1 Einleitung
In Deutschland kennen wohl die meisten Menschen die Hanse, und für viele, wenn nicht die meisten von ihnen, ist die Hanse etwas sehr Positives. Nicht nur Städte nennen sich stolz Hansestädte, auch Unternehmen von der Lufthansa bis zu Hansaplast, von Hansano bis zum Hansataxi und selbst Pizzabäcker und Fußballvereine nehmen die Hanse für sich in Anspruch. Bei so viel Präsenz müsste es ja eigentlich klar sein, was dieser Begriff bedeutet, müsste es eine Erklärung dafür geben, was die Hanse eigentlich war.
Doch schaut man in die Forschungsliteratur zu diesem Thema und befragt man Historiker hierzu, wird schnell deutlich, dass bei der Hanse nur eines klar ist: nämlich das, was sie nicht war. Die Hanse war keine machtvolle monopolistische Firma, sie war kein Staat im Staate, sie hatte keine eigene Armee oder Flotte und besaß auch nur so viel Macht, wie ihre Mitglieder ihr geben wollten und konnten. Im Grunde genommen ist die Hanse auf den ersten Blick recht undurchschaubar – und das nicht erst für die Menschen im 21. Jahrhundert, sondern bereits auch für ihre Zeitgenossen.
Eine Hansedefinition im Mittelalter?
Wir sind es heute gewöhnt, dass Organisationen sich selbst definieren, sei es, dass sie sich eine Satzung geben oder dass sie erklären, was sie sind und was sie wollen. Ähnliches gab es im Mittelalter auch. Gilden hatten ihre Statuten, der König, der Adel und die Städte ihre Gesetze, und selbst die Kirche nutzte eine Eigendefinition. Und die Hanse? Die hatte nichts. Es gibt keine Satzung, die erklärt, was die Hanse ist und was sie zu tun und zu lassen hat, ja es gibt und gab nicht einmal ein offizielles Verzeichnis aller Mitglieder dieser Organisation, und selbst der Name »die Hanse« oder »die deutsche Hanse« erscheint erst im 14. Jahrhundert. Was war die Hanse dann?
Die Frage nach der Struktur und der Organisation der Hanse ist nicht neu. Schon im Mittelalter wurde sie gestellt – und nicht beantwortet. Allein der Name ist mehrdeutig. »Hanse« war im Anfang, im 11. und 12. Jahrhundert, nichts spezifisch Deutsches und eigentlich auch nichts Politisches. Eine »Hanse« nannte man einen Zusammenschluss von Kaufleuten im Ausland, und das Wort bedeutete nichts anderes als Schar oder Gruppe (lat. cohors). Diese Kaufleute, die Hansen, versprachen sich gegenseitig Hilfe, sei es bei Reisen, bei Rechtsfällen, Verhandlungen mit ausländischen Herrschern oder sei es bei handgreiflichen Auseinandersetzungen. Gleichzeitig entrichteten die Kaufleute an einigen Orten für das Recht, Handel treiben zu dürfen, eine Abgabe, die ebenfalls »Hanse« genannt wurde. Hansen waren daher eigentlich die meisten europäischen Kaufleute im Ausland, und so kennen wir z. B. aus dem 12. Jahrhundert die »Hanse« der Kaufleute aus Saint-Omer oder die flämische Hanse in London. Wie später noch zu zeigen sein wird, bildeten auch die Kaufleute aus den späteren »Hansestädten« Hansen im Ausland, und z. B. die Stadt Lübeck ließ sich dieses Recht noch 1275 vom Kaiser ausdrücklich bestätigen. Die »deutsche Hanse« ist also keine Organisation, die etwas Neues, nie Dagewesenes darstellte, sondern sie entstand langsam, und ihr wurde ein Begriff zugeteilt, der sich über einen langen Zeitraum entwickelt hatte.
Diese langsame Entwicklung ist wohl daran schuld, dass es keine einheitliche Satzung gab. Die Hanse war ein Zweckbündnis, dessen Teilnehmer ihm freiwillig beitraten, da sie sich davon einen Vorteil versprachen. Im Gegenzug wurde von ihnen verlangt, dass sie sich solidarisch verhielten und dass man zum Wohle des gemeinen Besten einen Einsatz leistete. Diese Freiwilligkeit und die Freiheit aller Mitglieder ist das Grundprinzip der Hanse im Mittelalter. Gleich wem die Kaufleute und ihre Städte unterstanden, dem Kaiser, Bischöfen oder weltlichen Herren, in Fragen des Handels und der Handelspolitik agierten sie zusammen, über Herrschaftsgrenzen hinweg, und konnten, solange sie das gleiche Ziel verfolgten, ihre wirtschaftliche Macht auch als politisches Druckmittel einsetzen.
Aber gerade diese Freiheit und Freiwilligkeit war auch das größte Problem der »deutschen Hanse«. Waren einige Mitglieder an einer Entscheidung nicht interessiert oder gar anderer Ansicht, so nahmen sie an Entschlüssen einfach nicht teil, verzögerten, verwarfen oder ignorierten sie. Niemand konnte sie zwingen, sich an Abmachungen zu halten, die nicht in ihrem eigenen Interesse lagen.
Dieses Verhalten verursachte schon im Mittelalter Irritationen, vor allem dann, wenn man mit Herrschern verhandelte, die ein sehr klares und definiertes Staatsverständnis besaßen wie z. B. der englische König. Mit diesem hatten hansische Unterhändler 1437 ein Abkommen geschlossen, was allerdings den Interessen der Stadt Danzig widersprach, die das Abkommen nicht anerkannte. Der König nun, verärgert über den offensichtlichen Vertragsbruch, schickte seine Boten nach Lübeck, um den Sachverhalt und die innere Struktur »der Hanse« zu ergründen.
Was mussten die Boten erleben? Zunächst einmal sagten einige Städte ihr Kommen zu dem Treffen ab, da das Thema ihnen zu heikel war. Andere Boten reisten wieder ab, da wichtige Städte nicht da waren, wieder andere ließen sich vertreten, und die Stadt Lübeck erklärte, sie könne niemanden zwingen, da sie niemandes König sei. Das Ganze war für die Engländer so verwirrend, dass sie erst einmal Auskunft darüber verlangten, wer denn nun mit ihnen verhandeln werde. Danach ließen sie anfragen, wer denn nun überhaupt in der Hanse sei und wer berechtigt sei, ein Abkommen zu schließen, also mit wem man sich da einließe. Darauf wollten und konnten die Vertreter der Hanse keine Antwort geben, ein Eklat war vorprogrammiert.
Bei den Verhandlungen in den Jahren nach 1437 wird das Problem deutlich, mit dem wir uns auch heute herumschlagen. Auf der einen Seite stand der englische König mit seinem mehr als berechtigten Wunsch zu erfahren, wer der Verhandlungspartner ist, welche Strukturen oder Hierarchien beim Gegenüber existieren, ob und wer eine Prokura besitzt und welche Sicherheiten vorhanden sind, dass dieser Vertrag auch eingehalten werde. Diese Fragen sind für uns auch selbstverständlich. Mit wem haben wir es zu tun? Hat unser Verhandlungspartner das Recht, mit uns einen Vertrag zu schließen? Für wen gelten die Vertragsbedingungen? Alle diese Fragen setzen eine klare innere Struktur der Gegenseite voraus.
Für die »Hanse« aber waren sie nicht von Interesse, ja sie widerstrebten eigentlich ihrer inneren Struktur. Man wollte an einem Ort Handel treiben und dafür die besten Bedingungen aushandeln. Hier konnte man gemeinsam agieren und Bedingungen festsetzen und Verträge aushandeln. Sobald aber die Angelegenheiten zu Hause oder nur Angelegenheiten einzelner Städte tangiert wurden, wurde die Sache heikel. Hier mussten das eigene Interesse, die Machtverhältnisse und äußeren Umstände mit in Betracht gezogen werden – und hier besaßen die gemeinhansischen Interessen viel weniger Gewicht als im Ausland. Aus Sicht der Kaufleute und ihrer Städte konnte es durchaus vorteilhaft sein, sich in der Hanse zu engagieren. Dann hielt man sich nolens volens an die gemeinsame Linie. War aber das Verhältnis zum Stadtherrn wichtiger als der Auslandshandel oder waren andere Handelsrichtungen bedeutender, so hielt man sich nicht daran, ignorierte oder verzögerte die Sache. Das bedeutete aber nicht, dass man bei der nächsten Gelegenheit nicht doch wieder auf die Hanse zurückgriff.
Für die am römischen, abstrakten Recht geschulten Juristen des Mittelalters stellte dieser Zustand ein Unding dar, für sie war »die Hanse« nicht Fleisch noch Fisch. Für sie – und für die meisten ihrer handelspolitischen Gegner – war die Hanse ein Krokodil, ein Monster, das man nie ganz zu Gesicht bekam, das scharf beißen konnte, aber schwer zu fangen war. Die Hanse war theoretisch nicht zu fassen, und dennoch war sie nur zu real, sie konnte nie zu einer Entscheidung gelangen oder wiederum schnell zuschlagen. So frustrierend dieses für uns ist, so frustrierend muss es auch für die Fürsten und Politiker im Mittelalter gewesen sein.
Das Bild der Hanse im 19. und 20. Jahrhundert
Die Hanse hat nicht nur den Menschen im Mittelalter Kopfzerbrechen bereitet. Auch heutige Historiker beißen sich immer wieder an ihr die Zähne aus. Und das liegt nicht nur an ihrer undurchschaubaren Struktur.
So langsam wie die Hanse im 14. Jahrhundert entstanden war, so langsam ging sie auch im 16. und 17. Jahrhundert unter. Sie zerbarst nicht in einem großen Knall oder in einem großen Konkurs, sondern sie schlief ein, da sie keinen ökonomischen Nutzen mehr erfüllte. Aber dennoch lebte der Name der Hanse in einigen Städten, vor allem in Hamburg, Lübeck und Bremen, weiter. Wir unterscheiden hierbei zwischen »hansisch« für die Zeit bis zum 17. Jahrhundert und »hanseatisch« für die Zeit danach.
Am Beginn des 19. Jahrhunderts war die Erinnerung an die Hanse aber weitestgehend verblasst. Und so erklärt der erste »Hansehistoriker« G. F. Satorius, Freiherr von Waltershausen, 1802 in seinem Buch zur Hanse freimütig, dass er sich dieses Gegenstandes angenommen habe, da er in den Wirren der Revolutionszeit nichts Unpolitischeres habe finden können »als diese harmlose halbvergessene Antiquität«. Aber schon in der nach seinem Tode erschienenen zweiten Auflage seines Werks von 1830 ist das Unpolitische völlig verschwunden. Der Herausgeber, Johann Martin Lappenberg, führt über die Ursprünge der Hanse aus, dass es »vor allem der Mangel an Einheit der Nation gewesen [sei], welcher die Städte...