Angst und Angststörungen
Was ist Angst?
Wahrscheinlich hat jeder, der eine Psychotherapie aufgesucht hat, dort zu Beginn die Bemerkung gehört, dass Angst etwas Normales sei, für das Überleben wichtig und im Prinzip der Freund des Menschen.
Na, und das ist ja wirklich auch einzusehen. Was wären wir ohne Angst? Wir würden uns von Elefanten zertrampeln lassen, würden von Löwen gefressen werden, weil wir versuchen, sie zu streicheln und würden auch sonst allerlei unsinnige Risiken eingehen.
Eine Art, die keine Angst kennt, sollte besser keine natürlichen Feinde haben.
Und vielleicht verhindern Angst vor Strafe und Angst vor Ablehnung auch, dass wir Menschen uns noch mehr schlimme Dinge antun, als dies - leider - ohnehin schon der Fall ist.
Wenn wir gemeinsam die Natur von Angststörungen und Wege zu ihrer Therapie verstehen wollen, ist es hilfreich zu wissen, wie Angst biologisch und kulturell funktioniert.
In diesem Kapitel wird es noch nicht um pathologische Prozesse gehen, sondern vielmehr um Angst unter normalen, sozusagen gesunden Bedingungen.
Zu Beginn wieder ein kurzer Ausflug ins Gehirn:
Wir haben in unserem Gehirn einen Teil, der für die Erregung von Angst eine wichtige Rolle spielt: den Mandelkern, Amygdala genannt. Wie beim Hippocampus gibt es zwei davon.
Die Amygdala ist unter anderem Teil unseres emotionalen Gedächtnisses. Sie sorgt für die emotionale Bewertung und Wiedererkennung von Situationen. Wenn also der Geruch eines bestimmten Parfüms an eine bestimmte Person erinnert - oder gar an etwas, was Sie mit dieser Person erlebt haben, dann wissen Sie jetzt, dass die Amygdala gearbeitet hat. Die Wiedererkennung von Gerüchen geht sogar direkt am Thalamus vorbei - das heißt: wir können nicht entscheiden, ob ein Geruch in unsere Aufmerksamkeit gelangt oder nicht. Gerüche erregen - wenn sie mit einer bekannten Situation verknüpft sind - immer unsere Gefühle.
Aber die emotionale Wiedererkennung von Situationen kennen Sie vielleicht noch aus anderen Zusammenhängen. Vielleicht waren Sie einmal unglücklich verliebt und haben bei Personen, deren Äußeres eine geringfügige Ähnlichkeit mit der geliebten Person aufweist, eine emotionale Erregung verspürt. Vielleicht sehen Sie eine ähnliche Frisur, ähnliche Haarfarbe, eine ähnliche Jacke, Ähnlichkeiten in Gang oder Figur, oder, oder, oder… Danach haben Sie bei genauerem Hinsehen gemerkt, dass es nicht die betreffende Person ist und euch langsam wieder beruhigt.
Die Amygdala verarbeitet vergröberte Wahrnehmungen, die sie unverarbeitet vom Thalamus bekommt. Eine sehr oberflächliche Ähnlichkeit genügt, um die Amygdala zu aktivieren.
Das ist noch etwas Anderes als die Fuzzy-Logik, die ungefähren Bilder, die der visuelle Kortex speichert:
Vielleicht hat der Eine oder Andere von Ihnen Angst vor Wespen. Und möglicherweise haben Sie dann auch bei der Wahrnehmung eines anderen Tieres einen Schreck bekommen, obwohl es völlig harmlos ist und gar nicht stechen kann. Die Schwebefliege ist ähnlich gefärbt wie die Wespe, sieht aber ansonsten anders aus. Das werden Sie etwas später auch feststellen, denn der Thalamus hat auch ein Signal an den visuellen Kortex gesendet, wo es genauer analysiert wird. Der visuelle Kortex, oder Sehrinde, ist der Ort, in dem wir das verarbeiten und verstehen was wir sehen. Auch wenn es dort kein präzises Abbild der Wespe gibt, sondern auch nur ein vereinfachtes, ungefähres, so ist dieses doch genau genug, um eine Wespe von einer Schwebefliege zu unterscheiden. Das so abgeglichene Bild geht an die Amygdala zurück. Die natürliche Regulierung der Gefühle beginnt, und der Organismus beruhigt sich wieder. Trotzdem haben Sie zunächst einen Schreck bekommen…
Da die Amygdala auch Wahrnehmungen auf mögliche Bedrohungen hin analysiert, wäre es ein unmöglicher Luxus, sich einige Sekunden lang zu überzeugen, ob die Schlange, die ich sehe, vielleicht ein Seil sein könnte. In gefährlichen Situationen müssen wir sofort und ohne Nachdenken reagieren können: das ist für unser Überleben entscheidend.
Aber wie Alles, hat auch diese Medaille zwei Seiten. Gerade dieses grobe Muster der Wiedererkennung kann dafür sorgen, dass wir in Situationen ängstlich reagieren, die nicht bedrohlich sind - nur auf Grund bestimmter Ähnlichkeiten.
Als ich meine Ausbildung zum Heilpraktiker für Psychotherapie begann, erzählte unser Dozent uns eine sehr interessante Geschichte. Ein Patient von ihm bekam immer Panikattacken, wenn er ein rotes Licht sah. Das Standby-Licht einer Stereoanlage reichte aus, um ihn in Panik zu versetzen. Während der Therapie fanden sie unter Hypnose die auslösende Situation heraus: der Patient war vor Jahren in einen Auffahrunfall verwickelt gewesen. Er hatte vor einer roten Ampel gestanden, als ein anderes Auto auffuhr. Der Krach und die Erschütterung haben ihn sehr erschreckt.
Seine Amygdala hat sich nicht mit einer komplexen Analyse der Situation aufgehalten: im Moment des Unfalles hatte er auf das rote Licht der Ampel geblickt - und so war das rote Licht zu einem Zeichen für Lebensgefahr geworden. Da ihm der Anlass für seine ängstliche Reaktion nicht klar gewesen war, konnte er auch nicht durch sein Bewusstsein Entwarnung geben, dass dieses rote Licht keine Gefahr anmeldete - so wie unser Bewusstsein nach genauerer Betrachtung der Schwebefliege die Entwarnung gibt: keine Wespe.
Die Angst mobilisiert all unsere körperlichen Ressourcen.
Ich erinnere mich an ein Erlebnis zu Beginn dessen, was als „friedliche Revolution in der DDR“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist. In Leipzig, am 7.10. 1989 hatten sich an der Nikolaikirche die üblichen Protestierenden versammelt, verstärkt durch Sympathisanten und Neugierige. Da dieser Tag ein Nationalfeiertag war, reagierte die Staatsgewalt besonders empfindlich und hatte reichlich Polizeikräfte eingesetzt, die die Demonstranten immer wieder auseinander trieben und mehrere hundert Meter jagten. Ich selbst bin ein unsportlicher Mensch, der zum Schwitzen lieber gemütlich in der Sauna sitzt. Trotzdem bin ich an diesem Tag mehrfach geflohen und nicht gefangen worden. Die Angst hatte mir die sprichwörtlichen Flügel verliehen und meinen untrainierten Körper zu sportlichen Höchstleistungen befähigt.
Die Angst holt das Letzte aus unserem Körper heraus und hilft uns beim Überleben. In solchen, wirklich gefährlichen, Fällen ist die Angst wirklich unser Freund.
Die Amygdala hat, um das zu erreichen, eine Menge Verbindungen, welche die Angstreize an verschiedene Bereiche weiterleiten.
die „Produktionsstätten“ verschiedener anregender Neurotransmitter, die die Wachheit und die Aufmerksamkeit erhöhen.
an den Hypothalamus, der die Hypophyse zur Produktion des „Stresshormons“ ACTH anregt. Dadurch steigt unter anderem auch die Produktion von Cortisol.
der „Sympathikus“ und damit die Kampf-oder-Flucht-Reaktion wird angeregt.
der Angstimpuls wird zur formatio reticularis weitergeleitet, was zu einer Steigerung von Reflexen führt.
die Adrenalinproduktion wird durch den Sympathikus angeregt und durch das Cortisol gefördert.
Gut, das ist erst mal eine Menge technisches Zeug, mit dem Sie wahrscheinlich noch nicht so viel anfangen können. Ich hoffe, die folgenden Beispiele und Erläuterungen werden das ändern.
Wachheit, Aufmerksamkeit und Reflexe.
In einer bedrohlichen Situation funktionieren unsere Reflexe meist besser. Das ist unter anderem die Aufgabe der formatio reticularis. Diese hat verschiedene Aufgaben, wird aber auch als „Gehirnschrittmacher“ bezeichnet - salopp gesagt, bestimmt sie den Rhythmus, in dem unser Gehirn arbeitet. Daraus resultiert ein interessanter Effekt, den Sie vielleicht auch schon einmal erlebt haben:
Zeiterleben ist relativ. Je ruhiger wir innerlich sind, desto schneller verstreicht sie, warten wir ungeduldig auf ein wichtiges Ereignis, scheint sie zäh dahinzufließen. Unser innerer Takt gibt uns das Maß für das Verstreichen der Zeit. So kann eine Stunde sehr kurz oder unendlich lang erscheinen.
Ich hatte als Kind ein beeindruckendes Erlebnis - ich mag etwa 12 Jahre alt gewesen sein und kletterte mit einem Freund auf Felsen herum. So erreichten wir eine Stelle, die etwas abschüssig und mit Kies bedeckt war, auf dem ich ausrutschte. Im Moment des Schrecks schien sich alles um mich herum in Zeitlupe abzuspielen. Nur meine Gedanken hatten in meiner Wahrnehmung dasselbe Tempo, so dass ich genügend Zeit hatte zu überlegen, dass ich mich langsam und kontinuierlich bewegen sollte, da ich mich nur an einem einzigen, nicht gerade vertrauenerweckenden Vorsprung festhielt. Das half mir, lebendig und unverletzt die Situation zu bewältigen. Ich stelle mir heute vor, dass in diesem Moment die formatio reticularis aktiviert wurde und den Rhythmus meines Gehirnes erhöht hat, so dass ich schneller denken konnte. Da meine Umwelt aber im gleichen Tempo blieb, erlebte ich sie in Zeitlupe.
Gleichzeitig haben die ausgeschütteten Neurotransmitter dafür gesorgt, dass ich hellwach war und mich sehr scharf auf das Wesentliche konzentrieren konnte. Mein Leben und meine Gesundheit hingen an...