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E-Book

Die innere Freiheit des Alterns

AutorIngrid Riedel
VerlagPatmos Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783843603850
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
'Alt werden, heißt sehend werden', schrieb Marie von Ebner-Eschenbach. Ganz im Hier und Jetzt zu sein, das Leben annehmen zu können, ohne Warum, ist eine beglückende Erfahrung. Gerade im Alter empfinden wir sie als Geschenk. Ingrid Riedel - selbst über siebzig - schreibt voller Wärme und Weisheit über das Altern. Älterwerden bedeutet zweierlei: Leben ausschöpfen und Leben loslassen. Es gilt, diese Spannung auszuhalten, Unvollkommenes anzunehmen, um zu innerer Ruhe und Gelassenheit zu finden.

Ingrid Riedel, Honorarprofessorin für Religionspsychologie und Psychotherapeutin in eigener Praxis, ist Dozentin und Lehranalytikerin an den C. G. Jung-Instituten Zürich und Stuttgart. Autorin zahlreicher erfolgreicher Bücher, bei Patmos zuletzt: Spieglein, Spieglein an der Wand. Märchen vom Neiden und Gönnen (2012); C. G. Jung: Ausgewählte Schriften (Hg. zus. m. Verena Kast, 2011).

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Leseprobe

Wenn Verluste sich mehren


Als ich eben an einem Feld vorbeifuhr, frisch gemäht, goldgelb leuchtend in der Nachmittagssonne, da fragte ich eine Freundin, die neben mir im Auto saß: »Überkommt dich auch immer solche Wehmut, wenn du die abgeernteten Felder siehst?« Sie nickte. Auch ich kenne dieses Abschiedsgefühl schon lange, schon immer kam mir der Zeitpunkt der Sommersonnenwende verfrüht vor, und doch ist es mir, als vertiefe es sich jetzt, mit den späteren Jahren. Es vertieft und intensiviert sich, ist es doch wie ein Gleichnis für das Lebensgefühl am Übergang in die Siebzigerjahre; voll Tiefe und Intensität. Denn die Lebenszeit wird kürzer.

Es war van Gogh, der wie kein Zweiter die Farben des reifen Getreides zu malen verstand, voll glühender Expression, gepackt von dem Wissen um seine zu Ende gehende Lebensspanne. Seine letzten Bilder sind Erntebilder, wogendes Korn, darin der Schnitter, leidenschaftlich die Sichel schwingend, fast überfordert vom Reichtum dessen, was einzubringen ist, sein letztes Werk. Selbst noch die Korngarben scheinen zu tanzen.

Bei jedem Abschied vertieft sich das Gefühl dafür, was mir der andere Mensch doch bedeutet hat. Beziehungen, die jahrzehntelang ruhig verlaufen sind, manchmal gar nicht so stark aktualisiert, die zu den Jugendfreunden oder auch zu weit entfernt wohnenden und lebenden Geschwistern, sie flammen auf einmal auf, geben ihre tiefen Gefühlspotentiale frei – vor allem dann, wenn auf einmal Gefahr droht, eine schwere Krankheit, Krebs, ein Schlaganfall, und damit die reale Angst, diese lange gekannten und wirklich vertrauten Menschen zu verlieren. Eine wahre Herzensangst kann aufbrechen und damit die tiefe, vielleicht lebenslange Verbundenheit neu erfahrbar werden, die sich anfühlt, als wären diese vertrauten Menschen ein Stück von mir selber. Sie sind es auch, sind sie doch ein Teil meiner Lebensgeschichte und damit meiner auch an ihnen erwachsenen Identität.

Wie lief während der vielen Stunden der Bahnfahrt nach Leipzig zu meinem todkranken Bruder das ganze Leben mit ihm noch einmal ab, vor allem unsere gemeinsame Kindheit, die Kriegsjahre in einer von Luftangriffen bedrohten Stadt, wo wir im »verdunkelten« Zimmer mit Autos und Tieren spielten, die phosphoreszierende »Leuchtabzeichen« trugen – wie die Fußgänger auch, in der aus Luftschutzgründen abgedunkelten Stadt, in der es zu der Zeit keine Straßenbeleuchtung mehr gab. Die Innigkeit unserer Kindersprache, die wir beide verstanden – sein Pferd hieß »Gummi-Richard«, das meine »Silberhorn« –, unsere Rivalitäten und unsere gemeinsam gelungenen Streiche gegenüber den »Großen«, dies alles stieg aus der Vergessenheit auf, als wäre es Gegenwart. Dazu sein blonder Lockenschopf, seine lichthellen Augen, seine Stimme. Ich sehe uns vor mir, als wir, einander an den Händen haltend, damit wir uns nicht verlören, durch unsere brennende Heimatstadt liefen – ich neun, er sieben –, während neben uns ganze Hausfassaden niederstürzten … Mit der Erinnerung an den Bruder stieg auch die ganze damalige Zeitgeschichte wieder auf, mit der für mich, wie für viele meiner Generation, traumatische Ereignisse verbunden waren, wie zum Beispiel »Ausbombung«, also die Zerstörung unseres Elternhauses, oder die Evakuierung ins Kinderheim …

Der Bruder als Zeuge auch meiner Lebensgeschichte ist unersetzbar. Wie lebendig stiegen alle diese Erfahrungen während jener Zugfahrt zu ihm, in einem Leipziger Krankenhaus, wieder in mir auf – wie in uns allen in ungeahnter Lebendigkeit die ganze Geschichte mit den Menschen, die uns verloren zu gehen drohen, wieder aufsteigt. Dieser aufsteigende Erinnerungsstrom zeigt uns zugleich die drohende Gefahr an, diesen Menschen zu verlieren, zeigt uns seinen Wert für uns an, wie die mit ihm verbundenen Gefühle. Der aufschießende Erinnerungsfluss hat auch den Sinn, diesen Menschen, den wir zu verlieren drohen, innerlich unverlierbar für uns zu machen.

Hier erschließt sich bereits der innerseelische Raum, in den dieser Mensch einkehren kann und wird, auch wenn er uns in der Außenwelt genommen würde. Diesen innerseelischen Raum in uns zu erschließen, in den die Sterbenden und die Toten heimkehren werden, in dem sie nie mehr verloren gehen können, ist außerordentlich wichtig für uns alle in der Altersphase, in der sich solche Verluste mehren, in der uns unersetzliche Menschen einer nach dem anderen genommen werden, die Menschen, die unser Leben bis hierher geteilt haben und somit Teil unserer Identität geworden sind. Der innerseelische Raum, in den sie alle gehören, ist auch der Raum unserer Identität, die unverletzt bleiben kann und soll, auch wenn sich schwere Verluste an nahen Verwandten und Beziehungspartnern und -partnerinnen ereignen und mehren.

Eine Vorstellung hat sich mir selbst immer wieder als hilfreich erwiesen: dass zum Beispiel der Junge, der dieser Bruder damals während der Kriegszeit gewesen war, der Fünf- bis Siebenjährige, doch schon lange nicht mehr da war, sondern zuletzt in einer Gestalt als fast siebzigjähriger alter Mann existierte – und dass dennoch dieser Junge immer in meinem inneren Seelenraum lebt und bleibt, mit seinem Spielzeug-Lastwagen, den er jedes Mal mit unnachahmlichem Aufheulen losfahren ließ, ehe er mit meinem Pferd ein Gespräch in richtiger Menschensprache begann. So lernen wir schon während unseres ganzen Lebens die jeweilige Lebensgestalt eines lieben Menschen loszulassen, um uns auf eine neue einzustellen, während die bisherige innerlich aufgehoben wird, im Seelenraum, der unsere ganze Lebens- und Beziehungsgeschichte birgt.

Ein Traum, der sich auf meinen jüngsten Bruder bezog, der mir als der Bub, dem ich schon eine kleine Mutter sein konnte, sehr nahe gewesen war, zeigt diese Verwandlung an: »Ich suche den kleinen Jungen, meinen Bruder, verzweifelt im Umfeld unseres Fluss-Schwimmbades, wo er untergegangen, ertrunken zu sein scheint. Ich suche ihn unter den Bohlen und schwimmenden Kanistern, kann ihn jedoch nicht mehr finden und gebe schließlich mit großem Kummer auf. Da sehe ich ihn auf einmal am Ufer, in einem Café sitzen, erwachsen, in eine Lederjacke gekleidet, und im Gespräch mit einer jungen Frau, die offenbar sehr attraktiv auf ihn wirkt.«

Der Junge also, der mir zärtlich verbunden war, ist »ertrunken«, im Fluss der Zeit, im »Lebensfluss«, so sagt der Traum; doch lebt er als erwachsener Mann, der jetzt in die Beziehung zu einer Frau eintritt.

So wie sich die Gestalten der Geschwister, der Freunde und der Freundinnen, der Beziehungspartner und -partnerinnen im Laufe des Lebens verwandeln, was sich oft anfühlt, als seien sie gestorben, so wird es auch am Ende ihres Lebens sein, wo sie für immer in unseren inneren Seelenraum einkehren, wo sie sich übrigens auch noch weiter verwandeln können. Das sehen wir, wenn wir, oft viele Jahre nach ihrem Tod, von ihnen träumen und an den Träumen erkennen, dass sie seither oft noch zu einer neuen Entwicklung und einer neuen Reife gelangt sind.

Den Umgang auch mit den real sich wandelnden Gestalten der Freundinnen oder der Partner im Laufe eines Lebens kann man in diesem Sinne wie eine Vorübung dazu verstehen, sich schließlich auf ihre endgültige Verwandlung am Ende des Lebens einzustellen.

In unserem inneren Seelenraum kann es auch letztlich zu einer Integration ihrer verschiedenen Gestalten kommen, die wir im Laufe unseres Lebens kennengelernt haben, wobei dann das Ganze auch hier mehr sein wird als die Summe seiner Teile. Wir ahnen dann auf einmal die ganze Gestalt eines Menschen, seine Ganzheit, das, was von »Gott« oder vom »Leben selbst« mit ihm gemeint sein mochte.

Worauf ich hinaus will, ist die Frage, wie wir mit den immer häufigeren Abschieden und Verlusten im Lauf der späteren Jahre umgehen, wie wir sie überhaupt ertragen sollen. Meine vorläufige Antwort ist: Es gilt, den inneren Seelenraum zu erschließen, in den sie alle aufgenommen werden können, die lebenden Angehörigen und Freunde – wie auch die Verstorbenen. In diesem Seelenraum leben sie alle, zusammen mit ihrer und unserer ganzen Lebensgeschichte, zu der auch schwere Erfahrungen wie Krieg und Flucht gehören können. Auf ihrem Zusammenkommen und Zusammengehören in uns beruht unter anderem unsere Identität, die sich auch an der Begegnung mit ihnen entwickelt hat.

Die Intensität, die unsere Beziehungen gewinnen, wenn sie bedroht sind, wenn sie dem Abschied nahekommen, kann auch zu einer besonderen Chance werden, nämlich: die jeweilige Beziehung noch einmal ganz aufleben zu lassen, voll zu durchleben, auszukosten in ihrem besonderen Geschmack und ihrem besonderen Klang. So konnte ich ein Ehepaar durch die letzten Monate begleiten, die der an einem schon rezidivierenden Melanom erkrankte Mann noch zu durchleben hatte. Diese Ehe, der drei nun erwachsene Kinder entsprungen waren, eine Ehe, die durch dick und dünn bis zur Silberhochzeit von beiden durchgetragen worden war und die natürlich auch – durch viel Alltagsroutine und die berufliche Belastung beider Partner – Patina angesetzt hatte, vermochte zu ungeahnter Intensität aufzublühen, da die beiden unter dem Druck der Bedrohung ihre Gefühle füreinander neu und frisch entdeckten und sie sich – wie noch nie zuvor in ihrem Leben – auch mitzuteilen und auszutauschen vermochten. Dabei wurden nicht nur die Gefühle der Liebe, der Zärtlichkeit, der Dankbarkeit füreinander lebendig und aussprechbar, sondern es kam zu einem neuen Erleben von Kreativität – der erkrankte Partner zeichnete, malte und gestaltete bewegende Bilder bis zur letzten Woche vor seinem Tod –, kam zum Erleben einer neuen tiefen Emotionalität überhaupt, die das gemeinsame Erfahren von Natur, Kunst und...

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