1. Berührung des Innersten im Menschen
Das Wertvollste, was sich in einem Menschenleben ereignet, ist die Erfahrung, das Buch, die Predigt, der Mensch, der Zufall, das Ereignis, die Notlage, der Schicksalsschlag, - das Etwas, das die Feder in des Menschen innerster Natur berührt, sodass die Pforte zu diesem großen innersten Innern aufspringt und seine verborgenen Hilfsquellen offenbar werden.
Selma Lagerlöf berichtet in ihrer Erzählung von der Reise des kleinen Nils Holgerson mit den Wildgänsen von einem Elch, der in enger Umzäunung aufgewachsen war. Seine eigene Kraft und das Leben im freien Walde kannte er nicht und war mit sich und seinem Dasein ganz zufrieden. Da verlockt ihn eines Nachts ein Hündchen, über das Gatter zu setzen, und zeigt ihm die Schönheit von Wald, Moor und Heide, und wie die Elche in der Freiheit leben. Noch denkt der Elch gar nicht daran, dass ein solches Leben auch für ihn sein könnte, und er kehrt zu seiner Umzäunung zurück. Aber als er nun davorsteht und diese Enge mit der ihm neu kund gewordenen Weite vergleicht, da schüttelt er sein Geweih, und ungesäumt ergreift er die Freiheit, die sich ihm bietet, und wird das, wozu die Natur ihn bestimmt hatte: ein starkes, stolzes und freies Tier im freien Walde. Er hatte sich und seine Bestimmung erkannt.
Ohne diesen nächtlichen Ausflug wäre vielleicht nie wach geworden, was in ihm schlief, und er hätte sein Leben in der Enge weitergeführt. Nichts war durch diesen Ausflug zu seiner Kraft hinzugefügt worden; nur das war erwacht, was schon in ihm gelegen hatte; er war sich nur seiner Kraft bewusst geworden; und dieser Kraft zu nützen, ein Leben in Freiheit zu führen, das war es, was er von nun an für sich begehrte.
Auch in jedem wahren Menschen steckt solch ein starker, stolzer und freier Riese; er muss nur geweckt werden, irgendetwas muss an unser tiefstes Innerstes rühren und die schlummernden Kräfte aufrütteln, auf die Übersteigbarkeit der Schranken, hinter denen wir uns seither zu leben begnügten, aufmerksam machen.
Wie der Elch, nachdem er einmal das Leben in Freiheit geschmeckt hatte und ein neues Kraftgefühl in ihm erwacht war, sein früheres Dasein in der engen Umzäunung nicht mehr ertragen hätte, so sind wir Menschen nicht mehr zufrieden, das Leben eines niederen irdischen Geschöpfes zu führen, sobald wir einmal erkannt haben, dass wir mehr als Menschen, dass wir göttlichen Geschlechts sind. Da schwellt uns eine neue Kraft, von der wir zuvor keine Ahnung gehabt hatten, und wir können nie mehr sein, wie zuvor, können uns nie mehr mit niedrig gesteckten Zielen, mit billigem Erfolg begnügen. Von da an werden wir immer nach Höherem streben; wir werden nach oben schauen und uns höher und immer höher gesteckten Zielen zuwenden.
Wer einmal erkannt hat, dass das Wirkliche und Wahre in ihm göttlichen Ursprungs, dass er unaufhörlich mit der Allmacht verbunden ist, der fühlt sein ganzes Wesen von göttlicher Kraft durchströmt und kann nie mehr an seiner eigenen Göttlichkeit und an den Möglichkeiten, die in ihm liegen, zweifeln. Nie mehr kann er schüchtern, schwach, zaudernd oder ängstlich sein. Ganz sicher fühlt er sich in seiner nahen Berührung, in seiner Lebensgemeinschaft mit dem Unendlichen. Die Kraft der Allmacht durchflutet ihn und hält ihn, und er weiß, dass sein irdisches Dasein von der Göttlichkeit geplant ist und unter ihrem Schutze steht.
Jede Entdeckung von neuen Gaben und Kräften in uns ist uns ein Antrieb zu neuem Streben, neuem Schaffen. Wer kennt nicht Beispiele, dass irgendein gewöhnlicher Angestellter, anscheinend ohne besonders hervorragende Fähigkeiten, in einem unerwarteten Vorrücken den Antrieb, den Sporn zu neuer Hoffnung auf künftigen Erfolg fand und seine Leistungen verdoppelte und verdreifachte, indem dadurch neue Hilfsquellen, neue und vorher ungeahnte Kräfte in ihm geweckt worden waren. Er war sich dessen, was in ihm ruhte, nur nicht bewusst gewesen, bis die Gelegenheit kam, die diese ungeahnten Hilfsquellen offenbarte und erschloss.
Die Erfahrung vieler Menschen, aus denen ein unendlich viel größerer Mann wurde, als sie je selbst geahnt hätten, sollte uns lehren, dass in jedem Menschen, wie erfolgreich er auch sein möge, doch immer noch riesige unentdeckte Möglichkeiten schlummern.
Der Mensch, der zu sein du fähig bist, nicht der Mensch, der du bist, das ist das Wichtigste für dich. Diesen ungeheuren Schatz ungenützt bis zum Grab mit dir zu schleppen, das kannst du dir nicht leisten. Als Geschäftsmann würde es dir nicht einfallen, ein großes Kapital in der Schublade liegen, es nicht arbeiten, nicht Zinsen tragen zu lassen. Machst du dir denn nicht klar, dass dies genau das ist, was du mit dir selbst tust? Du trägst einen Schatz in dir, der viel kostbarer ist als Geld. „Warum lässt du dein Kapital nicht arbeiten?“ würdest du einen Geschäftsmann fragen, der sich quält in steter Sorge, er könne seinen Verpflichtungen nicht nachkommen, seine Schulden nicht bezahlen, während er doch ein großes Kapital ungenützt liegen hat. Einen solchen Mann würdest du für sehr töricht halten. Du bist noch viel törichter als er, denn du lässt ein unsterbliches Kapital ungenützt. Warum quälst du dich so armselig durchs Leben, wenn du doch solche Schätze zur Verfügung hast?
So mache doch den Versuch, den möglichen Menschen in dir herauszubringen. Du weißt recht wohl, dass du dies noch niemals bis zu den äußersten Grenzen getan hast. Warum nimmst du dir nicht vor, diesen riesigen Rückhalt, diese mächtige Hilfsquelle, diese gefesselten Fähigkeiten, die du noch niemals freigelassen hast, ins Spiel zu bringen? Du weißt, dass sie da sind, du fühlst sie unbewusst in dir. Du ahnst, deine innere Stimme, dein Ehrgeiz sagen dir, dass ein viel größerer Mensch in dir steckt, als du bisher je hast in Tätigkeit kommen lassen. Warum weckst du ihn nicht, warum rüttelst du ihn nicht auf? Warum steckst du die Lunte nicht an und lässt diese Riesenmine sprengen?
Das Auffinden der größeren Möglichkeiten im Menschen, des Ungenützten, des Unentdeckten, das ist die Aufgabe des „Neuen Denkens“. Vielleicht liegt dieses Ungenützte, Unentdeckte unter allerlei Schutt begraben – Zweifel, Mangel an Selbstvertrauen, Zaghaftigkeit, Furcht, Sorgen, Unsicherheit, Angst, Hass, Eifersucht, Rachsucht, Neid, Selbstsucht. Aber dies alles wird durch das richtige Denken ausgeglichen und unwirksam gemacht.
Wie oft ist es schon geschehen, dass Leute, die für unbrauchbar, für „Taugenichtse“, gehalten wurden, sich, wie mit einem Zauberstab berührt, plötzlich änderten und Männer von Gewicht, geistige Führer, Helfer der andern wurden. Irgendetwas hatte ihren Geist in raschere Schwingung versetzt und sie aus ihrem Nichts zu wertvollen Stützen der Gesellschaft gemacht. Irgendetwas hatte ihr Innerstes berührt, den Gott in ihnen geweckt, und sie wandten ihr Gesicht von der Finsternis ab zum Licht, von der Niedrigkeit zur Höhe, und vollbrachten Großes. Vielleicht war es ein erweckendes Buch, ein Vortrag oder ein Funke göttlicher Erleuchtung, der ihnen ihr eigenen wahres Selbst zeigte; aber was es auch gewesen sein mag, es führte sie auf den rechten Pfad, weg von der Hässlichkeit zur Schönheit, vom Unrechten zum Rechten, machte sie aus Feinden der menschlichen Gesellschaft zu deren Wohltätern.
Die Verwandlung von Saulus, dem Verfolger, in Paulus, den großen Apostel der Heiden, ist eines der gewaltigsten Beispiele von Selbstoffenbarung durch einen Funken göttlicher Erleuchtung.
Welche Umwälzung würde mit dem ganzen Menschengeschlecht vor sich gehen, wenn dieses Etwas, das Saulus auf seinem Weg nach Damaskus berührte, als ihn plötzlich „ein Licht vom Himmel umleuchtete“, alle Menschen, die irre gehen, ergriffe, alle die Nullen, die Untauglichen, die Gescheiterten, die Verzagten, die Verzweifelten, die am Wege Liegengebliebenen! Welch weiten Sprung dem Tausendjährigen Reich entgegen würde das Menschengeschlecht tun, wenn all diese toten Seelen erweckt und erneut werden könnten durch jenes geheimnisvolle Etwas, das den racheschnaubenden Verfolger der Christen zum größten Apostel des Christentums machte. Wenn dieser göttliche Funke, der ein neues Feuer im Menschenherzen entzündet, aus Tieren Menschen und gute Bürger aus Taugenichtsen, Trunkenbolden und Verbrechern macht, in uns allen entzündet werden könnte, dann verschwänden Elend und Verzweiflung mit einem Schlag von der Erde. Wer einmal ein Stück dieses verhüllten göttlichen Vorbildes in sich entdeckt und enthüllt hat, wem der göttliche Entwurf, den seine Natur erkennen lässt, ins richtige Licht gerückt ist, der wird weder ruhen noch rasten, bis das ganze Vorbild enthüllt ist; und enthüllen kann es niemand, der ein gemeines, niedriges, sinnliches Leben führt. Solch ein Leben wirft eine Decke auf die Hochgedanken und verdunkelt das geistige Sehen.
Die Welt hat das Recht, von denen, die, wenn auch nur teilweise, sich selbst gefunden haben, die sich ihrer Göttlichkeit bewusst geworden sind, zu erwarten, dass sie ihr Haupt erheben, dass sie ihr Werk etwas besser machen, dass es ihnen ein wenig ernster ist, dass sie nach höheren Gedanken leben, dass sie ein besseres Beispiel geben als die, die ihre verborgene Kraft noch nicht geschmeckt haben. Die Menschheit braucht Männer, die ihr Begeisterung einzuflößen vermögen, viel notwendiger als große Gesetzeskundige, Ärzte, Priester oder Staatsmänner, einen Sokrates, einen Goethe notwendiger als Eisenbahn- oder Stahlkönige und große Börsenbarone.
Wer einmal die Macht, die in ihm ruht, die riesigen Möglichkeiten, die noch nie in Wirksamkeit gesetzt wurden, über allen Zweifel hinaus erprobt hat, dem wäre es unmöglich, sich je wieder mit dem halben Leben, das er...