DER MYTHOS
Das Tantalus-Familienmuster
I. Glück und Unglück
Warum geht es manchen Menschen schlecht und anderen gut? Warum hat der eine Glück und der andere nicht? Warum erleiden manche Qualen und Schicksalsschläge, und andere genießen ein Leben voller Erfolg?
Darüber haben sich die Menschen seit jeher den Kopf zerbrochen. Nicht allen schien es so einfach zu sein wie Walt Disney, der Donald einfach zum Pechvogel und Gustav zum Glückskind gestempelt hat, quasi via Geburtsrecht von Zeichners Gnaden. Unsere Vorfahren haben meist geglaubt, dass dabei die Götter ihre Hand im Spiel hätten und den einen begünstigten und den anderen benachteiligten – wie es ihnen gerade gefiel, vielleicht auch, um den Menschen zu prüfen, wie Jehova das mit Hiob getan hat, vielleicht auch, um ihn für seinen Hochmut zu strafen, wie es die olympischen Götter mit Tantalus und Sisyphus taten. Oder tragen wir wirklich ein positives oder negatives Karma ab, wie die Inder glauben? Oder werden wir für unsere Sünden bestraft, wie uns das Christentum lehrt? Über Jahrhunderte jedenfalls haben die Menschen gedacht, dass Glück und Unglück eine Sache zwischen Menschen und Göttern sei und man die höheren Instanzen durch magische Rituale und Opfer gnädig stimmen müsse, um sich so sein Quäntchen Glück zu verdienen.
Die moderne Wissenschaft freilich hat all diese Vorstellungen in den Bereich des Aberglaubens verwiesen. Und dennoch sind heute Aberglauben und magische Vorstellungen nicht ausgestorben – im Gegenteil: In unzähligen esoterischen Strömungen kommt all das wieder an die Oberfläche, und tief in uns scheint sich nach wie vor der Wunsch erhalten zu haben, durch abergläubische Handlungen und magische Rituale unser Schicksal zu steuern. Die positivistische Wissenschaft, so könnte man sagen, ist dabei nur ein weiteres Zauberritual, wenn auch das mächtigste: Sie hat den Glauben an die Allmacht des Menschen genährt, die Ärzte und die Techniker sind zu Göttern in Weiß geworden oder haben doch wenigstens die Stellung der Hohepriester in unserer Gesellschaft eingenommen. Durch seine Forschungen scheint der Mensch stets nur noch mächtiger zu werden, dem Fortschrittsglauben sind die alten Grenzen des Menschen fremd und der neue Kult heißt: Alles ist machbar!
Aber, und das haben schon die Griechen gewusst: Hochmut kommt vor dem Fall. Der Fortschritt hat auch dunkle Dämonen auf den Plan gerufen, und zwischen der technischen Machbarkeit und den seelischen Bedürfnissen des Menschen hat sich eine schier unüberbrückbare Kluft aufgetan. Zudem war unser ach so fortschrittliches 20. Jahrhundert geprägt von Gewalt, von Umweltzerstörung und von globaler Bedrohung. Wie Goethes Zauberlehrling sind wir damit beschäftigt, die Kräfte, die wir entfesselt haben, wieder unter unsere Kontrolle zu bringen. Manchem mag der Verdacht kommen, dass die höheren Kräfte doch nicht so tot sind, wie wir geglaubt haben, und manche fürchten, dass uns in unserer Hybris nun die Endzeitkatastrophe droht.
Wenn der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen wird im Versuch, Gut und Böse in den Griff zu bekommen – dann hat bald jeder sein persönliches Menschenbild: Der eine glaubt an das Gute im Menschen und findet jede Strafe überflüssig; der andere glaubt an das Schlechte und ist für drakonische Maßnahmen. Viele haben ein strenges Gewissen in sich, das alle Fehler geißelt und ein Selbstbewusstsein gar nicht erst entstehen lässt – laut Erwin Ringel das typische Merkmal der österreichischen Seele. Und intuitiv glauben die meisten von uns immer noch, dass wir für gute Taten durch Glück belohnt und für schlechte Taten durch Unglück bestraft werden. Und wenn das nicht geschieht, dann verzweifeln wir an der himmlischen Gerechtigkeit und sind deprimiert. Vielleicht hören wir dann noch, dass ohnehin alles in den Genen vorherbestimmt, also angeboren ist: Wer gute Gene hat, hat Glück, wer schlechte Gene hat, hat Pech – Vetter Gustav und Donald Duck in biologistischer Variante.
Wie erklärt aber die moderne Psychologie die Genese von seelischem Leid und von wiederholten Schicksalsschlägen? Kann sie das überhaupt erklären oder lässt sie den Menschen in seiner Suche nach Sinnzusammenhängen im Stich? Schauen wir also kurz, welche Theorien in dieser Hinsicht aufgestellt worden sind.
Laut Lerntheorie entwickelt sich das Persönlichkeitssystem des Menschen auf Grund von Konditionierungen: Bestimmte erwünschte Verhaltensweisen werden durch soziale Zuwendung, erfolgreiches Verhalten wird durch Erfolg verstärkt. Unerwünschte Verhaltensweisen werden bestraft. Durch soziale Ablehnung entwickeln wir Minderwertigkeitsgefühle. Konditionierte Verhaltensmuster werden als allgemeine Lebensmuster generalisiert: Menschen, die viel Erfolg und positive Verstärkung erleben, entwickeln ein Erfolgskonzept; Menschen mit negativen Erfahrungen entwickeln ein Misserfolgskonzept.
Das Problem dabei ist, dass diese inneren Muster auch unsere Wahrnehmung organisieren: Negative Muster führen dazu, dass wir aus der Summe der Erfahrungen die negativen herausfiltern und gehäuft wahrnehmen, was wieder dieses unser negatives Muster – man könnte auch sagen: unseren Aberglauben – verstärkt. Menschen mit positiven Mustern dagegen nehmen bevorzugt Positives wahr und fühlen sich in ihrem Optimismus bestärkt. Hat sich einmal ein positives oder negatives Hauptmuster gebildet, so neigen wir dazu, es durch den Vorgang der Attribuierung auf alle Lebensbereiche zu übertragen – schließlich haben die meisten Ereignisse eine positive und eine negative Qualität. Der Optimist attribuiert zu den meisten Ereignissen deren positive Seite, während der Pessimist überall nur die negative Seite wahrnimmt – Vetter Gustav und Donald Duck in lerntheoretischem Gewande.
Nach der Lerntheorie ist es purer Zufall, wie ein Mensch konditioniert wird: Jeder Mensch ist beliebig konditionierbar, ähnlich dem Pawlow’schen Hund. Anders sieht das die Tiefenpsychologie seit Sigmund Freud. Hier gilt der Mensch als Produkt seiner Kindheitsgeschichte: Es sind die Beziehungen zu den Eltern, die unsere Lebensmuster sozusagen programmieren. Wenn wir liebevolle Eltern hatten, entwickeln wir positive Lebensmuster, wenn die Beziehungen zu unseren Eltern schwierig oder kränkend gewesen sind, entwickeln wir negative Lebensmuster. Glückliche Kinder werden Optimisten, gekränkte Kinder werden Pessimisten oder Depressive – Donald Duck und Vetter Gustav auf freudianische Art.
In die Praxis der Psychologen kommen hauptsächlich Menschen, die durch Schicksal und Leid geprüft sind, die Krankheiten oder seelische Leidenszustände entwickelt haben. Wir Psychologen sind also gleichsam für die Donald Ducks der Gesellschaft zuständig. Vetter Gustav zeigt uns eher die lange Nase und meint, wer sich mit Donald Duck beschäftige, sei selbst eine verrückte Witzfigur. Für den Psychologen stellt sich daher primär die Frage: Wie wird einer ein Donald Duck? Was sind die Ursachen für seelisches Leid? Warum ist beispielsweise einer durch schlechte Eltern negativ konditioniert und der andere nicht? Ist das alles Zufall oder haben doch die Götter die Hand im Spiel? Wenn ja, dann müssen die Götter verrückt sein – denn Tatsache ist, dass positive und negative Erfahrungen sehr ungerecht verteilt sind: eine glückliche oder unglückliche Kindheit etwa, das scheint das Ergebnis eines Lotteriespiels zu sein. Gott würfelt! – Oder gibt es ihn gar nicht?
Doch ob nun die Götter ihre Hand im Spiel des Menschenschicksals haben oder nicht – wir sollten uns jedenfalls die alten Mythologien anschauen, die uns von unseren Vorfahren in dieser Hinsicht überliefert worden sind. So möchte ich hier an den Tantalusmythos erinnern und im Folgenden seine Protagonisten vorstellen.
II. Tantalus, der Täter
Tantalus war reich und berühmt. Seiner hohen Abstammung wegen – er war ein Sohn des Zeus – durfte er an der Tafel der Götter speisen und alles mitanhören, was die Überirdischen unter sich besprachen. Aber sein eitler Menschengeist vermochte dieses Glück nicht zu ertragen, und er fing an, gegen die Götter zu freveln. Im Übermut und um ihre Allwissenheit auf die Probe zu stellen, ließ er seinen eigenen Sohn Pelops schlachten und den Göttern zum Mahl vorsetzen. Die Götter aber merkten den Frevel, warfen die Glieder des Knaben in einen Kessel und zogen ihn unversehrt daraus hervor.
Tantalus aber wurde in die Unterwelt verstoßen, um hier von entsetzlichen Leiden gepeinigt zu werden. Er stand mitten in einem Teich und litt quälenden Durst: Sooft er sich bückte und trinken wollte, versiegte das Wasser. Zugleich hatte er quälenden Hunger, und am Ufer des Teichs lockten herrliche Obstbäume mit reifen Früchten: Sobald er aber danach griff, fegte ein Sturm die Äste aus seiner Reichweite. Zudem lebte er in...