1 Hören Sie auf zu meditieren
Tun Sie nichts
»Frage nie jemanden nach dem Weg, der ihn kennt. Sonst läufst du Gefahr, nicht in die Irre gehen zu können.«
Rabbi Nachman von Breslow
Meditiere ich überhaupt? Diese Frage stelle ich mir oft angesichts der Schwemme an Büchern und Hörbüchern, die uns zum Meditieren anhalten wollen und zu dem Zweck alle positiven Effekte der Meditation aufzählen und uns bei der Gelegenheit auch gleich die nötigen Techniken beibringen wollen.
Meditiere ich? Nein, nicht, wenn Meditieren so aussieht. Ich folge keinerlei Meditationsanleitung. Und wenn ich keine Lust habe zu meditieren, tue ich einfach etwas anderes. Punkt. Nicht gut, nicht schlecht, keine große Sache.
Ich wende keine bestimmte Technik an. Ich halte mich nicht an irgendeine Gebrauchsanweisung. Ich meditiere eben aus dem Grund, mich von meinen inneren Handlungsanweisungen frei zu machen.
Und ich will dabei weder Weisheit entwickeln noch innere Ruhe oder Geduld. Die innere Ruhe kann mich mal! Ich verfolge kein Ziel, das Ganze ist völlig zweckfrei. Ich will noch nicht mal meinen Tag in einem bestimmten Geisteszustand beenden.
Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren praktiziere ich Meditation. Ich lehre sie seit etwa fünfzehn Jahren, aber ich habe keine Technik anzubieten und deren sensationellen Vorzüge zu preisen. Als ich begonnen habe zu unterrichten, haben mir nicht wenige Menschen eine totale Bruchlandung prophezeit. Was wollte ich meinen Kursteilnehmern denn erzählen, wenn Meditation nicht produktiv sei, wenn sie nicht effektiver und ruhiger macht, im Grunde genommen also gar nichts nützt? Nun, ich könnte zum Beispiel erzählen, dass sie uns aus der Sklaverei der Nützlichkeitserwägungen befreit, vom Eingespanntwerden ins Joch der Rentabilität, das unsere Zeit prägt. Dass sie insofern eine echte Chance darstellt.
Im Laufe der Jahre hat sich die Leistungsbesessenheit zum schleichenden Gift entwickelt, zumindest in dem Umfeld, in dem ich mich bewege. Rentabilität und Nutzen sind die Schlüsselworte unserer Zeit geworden … auch auf dem Gebiet der Meditation. Handbücher und Übungen zu diesem Zweck gibt es zuhauf, ja selbst Dosierungsanleitungen wurden entwickelt: garantierte Resultate nach zehn oder zwanzig Sitzungen. Man müsse, so heißt es, auch in den Unternehmen Möglichkeiten zur Meditation schaffen, weil sie eine Leistungssteigerung bewirke. Oder in den Schulen, weil die Schüler dann konzentrierter lernten. Und natürlich zu Hause, damit wir weniger gestresst sind.
Ich habe Leute kennengelernt, die solche Programme absolviert hatten. Zuerst waren sie irritiert, dann wütend: Ihre »Ausbildung« hat nicht gebracht, was sie versprach. Sie waren nämlich keine völlig neuen Menschen, ja noch nicht einmal ein bisschen weniger gestresst. Zweifellos, so meinten sie, hätten sie sich nicht ausreichend konzentriert, hätten sich nicht von ihren Gedanken lösen können, hätten sich ablenken lassen oder nicht die richtige Sitzposition eingenommen. Vielleicht läge es aber auch an der Technik, die (wahlweise) nicht die richtige, doch ziemlich schwierig, nicht für sie geeignet sei. In Wirklichkeit hatte ihr Versuch zu meditieren aber etwas von einer mündlichen Prüfung: Je angespannter man hineingeht, je mehr man sich auf ein gutes Abschneiden konzentriert, umso größer ist die Gefahr, schließlich mit zugeschnürter Kehle und schweißnassen Händen dazustehen, um am Ende zu scheitern, angstgeschüttelt und ein Häuflein Elend.
Diese Art der Meditation, wenn man sie überhaupt so nennen kann, ist nicht die meine. Meditation, wie ich sie verstehe, ist keine Technik, ja noch nicht mal eine Übung. Sie ist auch kein großes Geheimnis. Meditation ist Lebenskunst. Die Kunst, sich in Frieden zu lassen. Ich schreibe nichts vor. Ich liefere keine Tricks. Ich garantiere nichts und verteile am Ende auch keine Punkte. Ich erzähle nicht, dass Sie sich hinsetzen und Ihre Gedanken, ohne sich daran festzuhalten, vorüberziehen lassen sollen, wie die Wolken am Himmel, die sich schließlich auflösen. Diese Technik entspringt einer im Grunde guten Idee, aber wenn man sie wirklich anwendet, wird sie schnell eintönig, und man langweilt sich. Und wenn man sich langweilt, hört man auf, lebendig zu sein. Ich aber habe keine Lust, mich unter dem Vorwand, unbedingt meditieren zu müssen, selbst zu quälen. Ich setze lieber auf die Intelligenz und Menschlichkeit jedes Einzelnen. Ich weiß, dass das, was ich sage, wehtut. Aber ich habe mich entschlossen, die Wahrheit zu sagen, weil sie meiner tiefsten Überzeugung entspricht.
Denn am Ende meditiert man nur wirklich, wenn man aufhört zu meditieren. Wenn man sich sagt: Die innere Ruhe kann mich mal. Wenn man sich frei macht von dem Diktat, etwas erreichen zu müssen, etwas in Gang zu setzen, ein Ziel zu verwirklichen – und so die Angst vor einem Scheitern provoziert. Ja, auch ich bin manchmal angespannt. Wenn ich mir dann die Anweisung gebe, mich zu entspannen, ist dies das sicherste Mittel, mich noch mehr zu verkrampfen. Und mich zu quälen. Dazu brauche ich dann nicht mal Anweisungen: Ich kann mich perfekt selbst quälen. Wie alle Welt will auch ich alles »gut machen«. So »gut«, dass ich deshalb unter extremer Anspannung stehe. Ich verlange mir ein bestimmtes Resultat ab und habe die totale Panik, es vielleicht nicht erreichen zu können. Dabei weiß ich doch aus Erfahrung, dass ich mich wunderbarerweise recht schnell entspanne, wenn ich mir die Erlaubnis gebe, angespannt zu sein, wenn ich Frieden mit meiner Anspannung geschlossen habe. Genau diese ebenso einfache wie komplizierte Geste, der Mut, sich selbst mal in Frieden zu lassen, das Wagnis, sich nicht ständig anzutreiben, ist es, was ich Meditation nenne.
Ich kann mich noch gut an meine Großeltern erinnern, die immer wieder lange Zeit einfach nur schweigend dasaßen, den Blick auf das Kaminfeuer gerichtet, das leise knisterte. Beide waren Kommunisten und hatten jeder Religion und Spiritualität den Rücken gekehrt. Sie waren kein bisschen mystisch angehaucht und hatten sicher noch nie etwas von Meditation gehört, doch ihre Abende vor dem Kaminfeuer kommen dem, was ich unter Meditation verstehe, sicher am nächsten. Für sie war dies eine Form seelischer und geistiger Hygiene. Ein ganz natürlicher Akt, ebenso simpel wie unverzichtbar. So simpel und unverzichtbar wie das Gehen, die körperliche Bewegung, bei der man sich ausagierte. Das, was wir heute als Sport betreiben und wieder mit Anforderungen überfrachten, mit Maschinen, Anweisungen und Geräten, die unsere Leistung messen – um sie flugs mit der des Nachbarn zu vergleichen. Unsere Urgroßeltern mussten nicht joggen gehen, um in Form zu bleiben.
Als ich vierzehn war, hörte ich zum ersten Mal von Meditation, und damals war das noch ein Geheimtipp. Ich fand es ungeheuer spannend, hatte aber Angst, dass ich mich durch diese Praxis zum komatösen Gemüse entwickeln würde. Gar nichts tun, bedeutet das nicht den totalen Verzicht? Außerdem, so sagte ich mir, wenn das Ganze so einfach wäre, würde es ja wohl jeder machen. Und ich stürzte mich wieder in meine Bücher und meine Gedichte. Aber irgendetwas in mir war neugierig geworden …
Mit einundzwanzig habe ich dann den Sprung gewagt. Ich hatte begonnen, Philosophie zu studieren, und meine Enttäuschung war so groß wie meine anfängliche Begeisterung. Kurz gesagt: Ich schaffte es einfach nicht. War ich zu Hause bei meinen Eltern, die glaubten, ich studiere Jura, zog ich mich in mein Zimmer zurück und versuchte es mit Lernen. Natürlich belastete es mich, meine Eltern zu belügen, aber ich hatte doch die Hoffnung, dass ich Erfolg haben könnte, wenn ich etwas täte, was mir Spaß machte. Allerdings, meine Ergebnisse fielen mittelmäßig aus. Ich schaffte es nie, die Bücher zu lesen, die ich hätte lesen sollen. Und wenn ich es mit Ach und Krach doch hinbekommen hatte, vergaß ich sofort, was drinstand. Dabei hätte ich mir das doch gerade merken sollen.
Irgendwann stand ich vor der Tür irgendwelcher Amerikaner, deren Adresse man mir gegeben hatte. Ein ausgesprochen netter Mann nahm mich in Empfang und wies mich mit wenigen Worten in die Meditation ein: Es würde vollkommen genügen, meinte er, wenn ich bequem auf meinem Kissen säße und einfach da sei, aufmerksam gegenüber meiner Umgebung. Ich sollte mein Wissen und meine Begabungen vergessen und nicht versuchen, etwas zu begreifen, weil es einfach nichts zu begreifen gäbe. Ich kam nicht mehr aus dem Staunen heraus: Das war ja wirklich nicht schwierig. Und so habe ich zum ersten Mal meditiert. Ohne zu wissen, dass ich Glück hatte, denn der Mann, der mich in die Meditation einwies, war niemand anderer als Francisco Varela: einer der größten Neurowissenschaftler seiner Zeit.
Und so habe ich auf meinem Kissen zum ersten Mal die vollkommene Erleichterung erfahren, wahre Erleichterung. Das war ein Schock, sage ich Ihnen! Ich war ein schlechter Schüler, dessen Zeugnisse nur so wimmelten von Bemerkungen wie: »könnte seine Sache besser machen«, »sollte hart an die Kandare genommen werden« oder »hat dauernd den Kopf in den Wolken«. Ein Schüler, der es ja gern »besser gemacht« hätte, nur einfach nicht verstand, was man von ihm wollte und was das Ganze mit seinem Leben zu tun haben sollte. In der Grundschule ging’s ja noch. Wann immer ich Probleme hatte oder geknickt war, ging ich zu meiner Lehrerin, die mir voller Wohlwollen und Vertrauen begegnete. Das hat mich immer getröstet. Im Gymnasium dann hatten wir so unglaublich viele Lehrer … und ich hatte keinerlei persönliche Beziehung mehr zu ihnen. Ich kapierte gar nichts mehr. Es...