Der geheime Blick in die Giftküche
Das Chaos, in dem unsere schmerzhaften Wunden entstehen, ist zugleich Ausgangspunkt für unsere Heilung.
Krisen sind unsere treuesten Begleiter. Kein Alter und kein auch noch so hoher Grad an seelischer Reife machen uns sicher vor ihnen. Aus diesem Grund darf sich niemand über andere erheben und sie in ihrem Leid kritisieren, ihnen gar die Schuld dafür zuweisen. Von Naturkatastrophen und Unfällen einmal abgesehen, kommen Krisen nicht von ungefähr, einfach so. Zum einen bedingt unsere körperliche und seelische Entwicklung ihr Erscheinen, zum anderen stehen uns in manchen Wechselfällen des Lebens nicht die passenden Lösungsansätze zur Verfügung. Allerdings dürfen wir bei keiner dieser Krisen von Schuld im Sinne von Verschulden sprechen. Nur die Unkenntnis über diese Zusammenhänge zieht den verletzenden und erniedrigenden Fehlschluss nach sich, durch den die Lage vieler Leidenden noch verschlimmert wird: »Du willst nicht.« Es ist keine Frage der Willenskraft, die aus der Krise heraushilft, sondern das Fehlen von Mustern, die sich auf das Unbekannte anwenden lassen. Der Leidende will, aber er kann nicht. Viel eher also ist die Bewältigung von existenziellen Bedrohungen eine Frage des Selbstvertrauens, sich in scheinbar ausweglosem Gelände nicht verloren zu geben, sondern nach einem Ausweg zu suchen, der in eine zeitgemäße Ordnung führt, an der wir uns orientieren können. Doch um diese zu finden, müssen wir uns und anderen auch eine Zeit des Irrens zugestehen. Wir dürfen nicht erwarten, dass die eigene Situation immer sofort richtig eingeschätzt wird, dass danach die Erkenntnisse sofort in Handlungen umgesetzt werden und dass sich alles in kürzester Zeit zum Besten wendet. Krisenarbeit erfordert Zeit und Geduld, mit sich selbst genauso wie mit anderen. So unterschiedliche Menschen es gibt, so viele unterschiedliche Formen der Heilung gibt es. Manchmal brauchen wir auch die Wiederholung von Situationen, um die Lösung zu finden; eine Lektion ist dann nicht ausreichend für den Lernfortschritt der Seele. Zusammenhänge zu erkennen ist eine Seite, die andere ist es, sie mit dem Herzen zu sehen, sie sich zu Herzen zu nehmen. Erst daraus entsteht die ehrliche Bereitschaft zur Veränderung, die die Tat nicht flieht.
Einsicht erfordert Wiederholungen
Oft müssen wir feststellen, dass wir »schon wieder« in etwas hineingeraten sind, was wir gut kennen. Die einen quält eine peinliche Blamage, nachdem sie wieder das rechte Maß nicht gefunden haben. Nach der Feier nagt morgens ein schlechtes Gewissen und die Scham an ihrem Selbstbewusstsein, weil sie zu viel getrunken haben. Dies ist für viele eine allzu bekannte Art, den Tag zu beginnen. Andere sind mit dem Gefühl vertraut, dass man sie ausnutzt. Aber immer wieder fühlen sie sich verpflichtet, ihre Hilfe anzutragen, oder scheuen vor dem sicheren »Nein« zurück. Dabei sehnen sich diese Menschen nach Ruhe und Erholung, weil sie mit ihren Aufgaben bereits jetzt überlastet sind. Sie bewältigen im Büro ein zusätzliches Pensum und ärgern sich über die Kollegen, »die es sich viel leichter machen«. Auf die Idee, dass sie selbst es sind, die es sich viel schwerer machen, kommen sie nicht. Werden sie darauf angesprochen, seufzen sie meist ein entnervtes »Das ist richtig« und suchen die Ausrede in einem »Aber ich muss doch …«. Ihr Leid muss sich so oft wiederholen, bis sie fähig sind, dahinter zu schauen, was sie dazu treibt, sich zu ruinieren. Manchmal wird es nicht anders gehen, als dass sie von einer schweren Krankheit dazu gezwungen werden, so wie es das Beispiel des Verkäufers aus dem ersten Kapitel zeigte. Erst der Herzinfarkt brachte ihn zur Besinnung. Wozu er vorher angeblich keine Zeit gefunden hatte, nämlich über sich und sein Tun nachzudenken – jetzt gab es keine Ausrede mehr dafür. Womit sollte er sich von den bohrenden Fragen ablenken, die seine Seele beantwortet haben wollte: »Wofür hast du dich abgerackert?« »Was ist dafür alles auf der Strecke geblieben?«, »Was hast du dir angetan?«, »Passt es noch zu deinem Alter?« oder »Ist es unter den jetzigen Bedingungen noch sinnvoll?« Wie der Verkäufer stellen viele eines Tages fest, dass ihnen der Antrieb fehlt, dass sie keine Energie mehr mobilisieren können. Sie fühlen sich ausgezehrt und verbraucht. Eine der Diagnosen, mit der dieser Zustand heute fast inflationär beschrieben wird, ist das Burnout-Syndrom. Es sind meist die Lehrer, von denen man sagt, sie seien prädestiniert dafür. Und in der Tat machen sie die Voraussetzungen ihres Berufs besonders anfällig. Denn sie kommen nicht unmittelbar in den Genuss der Früchte ihrer Arbeit. Viel Zeit, Kraft und Ideen investieren sie in die Ausbildung ihrer Schüler, doch eine Bestätigung bekommen sie nicht oder erst wesentlich später. Aber das Phänomen ist unabhängig von Beruf und Tätigkeit. Der Grund für die totale Erschöpfung der Seele liegt in einer einseitigen Ausrichtung des Lebens, denn das ganze Leben auf eine Sache auszurichten geht auf Kosten der Vielfalt, auf Kosten der Ausgeglichenheit, wie ich Ihnen zeigen werde.
Wir brauchen die Vielfalt
Anfangs ist alles erfüllt von Enthusiasmus, hohe Ideale gelten, die Identifikation mit dem, was man tut, ist sehr hoch. »Ich war einfach begeistert. Aber jetzt kann ich nicht mehr.« So beschrieb es mir eine Frau, die sich von ihrem Mann trennen wollte und mich um Begleitung bei diesem schweren Schritt gebeten hatte. Als sie von der ersten Zeit ihrer Ehe erzählte, merkte ich, wie sehr sie heute diese anfängliche Begeisterung vermisste und wie verwundert sie darüber war, dass sie ihr abhanden gekommen war. Sie war eine energische Frau, die früher eine schier unerschöpfliche Lebensfreude antrieb. Vor keiner Arbeit scheute sie zurück, nichts war ihr zu viel, bis es eines Tages passierte: Alles kostete sie mehr an Kraft, sie fühlte sich öfter überlastet. Mit einem Mal war es vorbei mit ihrem Schwung und dem Elan. Was tat sie? »Ich strengte mich noch mehr an«, sagte sie, »schließlich hatte ich den Haushalt und die Kinder, die mich brauchten.« Je mehr sie sich anstrengte, desto müder wurde sie, desto geringer wurde ihr Antrieb. Ihre Kraftreserve schien aufgebraucht, obwohl sie nicht mehr als vorher zu erledigen hatte. Hatte sie sich also in den Jahren zuvor verausgabt, ihre Kraft auf einmal vergeudet, statt sie sich besser einzuteilen? Nein, denn uns allen steht ein unbegrenztes Reservoir an Kraft im Innern zur Verfügung, aber nur für die richtige Aufgabe, sonst verausgaben wir uns. Da wurde die Frau hellhörig. Seit langem nämlich beschlichen sie Zweifel, ob das, was sie tat, überhaupt einen Sinn hatte. Die Kinder versorgen, den Haushalt in Schuss halten, für ihren Mann da sein, das war ihr einziger Lebensinhalt. »Aber wofür?«, fragte sie verzweifelt. »Es ist doch alles sinnlos.« Den Grund für diese Resignation sah sie darin, dass niemand ihre Arbeit wertschätzte. Kein Lob, keine anerkennenden Worte würdigten ihren Einsatz, der als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wurde. Das allerdings war nur eine Seite der Medaille. Natürlich brauchte sie Lob und Anerkennung von anderen. In gewisser Art und Weise machte sie sich auch abhängig davon. Früher wusste sie, wofür sie die Mühe aufwandte. Das Haus, die Familie, alles sollte so schön wie möglich sein. Hauptsache, ihre Lieben fühlten sich wohl. Das war ihr Lohn genug.
Kapitulieren heißt neu starten
Aber sie legte die Hürden in puncto Leistung auch sehr hoch. Dies war die zweite Seite der Medaille. Um ihr Ziel zu erreichen, investierte sie ungeheure Kraft, die nie genug sein konnte, weil die Ziele immer höher geschraubt wurden. Das war die andere Seite ihres Zusammenbruchs. Denn ganz unmerklich war allein die Familie ins Zentrum ihres Denkens geraten, alles drehte sich nur noch um sie, ihr galt das ganze Streben. Doch so wie sich ein Angestellter anstrengt, mit ganzem Einsatz sein Bestes zu geben, es wird immer nur ein Hinterherlaufen sein, denn auch er wird irgendwann einmal registrieren müssen, dass er ersetzbar ist, sei es durch neue Technologien, sei es durch jüngere Kollegen. Immer wird er seine Anstrengungen im Wettbewerb mit diesen Faktoren hochschrauben. Ähnlich erging es auch der Mutter. Sie merkte, dass sie immer mehr für ihr Ziel aufwenden musste, sich das Ideal immer weiter von der Realität entfernte. Die Kinder wurden langsam unabhängiger, auch ihr Mann ging eigene Wege. So erwiesen sich ihre Hoffnungen als trügerisch. Die Familie gab ihr nicht das, was sie gebraucht hätte, denn das konnte nur aus ihr selbst kommen: Die Bestätigung und die Wertschätzung ihrer Arbeit und letztlich auch ihrer selbst. Aber all der Aufwand, den sie betrieben hatte, war einseitig angelegt und deswegen zum Scheitern verurteilt. Sie hatte sich auf die Familie konzentriert, und nur auf die Familie. Das war der einzige Wert in ihrem Leben, alles Denken kreiste darum. Als ich sie fragte, was sie sonst noch in den letzten Jahren unternommen und welche anderen Schwerpunkte sie gesetzt hatte, schwieg sie. Zum Ausgehen hatte sie keine Zeit gehabt, Freunde waren auf der Strecke geblieben, das Musizieren hatte sie schon lange aus Zeitmangel aufgegeben. All das traf übrigens für die Familienmitglieder nicht zu. Deshalb also war die Frau ohne Lebensmut und ohne ihre Selbstachtung zu mir gekommen: Ihr Lebensentwurf war gescheitert, weil das Einzige, worauf sie sich konzentriert hatte, zu zerbrechen drohte. Der erste Schritt aus der Krise heraus führte über die Einsicht in die Zusammenhänge. Ihr musste erst gegenwärtig werden, warum sie in dieser Lage war; dann nämlich ist in einer Krise eine Heilung möglich. Wer akzeptiert, dass er nun einmal eine schwere Phase...