Viele Symptome – eine Diagnose
»Es geht alles drunter und drüber.«
»Wir versinken im Chaos.«
»Die Datenlage ist viel zu dünn.«
»Da fehlt der Durchblick.«
»Das ist zu komplex, wir müssen vereinfachen.«
»Hier macht jeder, was er will.«
»Wie sollen wir denn so eine Planung machen?«
»Ohne Informationen ist keine Entscheidung möglich.«
»Das wächst uns gerade über den Kopf.«
Welchen dieser Sätze haben Sie selber in letzter Zeit benutzt oder von Kollegen, Vorgesetzten oder Mitarbeitern gehört? Wahrscheinlich finden Sie mehr als einen wieder, der Ihnen vertraut ist. Ich höre diese Aussagen häufig bei meiner Arbeit mit Führungskräften und Projektteams. Die Liste ließe sich beliebig erweitern, denn es existieren zig Möglichkeiten, um »Chaos« (→ Glossar) zu beschreiben. Wir verwenden diesen Begriff immer dann gerne, wenn Situationen nicht mehr kontrollierbar erscheinen und wir den Überblick verlieren. Das macht auch deutlich, dass es natürlich die Umstände sind, die uns das Leben schwer machen, und nicht etwa mangelnde Kompetenz oder etwas Ähnliches.
Viele dieser Äußerungen sind mittlerweile schon beinahe zum Mantra geworden und hallen regelmäßig durch die Organisationen. Gleichzeitig suchen wir nach Erklärungen für das immer häufiger auftretende Chaos. Früher war doch alles viel einfacher und ruhiger, oder? Nun aber steigt der Stresspegel stetig, es wird alles dynamischer, Veränderung reiht sich an Veränderung und keiner blickt mehr durch.
Gut, dass uns seit einigen Jahren eine valide Erklärung angeboten wird – es ist die Komplexität. Unzählige Artikel, Bücher und Aufsätze beschäftigen sich mit diesem (angeblich) modernen Symptom unserer Gesellschaft. In Studien werden Projektmanager mit dem Statement zitiert, dass die Komplexität eines der großen Probleme im Management sei. Manager werden dazu befragt, inwieweit die Komplexität eine Herausforderung für sie ist. Es wird überlegt, wie sich die Komplexität eliminieren lässt oder wie man sie wenigstens »in den Griff« bekommt. Komplexität ist Grund, Ursache, Symptom, Problem, Herausforderung und Dämon zugleich.
Unser Wunsch nach einer Erklärung ist damit erst einmal befriedigt. Wir wissen nun, warum wir regelmäßig im Chaos stecken. Der Begriff Komplexität ist modern und wird ebenso oft wie undifferenziert verwendet. In den vielen Erklärungsversuchen und Veröffentlichungen wird nur selten erläutert, was Komplexität genau bedeutet, was sie ausmacht und wie wir mit ihr umgehen können.
Ändern sich die Bedingungen, braucht unser Denken ein Update.
Die Komplexität der (Arbeits-)Welt, wie wir sie geschaffen haben, ist weder Problem noch Ursache. Wir können sie weder eliminieren noch reduzieren. Sie verschwindet auch nicht wieder. Unsere Welt ist komplex und wird es bleiben. Mit dem Gedanken müssen wir uns anfreunden und diese Tatsache müssen wir akzeptieren. Komplexität ist nicht unser Gegner, sondern der Zustand, in dem wir leben und agieren. Die Frage nach der Reduktion der Komplexität stellt sich nicht. Es geht also um die Frage, wie wir diese Komplexität meistern können. Wie agieren wir erfolgreich in einem komplexen Umfeld?
Auch auf diese Frage gibt es zahlreiche Antworten – die Vorschläge reichen von »Da kann man nichts machen, so ist halt das System« bis »Wir müssen eine Methode entwickeln«. Die Verantwortung auf »das System« abzuschieben, scheint einfach und vielversprechend, kommt aber dem Totstellen beim Anblick des berüchtigten Säbelzahntigers gleich. Die Suche nach Methoden, die uns Sicherheit bieten, entspringt ebenfalls dem Wunsch nach Sicherheit und Einfachheit. Außerdem kennen wir diese beiden Lösungsansätze schon. Wir greifen gerne auf Bekanntes zurück, wenn die Herausforderung vor uns neu und unbekannt ist. Und genau hier liegt der zentrale Punkt: Komplexität ist die große Unbekannte im Management moderner Organisationen. Wir wissen noch zu wenig darüber und haben keine echte Vorstellung, mit welchen Werkzeugen wir agieren können.
In meiner Beratungstätigkeit werde ich immer wieder mit Missverständnissen und Irrtümern rund um das Thema Komplexität konfrontiert. Dabei ist es weniger die mangelnde Kompetenz von Managern und Führungskräften, die zu Fehlschlüssen führt, als vielmehr fehlende Information und Reflexion auf den eigenen Kontext. Zudem neigen wir Menschen dazu, immer eine Ursache für ein Problem oder ein Verhalten benennen zu wollen. So glauben wir verstehen zu können. Wir formulieren Aussagen nach dem Schema »weil dies, deshalb das« und sind uns sicher, so immer einen kausalen Zusammenhang für jede Situation finden zu können. Und damit sind wir schon bei einem der Managementglaubenssätze, mit denen wir in der Beratung arbeiten.
»Es gibt immer eine Kausalität.« Spätestens mit dem Schulbeginn und während unserer gesamten Ausbildung werden wir darauf trainiert, in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu denken. Das führt zu Aussagen wie »Wir erreichen den Projekt-Meilenstein nicht, weil die Abteilung XY das Konzept nicht abnimmt« oder »Steve Jobs ist der Grund für den Erfolg von Apple«. Ganz einfach, eine Ursache und ihre Wirkung. Vor allem, wenn wir retrospektiv auf Vorgänge schauen, finden wir jede Menge Erklärungen in dieser Form, und das gilt sowohl für Erfolge als auch für Misserfolge. Das typische »Ich habe es ja gleich gewusst« ist ein Paradebeispiel hierfür. Und auch in der Vorausschau »wissen« wir schon ganz genau, wie wir zu einem Ziel kommen: »Wenn wir die richtige Botschaft auf der Webseite haben, entsteht Sogmarketing quasi von alleine« oder »Um das Vertrauen im Team zu stärken, brauchen wir ein Team-Event«.
Aber: Weder ein Projekt noch das Unternehmen Apple noch ein Team sind einfache Systeme, die sich durch Linearität auszeichnen. Im Gegenteil, sie sind komplex und lassen sich nicht in Ursache-Wirkungs-Ketten zerlegen, zumindest nicht a priori. An dieser Stelle wird Kausalität häufig mit Korrelation verwechselt. Ein komplexes System besteht aus Wechselwirkungen der Beteiligten. Um es zu verstehen, müssen wir uns auf die Beziehungen und wechselseitigen Wirkungsgefüge konzentrieren.
»Mit so vielen Beteiligten kann das nichts werden.« Gerade im Umfeld komplexer Projekte ist das eine der häufigsten Begründungen für Misserfolge. Viele Beteiligte, so heißt es dann, erhöhen die Komplexität und sorgen dafür, dass nichts mehr »gerade durchläuft«. Das ist ein Irrtum. Viele Beteiligte machen noch längst keine Komplexität. Eine Armee im Gleichschritt hat viele beteiligte Soldaten und ist gleichzeitig linear. Komplexität entsteht durch die Verknüpfung der Beteiligten, die Vernetzung (→ Glossar). Damit ergeben sich Wechselwirkungen und Dynamik und unser Ursache-Wirkungs-Denken wackelt. Wir werden diesen Punkt, der sich in weiteren Irrtümern wiederfindet, noch im Detail betrachten. So viel vorweg: Das Problem entsteht an dem Punkt, an dem wir versuchen, ein großes komplexes System genauso zu managen wie ein großes lineares.
»Wir müssen für Stabilität sorgen.« Ich kenne so gut wie keine Organisation, die sich nicht ständig im Wandel befindet. Sie alle führen mehrere Change-Projekte und -Prozesse parallel durch und reagieren so auf die sich ändernden Rahmenbedingungen. In den Köpfen vieler Führungskräfte hat sich jedoch die Idee festgesetzt, dass eines der wichtigsten Ziele Stabilität sein muss – quasi als Gegenpol zur Veränderung. Würden wir das umsetzen (können), so gäbe es über kurz oder lang keine neuen Ideen, keine Innovationen und keine neuen Lösungen mehr. Ein komplexes System, das auf Dauer in einem stabilen Zustand verharrt, zahlt den Preis der Flexibilität. Wir müssen das akzeptieren und lernen, mit der steten Veränderung umzugehen. Das gilt auch auf der Mitarbeiterebene. Natürlich gehört es zu den Aufgaben der Führungskräfte, für Momente der Erholung zu sorgen. Das hat allerdings nichts mit der Stabilität des Systems zu tun.
»Wir müssen uns einig sein.« Viele Führungskräfte halten an der Idee fest, dass das Lösen komplexer Aufgaben gleichbedeutend mit vollständiger Harmonie und hundertprozentiger Übereinstimmung ist. Nur wenn alle dieselbe Meinung und Auffassung teilten, seien Menschen bereit, schwierige Aufgaben zu meistern. Dieser Irrtum entsteht wohl aus der diffusen Ahnung, dass Komplexität und »par ordre du mufti« nicht gut zusammenpassen. Komplexe Aufgaben und Kontexte brauchen jedoch das Gegenteil totaler Übereinstimmung. Sie brauchen Diskurs, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Die wirkliche Auseinandersetzung, das Einbringen verschiedener Meinungen, Sichtweisen und Kompetenzen ist wichtig und notwendig. Komplexität braucht Verschiedenartigkeit auf allen Ebenen.
»Selbstorganisation ist, wenn’s von alleine läuft.« »Arbeitet Ihr Team selbstorganisiert?« – »Aber ja, und das ist toll. Ich muss überhaupt nichts machen.« Sie glauben, ich habe diese Antwort frei erfunden? Leider nein. Um den Begriff der Selbstorganisation ranken sich mindestens so viele Missverständnisse wie um die Komplexität. Selbstorganisation ist das Gegenteil von »Ich mache nichts«. Jedes komplexe System ist selbstorganisiert, das können Sie beeinflussen, stören oder zu verhindern versuchen; trotzdem bleibt es selbstorganisiert. Wenn Sie als Manager oder Führungskraft »nichts tun« und am Ende die richtigen Ergebnisse herauskommen –...