Einleitung
Versailles 1919 – Fragen an einen Frieden
Der Ort war mit Bedacht gewählt. Im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles, dort, wo ein halbes Jahrhundert zuvor das Deutsche Reich ausgerufen worden war, mussten die deutschen Minister Hermann Müller und Johannes Bell am 28. Juni 1919 ihre Unterschrift unter den Friedensvertrag mit den Alliierten setzen. In den Augen der Deutschen war die Wahl des Ortes eine weitere Demütigung, von denen sie als Verlierer des Krieges seit dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 und dem Beginn der Friedenskonferenz am 18. Januar 1919 viele über sich hatten ergehen lassen müssen. Die Zeremonie in Versailles war eine hoch symbolische politische Inszenierung, bei der nichts dem Zufall überlassen und den Besiegten nichts erspart blieb. Vor den Augen der Welt – das Ereignis wurde sogar im Film festgehalten – wurde die deutsche Delegation als letzte in den Saal gerufen. Auf ihrem Weg zur Vertragsunterzeichnung musste sie eine Gruppe schwerbeschädigter französischer Soldaten passieren, »gueules cassées«, Gesichtsverletzte, die in einer der Fensternischen platziert waren und mit ihren entstellenden Verletzungen, ihren Schädelbinden und Gesichtsverbänden an die Opfer und das Leid mahnten, das nach Sühne verlangte.1 Georges Clemenceau, der französische Ministerpräsident, hatte die Versehrten stellvertretend für alle verwundeten und gefallenen französischen Soldaten – verletzte Soldaten anderer Länder waren in Versailles nicht zugegen – demonstrativ begrüßt, als er den Saal betrat, und ihnen für ihre Opferbereitschaft gedankt. Dann hatte er auf den Friedensvertrag verwiesen, den die deutschen Vertreter an diesem Tag unterschreiben sollten, und erklärt: »Frankreich, das ich heute repräsentiere, grüßt in Euch die Männer, die mit ihrem Blut für den Sieg bezahlt haben. Die heutige Zeremonie ist der Beginn einer Entschädigung. Das ist nicht alles, es wird noch mehr geben, das versichere ich Euch.«2
Kein Zweifel: Von den verstümmelten Soldaten sollte keine Botschaft des Friedens ausgehen. Sie sollten den Teilnehmern der Zeremonie die Schrecken des modernen technischen Krieges vor Augen führen und in der Stunde des Friedens den Gegner beschämen. Sie sollten das moralische Urteil bekräftigen, das in dem berühmten Artikel 231 des Versailler Vertrags gefällt wurde: Das Deutsche Reich trug die Schuld am Krieg und die Verantwortung für seine Opfer. Die Versehrten waren, wie die Pariser Zeitung Le Petit Journal in ihrem Bericht am folgenden Tag schrieb, »Zeugen des Krieges, Kläger und Richter«.3 Als solche wurden sie auf dem politischen Parkett präsentiert. Die »gueules cassées« standen für einen Frieden, der eine Illusion blieb, weil weder der Vertrag von Versailles noch die anderen Pariser Vorortverträge – die Verträge von St. Germain, Trianon, Neuilly und Sèvres – den »Krieg in den Köpfen« (Gerd Krumeich) beendeten.4 Die Entscheidungen der Pariser Friedenskonferenz von 1919/20 haben nicht nur den Hass und die Gegensätze des Krieges weiter geschürt, gerade zwischen Deutschen und Franzosen, sondern weit über Deutschland und Europa hinaus neues Konfliktpotential und neue Spannungen geschaffen, die bis tief ins 20. Jahrhundert hineinwirkten und zum Teil bis heute spürbar sind.
Die düstere Szene vom Juni 1919 verbindet die Geschichte des Krieges mit der Geschichte des Friedens, der ihm folgte. Sie offenbart, dass der Krieg mit der Pariser Konferenz und dem Friedensschluss von 1919/20 nicht zu Ende ging. Die fünf Friedensverträge von Paris prägten die Welt des 20. Jahrhunderts nicht weniger als der Große Krieg. Zur »Demobilmachung der Geister«, wie es der deutsche Historiker Friedrich Meinecke schon 1917 formulierte, führten sie nicht.5 Die Erfahrungen des Krieges, seine Globalität, das bis dahin nicht gekannte Ausmaß an Gewalthaftigkeit und mobilisierender Kraft wirkten auf den Frieden ein. Die Friedensschlüsse bauten die alten Spannungen nicht ab, sondern verlängerten sie in die Nachkriegszeit und schufen obendrein neue Konflikte. Die Welt kam nicht zur Ruhe.
Die europäischen Imperien, Großbritannien und Frankreich vor allem, die äußerlich betrachtet nach dem Ersten Weltkrieg den Zenit ihrer Macht und ihrer territorialen Ausdehnung erreichten, waren erschüttert. Von Indochina über Indien bis nach Irland nahmen Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung an Stärke zu und prallten auf den Selbstbehauptungswillen der imperialen Mächte, die sich an ihren globalen Machtstatus klammerten, um ihre Schwäche in Europa zu kompensieren. In Ostmittel- und Südosteuropa entluden sich die Auflösung des Zarenreichs, des Habsburgerreichs sowie des Osmanischen Reichs und die Nationalisierung der Staatenwelt zwischen Ostsee und Schwarzem Meer in einer Serie von Kriegen und Bürgerkriegen, denen nach dem Ende des Weltkriegs noch einmal Hunderttausende zum Opfer fielen. In vielen der neu gegründeten Staaten tobten ethnische Konflikte, Minderheiten wurden unterdrückt, Diskriminierung und Verfolgung ganzer Bevölkerungsgruppen mit zum Teil brutaler Gewalt waren die Folge. Politische Stabilität konnte so nicht entstehen. Revolutionen, Putsche und Putschversuche waren die Regel, nicht die Ausnahme. Autoritäre, zumeist radikalnationalistische Bewegungen unterhöhlten die jungen Demokratien. Von den nach 1918 gegründeten demokratischen Staaten überdauerte kaum einer.6
Das gilt auch für Deutschland, wo 1933 die Nationalsozialisten an die Macht gelangten. Der Versailler Vertrag sei den Deutschen in einer doppelten Gestalt begegnet, hat Karl Dietrich Bracher einmal geäußert: als reale Belastung und als »psychologische, propagandafähige Potenz«.7 Dass die Weimarer Republik sich nie stabilisieren konnte und in der Bevölkerung nicht die überlebensnotwendige Akzeptanz fand, lag nicht nur daran, dass der Versailler Vertrag mit seinen territorialen, ökonomischen und finanziellen Bestimmungen die junge Demokratie schwer belastete, sondern auch daran, dass die Ablehnung dieses Friedensvertrages wie eine Art zerstörerischer Minimalkonsens nahezu alle politischen Richtungen verband und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Kaiserreich, seinen Eliten und ihrer Verantwortung für den Ersten Weltkrieg verhinderte.
Die Empörung über das Friedensdiktat und insbesondere das Kriegsschuldverdikt, die »Kriegsschuldlüge«, wie es bald hieß, standen einer kritischen, einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit der Rolle Deutschlands und seiner politischen und militärischen Führung im Vorfeld und während des Weltkriegs im Wege. Ansätze dazu hatte es durchaus gegeben. So hatte der USPD-Politiker Karl Kautsky, der für den Rat der Volksbeauftragten als Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt tätig war, im Winter 1918/19 aus den deutschen Regierungsakten einen Bericht verfasst, der auf die Mitverantwortung der deutschen Reichsleitung für den Kriegsbeginn 1914 hinwies. Nach der Fertigstellung im Februar 1919 wurde Kautskys Ausarbeitung von der Reichsregierung zurückgehalten, weil man befürchtete, dadurch könne die deutsche Position in den Friedensverhandlungen geschwächt werden. Erst Monate nach Unterzeichnung des Versailler Vertrags erschien der Bericht, konnte aber angesichts der durch die Empörung über den Kriegsschuldartikel genährten Realitätsverweigerung keine Wirkung mehr entfalten.8
Das Ende der Weimarer Republik, der Aufstieg und die Machtübernahme der Nationalsozialisten und schließlich der Zweite Weltkrieg haben nicht allein in Deutschland den Blick auf den Versailler Vertrag und die Friedensschlüsse von 1919 bestimmt und die Versailler Ordnung nachhaltig diskreditiert. Nicht nur die sich aus den Verträgen ergebende Entwicklung in Deutschland und Europa brachte man mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen in Verbindung, sondern auch das Vertragswerk selbst, das in diesem Licht kaum eine Chance auf eine unvoreingenommene Beurteilung hatte. Schon in den 1930er Jahren sahen sich die frühen Kritiker des Vertrags – unter ihnen besonders prominent der Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes, der 1919 zur britischen Delegation gehört hatte – durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten und Hitlers Außenpolitik der Gewalt in ihrer Kritik bestätigt. Noch 1983 meinte Robert Skidelsky, der Biograph des Ökonomen, dass Hitler wahrscheinlich nicht Reichskanzler geworden wäre, wenn man 1919 auf Keynes gehört und Deutschland einen vor allem wirtschaftlich milderen Frieden gewährt hätte.9 Denn nicht wenige Gegner Hitlers und des Nationalsozialismus reagierten zurückhaltend auf die aggressive deutsche Außenpolitik seit 1933, weil sie es für legitim hielten, dass Deutschland sich aus den »Ketten von Versailles« befreite.
Die britische und französische Politik des Appeasement ist auch aus dieser Sicht zu erklären und ebenso aus der Hoffnung, ein moralisch rehabilitiertes Deutschland werde sich in friedenssichernde europäische Kommunikationsstrukturen und Kooperationsmechanismen einbinden lassen. Vom britischen »Trauma des Meaculpismus« hat der deutsche Historiker Hans Rothfels einmal gesprochen.10 Das lässt sich verbinden mit der Neubewertung des Kriegsbeginns 1914, für die der britische Premierminister David Lloyd George, der sein Land 1919 in Paris vertrat, 1933 das Stichwort lieferte, als er in seinen Kriegsmemoiren erklärte, Europa sei in den Krieg »hineingeschlittert«.11 Das war weit entfernt von dem Kriegsschuldverdikt...