Einführung und Übersicht
Warum spielen Deutungen in der analytischen Psychotherapie eine so besondere Rolle? Weil der Gegenstand der Psychoanalyse das interpretierende und Bedeutung setzende Subjekt ist. Seine seelischen Erkrankungen lassen sich nicht einfach aus der pathogenen Wirkung objektiver Lebensereignisse erklären, sondern sie werden nur dadurch verständlich, dass wir nachvollziehen, wie die werdende Persönlichkeit als Kind oder Jugendlicher ihre eigene, soziale Wirklichkeit erlebte und verarbeitete. Natürlich darf man die Wirkung tatsächlicher Einflüsse, denen ein junger Mensch unterliegt, nicht verleugnen. Aber abgesehen von sehr frühen, auch vorgeburtlichen Einflüssen und von traumatischen Erfahrungen ist auch das Kind niemals nur ein »unbeschriebenes Blatt«, in welches ein vielleicht ungünstiges Schicksal seine Eintragungen vornähme. Das Kind und erst recht der Heranwachsende wirkt von Anfang an als interpretierende Persönlichkeit mit, die ihre Welt deutet und schon dadurch mitgestaltet.
In der analytischen Psychotherapie suchen wir daher auch nicht die »objektiven« Ursachen für Fehlentwicklungen, sondern das potentiell handlungsfähige Subjekt, das auch in seinen Symptomen einen Sinn, z. B. eine unbewusste Absicht erkennen kann, das in der therapeutischen Situation seine unbewussten Arbeitsmodelle von Beziehungen zum Ausdruck bringt und das in der Beziehung zum Analytiker neue Wege des Erlebens und Handelns erprobt.
Auch wenn sich unsere Patienten selbst gern als passive Opfer schädlicher Einwirkungen sehen und nicht leicht für die Erkenntnis gewonnen werden können, dass sie ihre Entwicklungsgeschichte selbst mitgeschrieben haben, verfolgen wir mit ihnen doch das Ziel, dass sie Handlungsfreiheit (zurück)gewinnen, indem sie sich ihre unbewussten Motive und Absichten bewusst machen und indem sie erkennen, wie sehr sie ihre Welt interpretieren und gestalten.
Deutungen allein befördern allerdings nicht den therapeutischen Erfolg. Wir müssen unseren Patienten auch Zusammenhänge erklären und die Wege, die sie genommen haben und einschlagen werden, mit ihnen erkunden. Wir müssen sie auch ermutigen, ihnen unsere Wertschätzung zeigen, ihnen erlauben, dass sie uns subjektiv verwenden und sie zuweilen auch konfrontieren. Ob alle diese Interventionen wirksam sind, hängt aber weitgehend davon ab, wie wir – auch mit unseren Deutungen – die therapeutische Beziehung gestalten. Sie ist die »Bühne«, auf der unsere Patienten neue Beziehungserfahrungen wagen und erproben können. Davon soll dieses Buch handeln.
Die Kapitel des Buches habe ich in folgender Weise gegliedert: Die erste Vorlesung soll etwas Ordnung schaffen in der Vielfalt der Bedeutungen, mit denen Psychoanalytiker1 den Begriff der »Deutung« verwenden. Denn mit einer »Deutung« bezeichnen wir in einigen Fällen eine quasi-kausale Erklärung, in anderen eine intentionale Beschreibung und in wieder anderen eine Interpretation, also die Zuschreibung eines Sinngehaltes. Erklärungen, intentionale Beschreibungen und Interpretationen sind aber sehr unterschiedliche Wege des Erkenntnisgewinns, sie folgen unterschiedlichen Sucheinstellungen, geben Antworten auf sehr unterschiedliche Fragestellungen und verfolgen höchst ungleiche Absichten. All diese Unterschiede werden aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive erkennbar; deswegen ist dieses erste Kapitel trotz zahlreicher Praxisbeispiele eher theoretisch gehalten.
Die in der ersten Vorlesung charakterisierten Typen einer psychoanalytischen Deutung standen in der Geschichte der psychoanalytischen Behandlungstechnik nicht gleichwertig nebeneinander. Und sie wurden auch nicht zur gleichen Zeit entwickelt: Die Deutung als Erklärung war in der Frühzeit der Psychoanalyse sehr verbreitet. Intentionale Beschreibungen hingegen kamen erst auf, nachdem die psychoanalytische Behandlungssituation als »Zwei-Personen-Stück« verstanden worden war und überhaupt klar wurde, dass sich das Unbewusste nicht nur als – mehr oder weniger verzerrte – Anschauung der sozialen Welt zu erkennen gibt, sondern dadurch zur Wirkung kommt, dass das Subjekt mit seinen unbewussten Absichten in diese Welt hineinwirkt – in der psychoanalytischen Situation als »interaktioneller Anteil der Übertragung «2 überaus wirksam.
Die Deutung als Interpretation fehlte in der frühen Geschichte der Psychoanalyse, nämlich in der Zeit, als Freud noch seine erste Angsttheorie (»Die Verdrängung macht Angst«) verfolgte und an seiner »Trauma-Theorie« festhielt. Dieser zufolge waren es biologische Vorgänge, welche die Symptome, also etwa eine Angstneurose hervorbrachten, und die Therapie sollte die scheinbar kausalen Wirkungen pathogener Erlebnisse rückgängig machen. Erst nachdem Freud etwa um 1897 herum seine biologische Krankheitslehre in eine psychologische verwandelte, indem er das interpretierende und bewertende Subjekt einsetzte, lag es nahe, dieses Subjekt, das in seiner eigenen, gedeuteten Welt lebt, ins Zentrum der psychoanalytischen Behandlung zu rücken.
Obgleich die drei Deutungstypen nicht genau nacheinander in der Geschichte der psychoanalytischen Behandlungsmethodik auftraten, habe ich mich entschieden, ihre Darstellung historisch und nicht nach einer wissenschaftstheoretisch begründeten Systematik (wie in der ersten Vorlesung) anzuordnen, dies wird in der zweiten und dritten Vorlesung geschehen. Diese an der Historie orientierte Darstellung bietet den Vorteil, den Zusammenhang zwischen der Deutungstechnik und den Konzepten der psychoanalytischen Behandlung wie dem der freien Assoziation, der gleichschwebenden Aufmerksamkeit, der Abstinenz, der Übertragung und Gegenübertragung darzustellen. Beispielsweise setzt eine Deutung als intentionale Beschreibung, die dem Patienten verdeutlichen soll, wie er seinen Analytiker verwendet, voraus, dass dieser seine Gegenübertragung nicht als Störung, die »niederzuhalten« wäre, auffasst, sondern als eine sinnfällige Antwort versteht, die den interaktionellen Aspekt der Übertragung überhaupt erst zu erfassen ermöglicht.
Die zweite Vorlesung erzählt die Entwicklung des Deutungsbegriffs in der Frühzeit der Psychoanalyse, der Zeit der Traumatheorie und der ersten Angsttheorie. Im Kontext dieser Theorien waren Deutungen mehr oder weniger konfrontative Erklärungen, wie ich dies am Fall der »Katharina« darstellen werde. Freuds Intervention im Gespräch mit Katharina (»wenn Sie’s nicht wissen, will ich es Ihnen sagen…«3) ist ja keine Deutung, ja, nicht einmal eine Erklärung, sondern eine Suggestion, die den Schleier der Amnesie auch tatsächlich aufhebt. Es ist gut zu erkennen, wie diese frühen Interventionsform noch in der Tradition der hypnotischen und kathartischen Technik steht, mit der Freud seine ersten Patientinnen – es waren überwiegend Frauen – behandelte.
Dieser frühe Abschnitt aus der Entwicklung psychoanalytischer Deutungstechnik ist nicht nur aus historischen Gründen interessant. Denn die damals üblichen Deutungen als Erklärungen sind ja nicht verschwunden, sondern heute noch ein Teil der angewandten Methodik. Rekonstruktive Deutungen zum Beispiel sind, genau betrachtet, Erklärungen über einen mehr oder weniger zwingenden Zusammenhang zwischen frühen Erfahrungen (oder Bewertungen) und heutigem Erleben und Handeln.
Die dritte Vorlesung berichtet über die Veränderungen in der Deutungstechnik, als Freud schon zum Ende des 19. Jahrhunderts seine biologische Theorie seelischer Erkrankungen in eine psychologische verwandelt hatte. Damit erschien das bedeutungssetzende Subjekt, das nicht mehr auf innere oder äußere Reize reagieren musste, sondern das seine Welt interpretiert und bewertet. Um einen Menschen zu verstehen, genügt es seither nicht mehr, all die objektiven Einflüsse aufzuzählen, denen er unterlag, sondern wir müssen seine innere Welt teilen, nachvollziehen, wie er erlebt hat, was ihm schon in frühen Jahren »objektiv« widerfuhr.
Das mag heute wie eine Banalität erscheinen, aber wir müssen uns doch immer wieder fragen, wie weit wir zum Beispiel bei der Erhebung einer Anamnese versuchen, uns auf objektive Daten zu stützen, oder immer schon zu wissen glauben, wie der Patient von heute, das Kind von damals, seine Lebensumstände gedeutet hat.
Dazu ein Beispiel: Ich habe vor Jahren einen männlichen Patienten behandelt, dessen Vater bei Kriegsende zunächst als vermisst galt, dann aber, im Jahre 1948, der Patient war gerade acht Jahre alt, vor der Türe stand, unsicher, verlegen, aber dann doch mit dem Anspruch auf Achtung und Respekt. Mein Patient, ein Einzelkind, erzählte im Laufe der analytischen Behandlung diese Geschichte in sehr unterschiedlichen Versionen, zwei sehr gegensätzliche will ich hier wiedergeben. Einmal berichtete der Patient, dass der Vater sich sehr aggressiv zwischen ihn und seine Mutter gedrängt...