte später über das Thema Persönlichkeitsentwicklung. Nach Stationen als Lehrer, Schulpsychologe, Castingredakteur und Familientherapeut unterstützt er heute Unternehmen bei der betrieblichen Gesundheitsförderung und lehrt als Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Fresenius in München.

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Leseprobe

3.

Grundsteinlegung

Bevor wir das Wesen unserer Persönlichkeit beschreiben und entwickeln können, musste diese zuerst einmal entstehen.

Und schon tauchen die ersten Fragen auf: Haben wir darauf einen Einfluss? Werden wir am Ende – oder besser: am Anfang – mit unserer Persönlichkeit geboren, und das war’s dann fürs Leben? In diesem Falle würde ein Buch zur Persönlichkeitsentwicklung ja nun wenig Sinn machen.

Wir können sie verändern. Allerdings ist das nicht immer so einfach, wie wir es manchmal gern hätten. Oder würden Sie nicht ab und an Ihre kleinen Makel und ungeliebten Eigenschaften am liebsten fortzaubern?

Bei mir ist das beispielsweise meine ewige Klugscheißerei. Zugegeben, ich mache das durchaus auf einem gehobenen Niveau. Ich habe schließlich auch einen Job, bei dem es eine vertragliche Voraussetzung ist, an der richtigen Stelle ordentlich viele schlaue Sachen rauszulassen. Aber ab und an bringt das mein Gegenüber eher auf Abstand als in einen Zustand der verzückten Bewunderung. Ich denke da vor allem an Gespräche mit meiner Frau. Oder an die Momente, in denen ich vor lauter Gewohnheit nicht mehr aus meiner Haut kann und über Sachen schlau daherrede, von denen ich jetzt nicht so wahnsinnig viel Ahnung habe. Auch wenn mir mein Gegenüber meistens trotzdem interessiert lauscht, ist mir das im Nachhinein schon des Öfteren peinlich. Dann denke ich mir, dass ich das nächste Mal lieber den Mund halten sollte – schließlich ist Schweigen Gold und so weiter. Aber kaum kommt es zur nächsten Gelegenheit dieser Art, drängelt sich mein innerer Erklärbär in den Vordergrund, und es geht wieder los …

Kennen Sie solche Situationen auch von sich selbst?

Das muss jetzt nicht unbedingt Klugscheißerei, sondern kann auch Nasebohren oder Schokoladeessen sein oder etwas, was Ihnen an sich selbst eben nicht so ganz gefällt.

Das Gemeine daran ist, dass wir diese Eigenschaften oder Verhaltensweisen nicht einfach ablegen können.

Das Schöne daran ist, dass diese ungeliebten Seiten irgendeinen Sinn haben müssen. Sonst hätten wir sie nicht.

Zurück zur Ausgangsfrage: Wie entsteht unsere Persönlichkeit?

Dabei gibt es durchaus genetische und biologische Einflüsse – schließlich entsteht jeder von uns zunächst einmal aus zwei Zellen, die sich glücklicherweise im richtigen Moment treffen und sich dann erst mal fleißig teilen. Allerdings konnte in den letzten Jahren und Jahrzehnten deutlich gezeigt werden, dass im Prozess der Persönlichkeitsentstehung der Einfluss unserer Umwelt durch Erziehung, Kultur und Lernen im Verhältnis deutlich stärker ist als unsere genetische Veranlagung. Es trifft also beides zu: Wir können nie ganz aus unserer Haut, und zugleich haben wir die Möglichkeit, uns selbst zu gestalten.

Am deutlichsten wird dieses Wechselspiel von gegenseitiger Beeinflussung in einem spannenden Vorgang, den man als »Sozialisation« bezeichnet. Das ist der Prozess, in dem zwischen dem einzelnen Menschen und der ihn umgebenden Umwelt ein wechselseitiger Einfluss ausgeübt wird.

Die Umwelt besteht sowohl aus den anderen Menschen als auch aus der Gesellschaft, Kultur, Umgebung oder Arbeit, um nur einige Beispiele zu nennen. Wechselseitig bedeutet, dass sowohl der Einzelne die Welt um sich herum verändert als auch die Persönlichkeit des Individuums durch seine Umwelt beeinflusst wird.

Diese gegenseitige Beeinflussung ist möglich, weil wir soziale Wesen sind, also eine Lebensform, die auf den Austausch mit anderen angewiesen ist – wir können nicht ohne die Artgenossen um uns herum sein.

Auch wenn wir das ab und an vielleicht gern wollten.

Der Erziehungswissenschaftler Herrmann Veith beschreibt diesen Austausch als »Zusammenwirken von sehr unterschiedlichen konstitutionellen, genetischen, physiologischen, psychischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Faktoren«. Wir haben es also mit einem Prozess zu tun, der sowohl bei jedem einzelnen Menschen unterschiedlich verläuft als auch bei allen Menschen ähnlich ist.

Unterschiedlich deswegen, weil die eben genannten Faktoren in ihrer Kombination bei jedem anders sind: Jeder von uns ist aus unterschiedlichen Genen entstanden, lebt in Kulturen mit kleinen bis großen Unterschieden und hat im selben Moment nicht unbedingt dieselbe Stimmung wie die Person gegenüber.

Zugleich ist Sozialisation bei uns allen ähnlich: Zwar mag die Gestaltung dieser Faktoren unterschiedlich sein, aber jeder von uns besteht aus Genen, ist seiner eigenen und vielen fremden Kulturen ausgesetzt und hat mal schlechte und mal gute Laune.

Einen Überblick zu diesem Durcheinander an sich beeinflussenden Faktoren gibt Veiths »analytisches Rahmenkonzept der Sozialisation«, das man sich bildlich vorstellen kann wie in der Abbildung dargestellt.

Veiths »analytisches Rahmenkonzept der Sozialisation«

Dabei sind oben Beispiele für »Umweltfaktoren« dargestellt, die die verschiedenen Strukturen der Gesellschaft verkörpern und dadurch Einfluss auf jeden Einzelnen von uns nehmen. Etwa die Medien und ihre Kultur, die durch Informationen und die Art der Übermittlung unsere Welt oft erst greifbar machen. Oder die ganz normale Alltagswelt, die uns vor mehr oder weniger schwierige Aufgaben stellt, vom Brötchenkaufen bis zur Bundestagswahl. Auch Organisationen wie das Unternehmen, für das Sie arbeiten, die Marke, deren Auto Sie fahren, und die Kirche, deren Mitglied Sie sind – oder eben gerade nicht. Nicht zuletzt unsere Bekannten, die Freundeskreise und Partner sowie natürlich unsere Familie.

Gut, jetzt haben Sie schon mal eine ungefähre Vorstellung davon erhalten, wie unsere Persönlichkeit entsteht – vom ersten Kontakt unserer ersten beiden Zellen über all die gutgemeinten Ratschläge unserer Eltern bis hin zum ersten Kuss.

Aber wie steht es in diesem Zusammenhang um die Entwicklung unserer Persönlichkeit? Bleiben wir uns treu, oder streben wir nach neuen Abenteuern und Veränderungen?

Ein Beispiel: Wenn Sie sich selbst in diesem Moment im Rahmen Ihrer aktuellen Liebesbeziehung betrachten – sind Sie heute wirklich noch der- beziehungsweise dieselbe wie zum Zeitpunkt des ersten Kusses?

Nehmen Sie sich einen Augenblick und halten Sie fest, wie das damals denn war: beim ersten Kuss mit Ihrem oder Ihrer Liebsten? Wo und wie haben Sie gewohnt, was war Ihr Lieblingshobby, -essen, -restaurant, Ihre Lieblingsmusik und so weiter? Zeichnen Sie ein Bild von damals aus der Erinnerung, indem Sie viele Details aus dieser Lebensphase aufschreiben. Welchen Film hatten Sie seinerzeit als letzten im Kino gesehen, welchem Politiker bei der letzten Wahl Ihre Stimme gegeben und welcher Käsesorte jede Woche aufs Neue die Treue im Supermarkt erwiesen?

Und für alle, die gerade nicht in einer »Zweierkiste« stecken: Sie brauchen sich nicht herauszunehmen und triumphierend in sich hineinzulächeln, dass wenigstens Sie unverfälscht geblieben sind. Nehmen Sie einfach Ihre letzte Beziehung und beschreiben Sie sich selbst zum Beginn dieser Liebschaft.

Sollten Sie bisher streng zölibatär gelebt haben, dann beginnen Sie einfach wieder am Anfang des letzten Abschnitts und betrachten Sie sich im Spiegel der anderen Einflussfaktoren.

Nach dieser Beschreibung Ihrer Vergangenheit zurück zur Frage: Sind Sie heute noch der- beziehungsweise dieselbe wie damals?

Hand auf Herz: Ich glaube, ich brauche mich nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen, um diese Frage stellvertretend für Sie zu verneinen.

Im Prozess der Sozialisation findet sich zwischen der Ebene der Umweltfaktoren und der des Individuums der Bereich der Interaktion zwischen diesen beiden Beteiligten. Denn nicht nur wir werden von unserer Umwelt beeinflusst und gestaltet, sondern auch umgekehrt. Ihr bester Freund wird nur durch die Geheimnisse, die Sie mit ihm teilen, zu Ihrem besten Freund. Und wenn wir alle keine Lust mehr auf sich wiederholende Casting-Shows haben, dann lassen sich vielleicht auch die Kreativen der Medienbranche wieder etwas Neues einfallen.

Dieser Interaktionsraum beschreibt, wie der Einzelne und seine Umgebung die gegenseitige Beeinflussung gestalten. Denn auch das macht jeder von uns anders – und nicht zuletzt jede Gesellschaft und Kultur.

Das Fundament in diesem Sozialisationsmodell stellt das Individuum als Gegenpart zur Gesellschaft dar. Also unter anderem Sie selbst als einzelner Leser dieser Zeilen mit all Ihren biologischen und genetischen Mitbringseln, die Ihnen fürs Leben mit auf den Weg gegeben worden sind. Mit den Ihnen eigenen Verhaltensweisen, die Sie als so »typisch Sie« erscheinen lassen, und den ganzen Erlebnissen, die Sie – und nur Sie – im Laufe des Lebens sammeln konnten. Dadurch entstand Ihre Persönlichkeit, die wiederum Ihr Verhalten und Ihr Erleben maßgeblich beeinflusst.

Ihnen ist nun also bewusster, dass Sie zwar Sie sind, das Ganze aber nicht nur an Ihnen liegt. Mit anderen Worten: Ihnen ist der Begriff der Sozialisation zumindest etwas näher gekommen, vielleicht sogar verständlicher geworden.

Als Nächstes geht es darum, den Prozess, den die Sozialisation darstellt, genauer zu betrachten. Denn schließlich ist die wechselseitige Beeinflussung von Individuum und Umwelt nichts Statisches, Einmaliges, sondern etwas sich Entwickelndes, stetig Veränderndes.

Wir Menschen sollen also »soziale Wesen« sein. Als solche wären wir auf den Erfahrungsaustausch mit unserer Umwelt...

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