1. Eine Dynastie macht Geschichte
Es gibt kaum eine Epoche der europäischen Geschichte, die so eng mit dem Namen einer Dynastie verknüpft ist wie das 8. und 9. Jahrhundert. Historiker sprechen vom Karolingerreich, von der Karolingerzeit, von karolingischer Kultur, karolingischer Renaissance, vom karolingischen Erbe, vom karolingischen Europa und von der karolingischen Wirtschaft. Die Dynastie drückte der Epoche scheinbar unverkennbar ihren Stempel auf. Doch ist es gerechtfertigt, ein Zeitalter in seiner Vielgestaltigkeit auf das Wirken der Königsfamilie zu reduzieren?
Bei der Beantwortung dieser Frage muss zuerst festgehalten werden, dass diese eingeschränkte Sicht nicht auf die Karolinger selbst zurückgeht. Die Vor- und Nachfahren Karls des Großen haben nämlich gar nicht versucht, sich durch einen Dynastienamen von der fränkischen Führungsschicht abzuheben. Der Begriff der «Karolinger» tauchte vielmehr erst zu einer Zeit auf, als die Herrschaft dieser Familie schon fast vorbei war. Ende des 10. Jahrhunderts wurde der Begriff für die letzten Nachfahren Karls des Großen geprägt, die über den Westen des ehemaligen Großreichs herrschten und sich gegen Könige aus anderen Familien zu Wehr setzen mussten. Richtig populär wurde der Begriff erst seit dem 11. Jahrhundert: Das Prestige, von dieser berühmten Dynastie abzustammen, stieg an, als die letzten direkten Nachfahren den Königsthron endgültig verloren hatten.
Die Karolinger haben sich dagegen nicht als Familie mit eigenem Namen herausgehoben. Karl der Große und seine Nachkommen verhielten sich so wie andere Familien aus der Elite des Frankenreichs. Es war durchaus üblich, spezifische Traditionen der Namensgebung in einer Familie zu pflegen und regelmäßig auf einen festen Bestand von Eigennamen zurückzugreifen: Namen wie Pippin, Karl und Karlmann signalisierten die Zugehörigkeit zur Dynastie. Familiennamen aber waren nicht gängig. Von dieser Regel wichen die Merowinger ab, die fränkische Königsdynastie des 5. bis 8. Jahrhunderts. Sie hatten nicht nur einen Dynastienamen (Merovingi), sie hoben sich auch äußerlich ab, da sie ihre Exklusivität offen zur Schau stellten: Durch eine besondere Haartracht waren sie für alle auf den ersten Blick zu identifizieren. Wer über die Schulter fallendes, in der Mitte gescheiteltes Haar trug, war Mitglied der merowingischen Familie und hatte Anspruch auf das Königtum. Die Karolinger machten Schluss mit dieser Exklusivität, als sie im Jahr 751 das Königtum an sich rissen. Sie etablierten sich zwar in diesem Jahr faktisch als Dynastie, legitimierten ihre monarchische Herrschaft aber nicht in dynastischen Kategorien. Sie verstanden sich als Franken, als Angehörige dieses ehrwürdigen und traditionsreichen Volkes, das seit der Zeit um 500 das antike Gallien beherrschte. Es war ihr Ziel, die Vormachtstellung der Franken in einem multi-ethnischen Reich wieder zur Geltung zu bringen.
Warum beschränkt sich dann unsere Wahrnehmung dieser Zeit auf die Dynastie, warum verpassen wir jedem Aspekt dieser Epoche das Adjektiv «karolingisch»? Die Gründe dafür liegen zum Teil in der Sache selbst: Die Epoche wird von der ‹übermenschlichen› Persönlichkeit Karls des Großen überschattet. Er brachte die politischen Projekte seines Großvaters und Vaters zum erfolgreichen Abschluss, erweiterte beträchtlich die Grenzen des Reiches, erlangte im Jahr 800 die Kaiserkrone vom Papst und wurde bereits von seiner unmittelbaren Nachwelt zum vorbildhaften Herrscher stilisiert. Seine Zeit erfuhr im 9. Jahrhundert eine Glorifizierung als goldenes Zeitalter. Alle Nachfolger mussten sich an ihm messen. Deshalb wurde später die Abstammung von Karl dem Großen ein wichtiger Prestigefaktor in der Welt des europäischen Hochadels.
Ein weiterer Grund für die Fokussierung auf die Dynastie ist die Thronfolge im Frankenreich. Seit dem ersten merowingischen König galt die Regel, dass das Reich unter allen Söhnen des verstorbenen Königs zu gleichen Teilen aufgeteilt werden sollte. Auch wenn bereits die Merowinger diese Regel nicht selten missachtet oder kreativ umgedeutet haben, wurde sie nach dem Dynastiewechsel von den Karolingern im Grundsatz übernommen. Dies hatte zur Folge, dass die Organisation des Frankenreichs in Teil- und Unterkönigreiche in erheblichem Maße vom dynastischen Zufall abhing. Die politische Ereignisgeschichte des 8. und 9. Jahrhunderts ist daher nur vor dem Hintergrund der Geschichte der Königsfamilie verständlich.
Im 20. Jahrhundert erfüllte die Fixierung auf die Dynastie aber auch eine politische Funktion. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs rückte das karolingische Europa als Vorbild für die Versöhnung des Kontinents in das Zentrum der Geschichtspolitik. Zeugnisse dafür sind der seit 1950 jährlich in Aachen verliehene Karlspreis für besondere Verdienste um Europa, große Ausstellungen (1965, 1999) und historische Fachbücher, welche die Karolinger als Gründerväter Europas vereinnahmen. Ansatzpunkt für diese politische Instrumentalisierung war die weitgehende Übereinstimmung der Grenzen zwischen dem karolingischen Frankenreich und der entstehenden Europäischen Union. Ebenso wichtig war der Vorbildcharakter Karls des Großen. Denn Karl stand nicht nur für die Union vieler Völker unter einer politischen Gemeinschaft, sondern vor allem für die kulturelle Einheit Europas. Seine berühmte Bildungsreform machte ihn zur idealen Gründerfigur für eine neue Union, die zwar aufgrund wirtschaftlicher Interessen entstand, sich dafür aber in den kleidsamen Mantel einer kulturellen Gleichgesinntheit hüllte. Karl der Große war somit nach 1945 zum Stifter der europäischen Kultur geworden.
Das Geschichtsbild vom karolingischen Europa war über lange Zeit so wirkmächtig, dass es die Sicht auf die gesamte Epoche des Frankenreichs bestimmte. Wenn die Karolinger die Einheit der europäischen Kultur herbeiführten, war es naheliegend, die erste fränkische Dynastie der Merowinger als barbarisch und kulturfern darzustellen. Das hohe Prestige der Karolinger hatte also eine Geringschätzung der Merowinger zur Folge sowie eine deutliche Abgrenzung zwischen der merowingischen und der karolingischen Epoche. Der Dynastiewechsel von 751 wurde damit zu einem Wendejahr der europäischen Geschichte hochstilisiert. Die Merowinger standen mit ihrer langen Haartracht, ihrer Polygamie und ihrer dynastischen Exklusivität für ein barbarisches Zeitalter, welches durch die Karolinger im Bündnis mit dem Papsttum überwunden worden sei. Als der letzte merowingische König durch eine Anfrage des Thronaspiranten Pippin an den Papst abgesetzt wurde, sei ein dauerhaftes Bündnis zwischen der christlichen Kirche und dem Königtum geschmiedet worden, welches die Zivilisierung des Frankenreichs und die Erneuerung von Kultur und Bildung möglich gemacht habe. Das Geschichtsbild vom karolingischen Europa war – ebenso wie die Europaidee des 20. Jahrhunderts – christlich-katholisch gefärbt.
Diese Indienstnahme der Karolinger für die Schaffung europäischer Identität zog im letzten Jahrzehnt vermehrt Kritik auf sich, und dies zu Recht. Politisch ist der Rückbezug auf eine christliche Einheitskultur angesichts der kulturellen und religiösen Vielfalt des heutigen Europa nicht mehr opportun. Aber auch die Historiker haben mit dem Mythos des karolingischen Europa aufgeräumt. Europa war für die Zeitgenossen Karls des Großen nur ein geographischer Begriff für einen der drei Weltteile. Man wusste zwar sehr wohl, dass das Christentum aufgrund der islamischen Expansion aus den anderen beiden Weltteilen, Asien und Afrika, weitgehend verdrängt worden war und dass die «Sarazenen» durch die Eroberung Spaniens im Jahr 711 sogar einen Teil Europas beherrschten. Aber gerade weil das vergangene Jahrhundert als verlustreiche Epoche für die Christenheit wahrgenommen wurde, war eine Selbstbeschränkung auf Europa nicht denkbar. Als sich Karl zum Kaiser krönen ließ, begrenzte er sein Wirken gerade nicht auf Europa, sondern setzte sich mit erstaunlicher Weitsicht für die Christen im Heiligen Land ein. Er verstand sich fortan als Schutzherr für alle Christen, auch außerhalb Europas im Nahen Osten. Der geographische Begriff wurde daher nicht zu einem politischen Konzept umgemünzt. Der anonyme Dichter, der Karl zu Lebzeiten als «Vater» und «Leuchtturm Europas» bezeichnete, blieb eine vereinzelte Stimme.
Historiker stellen die Sonderstellung der Karolinger aber nicht nur deshalb in Frage, weil eine europäische Idee in der Politik des 8. und 9. Jahrhunderts nicht existierte. Auch der Gegensatz von merowingischer und karolingischer Zeit wird nicht mehr in der Schärfe aufrechterhalten. Stattdessen betonen Historiker die Einheit der fränkischen Geschichte. Schließlich war es der merowingische König Chlodwig I. (481/82–511), der mit seiner Taufe die Franken zum Christentum bekehrte und somit in das weitgehend christianisierte Gallien integrierte. Seine Nachfolger gründeten Klöster, unterstützten die Bischöfe, setzten sich für kirchliche Belange ein und riefen Kirchenversammlungen ein, um den Lebenswandel des Klerus zu reformieren. An ihrem Hof wirkten Dichter und Heilige,...