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Die Entwicklung von Lese- und Schreibfähigkeiten bei Grundschulkindern - geschlechtsspezifische Unterschiede

geschlechtsspezifische Unterschiede

AutorAnne Kathrin Göhmann
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2005
Seitenanzahl123 Seiten
ISBN9783638345897
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2004 im Fachbereich Deutsch - Pädagogik, Didaktik, Sprachwissenschaft, Note: 1,3, Universität zu Köln (Seminar für Deutsche Sprache und ihre Didaktik), 136 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Lesen und Schreiben stellen auf den verschiedenen Ebenen, sowohl beim Umgang mit der Schrift - dem Worterkennen bzw. dem Rechtschreiben - wie auf der Textebene, unterschiedliche Zugangsweisen im Gebrauch und in der Auseinandersetzung mit schriftlicher Kommunikation dar. Diese unterschiedlichen Zugangsweisen können sich ergänzen und gegenseitig beeinflussen, wobei sich der jeweilige Beitrag des Lesens bzw. Schreibens mit dem Entwicklungsstand des Lernenden verändert. Auf die außerordentliche Wichtigkeit der Lese- und Schreibfähigkeit wird unter anderem in den Richtlinien und Lehrplänen für die Grundschule zur Erprobung in Nordrhein-Westfalen hingewiesen: 'Die schriftsprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Lesens und Schreibens bilden die Grundlage für jedes weitere Lernen in der Grundschule und darüber hinaus.' (Ministerium 2003, S. 29) Dass die Leistungen der Mädchen in diesen Fähigkeiten und Fertigkeiten denen der Jungen überlegen sind, ist nicht erst seit PISA und IGLU bekannt. Seit den 1990er Jahren ist - besonders in der Leseforschung - auf diesen Befund hingewiesen worden. In der vorliegenden Arbeit werde ich mich mit dem geschlechtsspezifisch differenziellen Lese- und Schreibverhalten von Mädchen und Jungen auseinandersetzen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die schulische Förderung herausarbeiten. Um einen Überblick über die Unterschiede in den Lese- und Schreibfähigkeiten zwischen den Geschlechtern zu geben, werde ich zunächst kurz die Ergebnisse verschiedener empirischer Untersuchungen darstellen und der Frage nach dem Einfluss und der Interventionsnotwendigkeit der Schule nachgehen (vgl. 2). Es muss bereits an dieser Stelle deutlich darauf hingewiesen werden, dass die Zugehörigkeit zu einer Geschlechtergruppe keine Auskunft über das Niveau der Lese- oder Schreibkompetenz geben kann. Wenn im Folgenden von den Interessen und Leistungen 'der Jungen' und 'der Mädchen' die Rede ist, beziehe ich mich auf Ergebnisse von Untersuchungen, die statistisch und 4 tendenziell stimmen, die aber nicht bedeuten, dass die Daten auf jeden Jungen und jedes Mädchen automatisch zuträfen. Ebenso wie Jungen sehr kompetente Leser und Schreiber sein können, finden sich unter den Mädchen besonders leistungsschwache.

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Leseprobe

2. Problematisierung der geschlechtsspezifischen


Unterschiede im Schriftspracherwerb


Bereits zu Schulbeginn können häufiger Schulanfängerinnen als Schulanfänger komplexere schriftsprachliche Leistungen wie das Aufschreiben von Wörtern erbringen und auch in der Gruppe der Frühleser dominiert die Anzahl der Mädchen (vgl. Richter 1996, S. 98). Bemerkenswert ist allerdings, dass innerhalb der Gruppe der frühlesenden Kinder die Jungen in allen untersuchten Variablen - Anzahl der gelesenen Texte, Sinnverständnis, Lesegenauigkeit und besonders in der Lesegeschwindigkeit - bessere Leistungen als die Mädchen erbrachten. Der Grund für diese qualitativen Unterschiede könnte in der Lesemotivation liegen: Während mehr Mädchen als Jungen durch Nachahmung älterer Geschwister vor der Einschulung Lesen lernen, kommen Jungen häufig durch Eigeninitiative zum Lesen. Dieses interessengeleitete

Lesenlernen könnte zu besseren Leseleistungen als das Imitationslernen führen (vgl. Neuhaus-Siemon 1994, S. 69). 1

In anderen Vorläuferfertigkeiten für den Schriftspracherwerb unterscheiden sich die Geschlechter zu Schulbeginn jedoch nicht. Am Anfang der ersten Klasse scheinen die Jungen den Einstieg in den Schriftspracherwerb ebenso wie die Mädchen erfolgreich zu bewältigen. Was die Leseleistungen betrifft, zeigt sich spätestens aber am Ende der zweiten Klasse der Vorsprung der Mädchen. Wie sich auch durch PISA gezeigt hat, schaffen es die Jungen bis zum Ende der Sekundarstufe I nicht, den Rückstand aufzuholen. Im Gegenteil, während bei der internationalen Vergleichsstudie für die Grundschule IGLU 2001 die deutschen Jungen zwar signifikant aber in den Mittelwerten nicht gravierend hinter ihren Klassenkameradinnen zurücklagen (vgl. Bos et al. 2004, S. 71), ist der Unterschied zwischen den durch PISA getesteten 15- jährigen Schülerinnen und Schülern beträchtlich größer, hier entspricht der Leistungsvorsprung etwa einer halben Kompetenzstufe (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001, S. 253).

Auch wenn deutsche Schüler und Schülerinnen der Grundschule besser als die der weiterführenden Schulen abgeschnitten haben, ist eine Verbesserung der Förderung und Qualifizierung im Bereich der vorschulischen und grundschulischen Bildung eine zentrale bildungspolitische Aufgabe. Die Institution Grundschule ist die einzige schulische Einrichtung in Deutschland, die unabhängig von vorhergehenden Leistungen und sozialer Herkunft die Förderung aller Schülerinnen und Schüler zur Aufgabe hat. Nicht befriedigend gelöste Probleme auf der Grundschulebene lassen sich in den weiterführenden Schulen nicht mehr kompensieren, sie spitzen sich vielmehr zu, wie durch die PISA-Ergebnisse gezeigt wurde (vgl. Bos et al. 2003, S. 299f.). Das von Jungen und Mädchen am Ende der vierten Klasse erreichte Leistungsniveau ist von zentraler Bedeutung für die weitere Schullaufbahn. Besonders Kinder, die schon in der Grundschule zur „Risikogruppe“ gezählt werden können, werden im weiteren Verlauf ihrer Schulzeit aller Wahrscheinlichkeit nach erhebliche Schwierigkeiten haben und auch am Ende der Sekundarstufe I zur unteren

Leistungsgruppe gehören. Im Zusammenhang mit den Lese- und Schreibfähigkeiten betrifft dies Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten in besonderem Maße; bei Jungen werden diesen Schwierigkeiten weitaus häufiger diagnostiziert als bei Mädchen. Positiv hervorzuheben ist, dass im internationalen Vergleich zwischen den deutschen Mädchen und Jungen, die die Grundschule besuchen, das Ausmaß der Unterschiede in Bezug auf das Leseverständnis geringer ist als in den meisten anderen getesteten Ländern (vgl. ebd. S. 114).

Aber auch hier sind die Leistungen beim Lesen literarischer Texte bei den Mädchen signifikant höher; die Differenz beim Lesen von Informationstexten fällt dagegen recht gering zugunsten der Mädchen aus (vgl. ebd.). Innerhalb der Leseleistungen unterscheiden sich die Geschlechter besonders in Bezug auf die Lesequantität und -intensität, Lesestoffe und Leseweisen, Lesefreude und Leseneigung erheblich (vgl. Eggert/Garbe ²2003). Mädchen lesen mehr und haben andere Lesepräferenzen als Jungen. Während sich männliche Leser eher für sachbezogene Informationen interessieren, bevorzugen Mädchen das identifikatorische Lesen fiktionaler Geschichten (vgl. Hurrelmann 1994, S. 25). Von besonderem Lektüreinteresse sind für Jungen außerdem die reinen Spannungsgenres und Comics (vgl. Bischof / Heidtmann 2002b, S. 27f.). Grundschüler rezipieren Comics insgesamt zeitaufwändiger als Bücher (vgl. ebd.).

Die Unterschiede beschränken sich jedoch nicht auf die Nutzung von Printmedien, sondern finden sich auch im Gebrauch anderer Medien (vgl. Vorderer / Klimmt 2002, S. 215). In der Nutzung des Fernsehers setzen sich die auch für das Lesen geltenden Unterschiede fort: Frauen und auch Mädchen bevorzugen Spiel- und Liebesfilme, Männer und Jungen interessieren sich mehr für actiongeladene Abenteuerfilme oder informierende Magazinsendungen. Die Unterhaltungsfunktion der Medien ist für beide Geschlechter bedeutsam; darüber hinaus scheint jedoch für das männliche Geschlecht die Information und für das weibliche die Möglichkeit zum sozial-emotionalen Miterleben eine bevorzugte Funktion zu sein.

Ein Vergleich der Rechtschreibleistungen von Grundschülern und Grundschülerinnen zeigt, dass auch in diesem Bereich die Mädchen ihre

Altersgenossen während der ersten zwei Jahre überholen. Sigrun Richter hat mehrere Untersuchungen zu Geschlechterdifferenzen in der Rechtschreibleistung von Kindern zusammengestellt und überprüft, welchen Verlauf diese in der Schulzeit nehmen. Sie kam zu dem Ergebnis, dass alle Studien zwei Trends bestätigen:

1. Die Mädchen sind den Jungen von der zweiten bis zur neunten Klasse, welche die letzte untersuchte Klasse war, bezüglich ihrer Rechtschreibung signifikant überlegen. 2

In Bezug auf die freie Textproduktion im Anschluss an vorhergehende Leseaktivität konnte Bertschi-Kaufmann im Zuge eines Projektes zu den literalen Aktivitäten von Primarschulkindern konstante geschlechtsspezifische Unterschiede feststellen: Die Schreibaktivität innerhalb des offenen Rahmens eines Lesetagebuchs ist bei Mädchen grundsätzlich höher (vgl. Bertschi-

Kaufmann 2000, S. 257). Auch die Bereitschaft Gelesenes oder Teile hiervon in eigenen narrativen Texten zu schildern und dabei detailliert vorzugehen ist bei Mädchen generell deutlich größer ausgeprägt. Jungen drücken sich weniger häufig erzählend aus und in den meisten Fällen auch weniger ausführlich (vgl. ebd.).

Jungen liegen zwar insgesamt und in den Extremgruppen hinter den Rechtschreibleistungen der Mädchen zurück, berücksichtigt man aber die Schreibleistung bei Wörtern, die aus ihrer Erfahrungswelt stammen, zeigt sich, dass sie diese Wörter häufiger als andere, in einzelnen Fällen sogar häufiger als die sonst überlegenen Mädchen richtig schreiben. Die Hypothese, dass subjektive geschlechterspezifische Bedeutung und Wort(recht)schreibung in einem Zusammenhang stehen, fanden May, Brügelmann und Richter in mehreren Untersuchungen bestätigt (May/Brügelmann/Richter 1993, May 1994). Dieser Einfluss subjektiver Bedeutsamkeit von Wörtern trifft auf beide Geschlechter zu. Im Vergleich geschlechtstypischer Wörter konstatiert May, dass Jungen besser Jungenwörter und Mädchen besser Mädchenwörter schreiben (May 1994, S. 112). IGLU bestätigte diese Ergebnisse insofern, dass hier die Jungen bei Wörtern aus dem technischen Umkreis (ölig, informieren, sinkt, drehen) und mit Bezug zu Abenteuern (Muskeln, Strapazen, spuken) nicht signifikant mehr Fehler machten als die Mädchen, aber auch nicht umgekehrt. Nur ein Wort wurde von den IGLU getesteten Schülern häufiger richtig als von den Schülerinnen geschrieben: ‚Benzintanks’ (vgl. Bos et al. 2003, S. 249).

Als Konsequenz dieser Beobachtung stellt Richter folgende Untersuchungshypothese auf: Die insgesamt geringeren schriftsprachlichen Leistungen der Jungen sind auf eine insgesamt geringere Berücksichtigung jungenspezifischer Erfahrungen und Interessen im Schriftsprachunterricht zurückzuführen. (Richter 1996, S. 241) Diese These wird im letzten Teil der Arbeit aufgegriffen werden.

Ebenso wie Jungen für sie besonders bedeutsame Wörter wesentlich häufiger richtig schreiben, selbst wenn es sich um schwierige Wörter handelt, gilt auch für das Lesen, dass ein Zusammenhang zwischen Leistung und Interesse

besteht. So fand Lehmann heraus, dass Jungen beim Lesen von Sach- und Gebrauchstexten spezielle Kompetenzen entwickeln. Auch in diesem Zusammenhang wurde die Hypothese aufgeworfen, dass die Unterlegenheit der Jungen durch deren zu geringe Berücksichtigung im Deutschunterricht zustande komme.

Tatsächlich fand Lehmann bei der Analyse der IEA-Studie heraus, dass die Überlegenheit der Mädchen auf die Leseleistung bei narrativen Texten beschränkt sei, die den Großteil sowohl des Deutschunterrichtes als auch der Lesetests ausmachen. Auch IGLU belegte diese Ergebnisse: Die Jungen erzielten beim Lesen von Informationstexten bessere Ergebnisse als beim Lesen literarischer Texte (vgl. Bos et al. 2003, S. 114).

Insgesamt berichten die Studien durchgehend über Verschiebungen in den...

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