VON DER SHAKTI UND IHREM GEMAHL
Da Shakti-Kraft nie allein existiert, sondern stets die Kraft von Ihm ist, wenden wir uns dem göttlichen Paar etwas ausführlicher zu. Es wird von der indischen Mythologie in verschiedenen Erscheinungsformen erfasst, von denen Shiva-Shakti eine der bekanntesten ist.
Die große Liebe zwischen der Shakti und ihrem Gemahl Shiva ist ein berührendes Thema in der indischen Tradition. Sie übt eine magische Anziehungskraft aus und findet in unzähligen Liedern, Gedichten, Geschichten und Tänzen einen schier unerschöpflichen Ausdruck. Viele Menschen spüren, dass beim Hören der Legenden irgendwo im Inneren eine verborgene Saite mitzuschwingen beginnt, deren lautloser Klang nach und nach das gesamte Wesen erfasst und in Resonanz versetzt. Diese unmittelbare Ergriffenheit, die vielen Hindus so selbstverständlich ist, mag uns zunächst etwas rätselhaft erscheinen. Durch eine tiefer gehende Betrachtung können wir sie entschlüsseln und erkennen, dass die archetypische Liebe zwischen Shiva und Shakti nichts Geringeres als die Grundfesten und Entwicklungsmöglichkeiten unseres Daseins berührt.
Die beiden Ehen von Shiva und Shakti
Die außergewöhnliche Liebesbeziehung von Shiva und Shakti entzückt die Menschen so sehr, dass sie sich wünschen, auch im eigenen Dasein eine ähnliche Intensität zu erfahren − und manchmal daran erinnert werden müssen, dass jeder Blüte ein Wachstum vorangeht und dass hinter der Schönheit, die uns mit Leichtigkeit anzieht, oft ein langer und schmerzhafter Weg steht, der das, was uns so leuchtend ins Auge fällt, in einem herausfordernden Prozess geformt hat. Auch die Liebe der Shakti musste zuerst in diesem Feuer des Werdens reifen, bis sie zu einem geläuterten und gefestigten Gefäß geworden war, das die vollkommene Vereinigung mit der Unermesslichkeit ihres Geliebten ertragen konnte, ohne an ihrem Ausmaß zu zerbrechen.
Die Mythologie berichtet, dass Shaktis größte Herausforderung in dem unberechenbaren Wesen ihres Gemahls lag, der keine Ausgewogenheit kannte, sondern der, während die Zeit durch die Endlichkeit der Äonen schritt, mit unregelmäßiger Regelmäßigkeit zwischen den Extremen von Ekstase und Askese hin- und herpendelte. War seine Aufmerksamkeit nach außen gerichtet, wurde er Shaktis vollkommener Schönheit gewahr. Dann warf er sich in einem Ausbruch innigsten Verlangens schonungslos und selbstvergessen in ihre Weltenarme und verströmte sich im Spiel ihrer unzähligen Formen. Konzentrierte sich sein Gewahrsein wieder ausschließlich auf sich selbst, zog er sich in die eisige Einsamkeit einer weltvergessenen und entbehrungsreichen Versenkung zurück. Sein ganzes Sein wurde zu einer lodernden Flamme der Entsagung, die alles verzehrte, was ihm zu nahe kam. In dieser Phase stürzte Shakti dann unweigerlich in den brennenden Schmerz einer unerfüllten Liebessehnsucht und verlangte ihr eine unerschöpfliche Geduld ab. Das göttliche Paar brauchte zwei Ehen, um zwischen den beiden Polen von Shiva zu einem gemeinsamen Weg zu finden.
Mythologie: Die ekstatische Liebe von Shiva und Sati
Wie viele indische Legenden beginnt auch die Liebesgeschichte von Shiva und Shakti mit einem Problem. Ein mächtiger Dämon, der große Asura Taraka, hatte sich aus dem Schatten der Welt erhoben. Er bedrohte die Schöpfung, und getrieben von einem unersättlichen Verlangen nach Macht drang er von Jahr zu Jahr weiter in die Gefilde der Götter und Menschen ein. Nachdem die Gottheiten vergeblich versucht hatten, ihn zu vertreiben, wurde ihnen von einem weisen Seher prophezeit, dass nur ein Sohn von Shiva und Shakti als göttlicher Krieger die Kraft aufbringen würde, den grausamen Eindringling zu besiegen. Die Götter versammelten sich und beschlossen, darüber mit Shiva zu sprechen. Dieser befand sich allerdings gerade in einer seiner andauernden asketischen Phasen und war für ihre Worte nicht zugänglich. Wieder und wieder flehten die Götter ihn an, ihnen Gehör zu schenken. Nur widerwillig tauchte er schließlich aus seiner Versenkung auf und hörte sich ihr Anliegen an, aber machte ihnen wenig Hoffnung. „Wer will mich denn schon ehelichen?“, fragte er. „Nennt mir nur eine Frau im gesamten Universum, die mein Tapas, das verzehrende Feuer meiner Askese, aufnehmen kann, ohne daran zu verbrennen, und ich werde sie heiraten.“ Und er glitt wieder in die einsamen Regionen seiner meditativen Versenkung zurück.
Die Götter, die seinen Worten atemlos gelauscht hatten, lächelten weise und wandten sich umgehend an seine Shakti, die tatenlos in der formlosen Allweite ihres Gefährten ruhte. „Göttliche Mutter”, beteten sie, „öffne uns dein Herz in Mitgefühl.“ Sie erklärten ihr die bedrohliche Situation und berichteten von der Prophezeiung, die sie erhalten hatten. Dann erbaten sie von ihr, dass sie sich im kosmischen Geschehen in Gestalt einer Frau verkörpern möge, um gemeinsam mit Shiva den Sohn zu zeugen, dessen Kraft das Universum von dem Dämon Taraka befreien würde. In ihrem großen Mitgefühl für die Schöpfung stimmte die Shakti zu. „Vertraut mir“, sagte sie, „ich werde den Einsamen aus seiner hohen Transzendenz zurück in die Wonnen der Erde locken.“ Und kurz darauf wurde sie im Norden Indiens als Tochter des stolzen Königs Daksha geboren. Sie erhielt den Namen Sati und wuchs zu einer jungen Frau von außergewöhnlicher Schönheit heran. Als sie das heiratsfähige Alter erreichte, lud ihr Vater die Söhne der benachbarten Fürsten- und Königshäuser zu ihrem Swayamvara ein, der Feier zur zeremoniellen Wahl eines Bräutigams. Denn im alten Indien herrschte der Brauch, dass die Töchter des Kriegerstandes sich ihre Gatten selbst aus einer Versammlung geladener Bewerber auswählten. Viele Kriegersöhne hielten an diesem Tag um Satis Hand an, aber ihr Herz blieb stumm. Sie konnte sich für keinen der edlen Männer entscheiden und zog sich mitsamt der Blütengirlande, mit der sie den Auserwählten hatte bekränzen sollen, in ihren Palast zurück.
Als der Abend kam, schaute sie aus den hohen Fenstern ihres Gemachs und bemerkte vor dem Palast einen jungen Bettelmönch, der dem strengen Brauch seines Ordens entsprechend vollkommen unbekleidet war und seine Nahrung in einer Schädelschale erbettelte. Der junge Asket schaute zu ihr herauf und begann, nachdem sich ihre Blicke ineinander versenkt hatten, mit kraftvollen Schritten zu tanzen. Beim Anblick seiner vollendeten Bewegungen öffnete sich ihr Herz in einem Ansturm von Liebe und Verlangen. Einem plötzlichen Impuls folgend ergriff sie die Blütengirlande, die sich noch neben ihr auf dem Ruhelager befand, und lief eiligen Schrittes die Palasttreppen hinab zu dem jungen Mann, der allen weltlichen Freuden schon entsagt hatte. Als sie vor ihm stand, streckte sie ihm die Arme entgegen und streifte ihm, der sich ihr willig entgegenneigte, das kunstvoll gewundene Zeichen ihrer Entscheidung über das Haupt.
König Daksha, dem die Nachricht von der nicht standesgemäßen Wahl und dem ungebührlichen Verhalten seiner Tochter sofort zugetragen wurde, eilte auf der Stelle herbei und entschuldigte sich bei dem Bettelmönch für die unangemessene Handlungsweise seiner Tochter. Er bat ihn inständig, von dem Eheversprechen zurückzutreten, das nur als eine Laune des Augenblicks zu werten sei. Ein wandernder Asket, der jedem weltlichen Verlangen abgeschworen hatte und sich außerhalb aller gesellschaftlichen Normen und Pflichten bewege, wolle sich sicherlich nicht mit einer Frau belasten, meinte der König. Der Asket lächelte und sagte, dass er ganz im Gegenteil nicht daran denke, Sati von ihrer Wahl zu entbinden, und dass er auf einer Ehe mit ihr in jedem Fall bestünde. Schweren Herzens musste Daksha daraufhin der traditionellen Regel entsprechend die seltsame Wahl seiner Tochter akzeptieren und den Hochzeitstermin bestimmen.
Als der ungewöhnliche Bräutigam am festgelegten Tag auf einem mächtigen Stier reitend zum Eheritual erschien, wichen alle Anwesenden ehrfürchtig vor ihm zurück. Seine Haut war mit der Asche der Leichenverbrennungsstätten bestrichen, seine Hüften in ungegerbte Tierhäute gehüllt und der unverkennbare Geruch der Vergänglichkeit ging von ihm aus. Schlangen wanden sich um seine Arme und seinen Hals; auf seiner Kehle lag ein blauer Schimmer und um ihn herum tobte ein unbändiges Gefolge kleinwüchsiger, heulender Kreaturen. Seine hoch aufgetürmten, verfilzten Haarlocken zierte eine zarte silberne Mondsichel, und aus seinem geöffneten dritten Auge drang ein brennender Lichtstrahl. Es war Shiva, der große Herr der Wandlung, der in Gestalt des jungen Asketen gekommen war, um die Hand seiner Shakti einzufordern. Niemand wagte es, ihm die Ehe mit Sati zu verweigern, und so nahm die Zeremonie ihren Lauf.
Nachdem das Brautpaar, während Sati voranging, feierlichen Schrittes sieben Mal das Hochzeitsfeuer umrundet hatte und der heilige Bund der Ehe geknüpft war, hob Shiva seine Gemahlin auf...