Tagebucheintrag
Ich werde das Bild nicht mehr los. Wir saßen einander stumm gegenüber und schauten uns fassungslos an. Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Ich konnte immer noch nicht begreifen, wie es mein Kollege vermocht hatte, mich derart zu hintergehen und mir in den Rücken zu fallen. Und dabei hatte ich so viel Vertrauen in ihn gesetzt. Mehr vielleicht, als angemessen war. Aber ich hatte mich in meiner Verantwortung und meinen Entscheidungen oft einsam gefühlt. Daher hatte ich mir jemanden gewünscht, der mich und meine Aufgabe mitträgt. Jemanden, der mich versteht und bei dem ich auch meine Enttäuschungen abladen konnte.
Vielleicht hatte ich meinen Kollegen durch das zu große Vertrauen, das ich in ihn gesetzt hatte, auch überfordert. Ich hatte mehr von ihm erwartet als nur kollegiale Verlässlichkeit. Ich hatte freundschaftliche Nähe und Verbundenheit gesucht. Und das Interesse an einer solchen hatte er signalisiert! Doch nun das böse Erwachen, dass er über mich geredet hat. Er hat sich vor anderen mit Informationen wichtig gemacht, die ich ihm höchst vertraulich mitgeteilt hatte. Heute Morgen habe ich es durch einen dummen Zufall erfahren und ihn sofort zu mir gebeten, um ihn damit zu konfrontieren.
Nun saßen wir da, Aug’ in Auge. Ich atmete laut durch und schüttelte den Kopf. Voll Unverständnis. Und tief verletzt. Ich konnte nichts mehr sagen. Nach einer langen Zeit der Stille stand ich auf und öffnete die Tür. Als mein Kollege draußen war, brach der Schmerz über mich herein. Ich fing an zu weinen, ballte die Fäuste, stampfte auf den Boden. »Das darf nicht wahr sein!«, sagte ich immer wieder. Widersprüchliche Gefühle rissen mich hin und her. »Dem werde ich es zeigen!«, stieß ich mit hartem Gesicht hervor. Zugleich gab es den Wunsch, dass es doch wieder wie vorher sein sollte, als ich meinte, eine Vertrauensperson gefunden zu haben. Ich fühlte mich, als ob jemand mit Stiefeln durch meinen inneren Garten getrampelt wäre und dabei die zarten Pflanzen rücksichtslos niedergetreten hätte.
Es gibt kein Leben ohne Kränkungen
Wir kommen nicht unverletzt durchs Leben. Ob mit Absicht oder aus Versehen, ob bewusst oder unbewusst: Immer wieder kränken wir andere Menschen und werden gekränkt. Manche dieser Wunden gehen tief und wollen einfach nicht heilen. Ruhelos kreisen unsere Gedanken um die andere Person und ihr verletzendes Verhalten. In uns schreit es empört auf: »Wie konntest du mir das antun?!« Wir werden mit dem, was passiert ist, nicht fertig, sondern wie bei einem Endlosband spielen wir das einschneidende Geschehen wieder und immer wieder durch. Die schmerzhafte Kränkung wirbelt unser Inneres durcheinander. Widerstreitende Gefühle zerren an uns und werfen uns aus der Bahn: Wut und Zorn flammen auf, vielleicht gepaart mit Rachefantasien, in denen wir uns genüsslich ausmalen, wie wir dem anderen seinen Fehler heimzahlen. In einer Mischung aus Zorn und Angst würden wir ihn am liebsten auf den Mond schießen. Fühlen wir uns so gedemütigt und erniedrigt, dann wünschen wir uns vor lauter Scham ganz weit weg oder würden uns gern in Luft auflösen. Besonders unerträglich wird es, wenn uns das beklemmende Gefühl von Ohnmacht beschleicht. Denn dann überschwemmen uns Angst und Selbstzweifel und wir fühlen uns wie gelähmt. Derart tief verletzt ziehen sich manche von uns verängstigt oder schmollend zurück, andere gehen zum Angriff über.
Das Beunruhigende ist: Es scheint keinen Lebensbereich zu geben, in dem wir nicht durch andere verletzt werden können oder selbst andere verletzen. Folgende Beispiele zeigen in erschreckender Weise, wie verwundbar wir in den verschiedenen Zusammenhängen unseres Alltags sind.
Immer wieder kommt es im Berufsleben zu Kränkungen: Illoyalität, Mobbing, Gerede, fehlende Informationen, unfaire Kritik, Sexismus, ungerechter Lohn, Benachteiligung und Kündigung sind Beispiele für schmerzhafte Erfahrungen, um welche wohl keiner im Lauf seiner Arbeitsbiografie herumkommt. Dabei können andere uns nicht nur durch ihr aktives Verhalten verletzen, sondern auch dadurch, dass sie uns etwas vorenthalten, beispielsweise indem sie Hilfe verweigern oder es an Wertschätzung fehlen lassen. Dies ist etwa der Fall, wenn in einem Betrieb oder in der eigenen Familie das Lob gar nicht vorgesehen ist – gemäß dem schwäbischen Sprichwort »Ned g‘schempfd isch gnug g‘lobd« (»Nicht geschimpft ist genug gelobt«). Oder wenn uns durch falsche Rücksichtnahme ein kritisches Echo vorenthalten wird, das uns hätte aufrütteln können. So etwas ist umso enttäuschender, wenn es in einer Freundschafts- oder Liebesbeziehung passiert. Die Wunde geht tief, wenn wir erfahren müssen: Mein Partner oder meine Freundin plaudern Anvertrautes weiter, missbrauchen mein Vertrauen, demütigen oder hintergehen mich. Eine mir nahestehende Person verweigert mir ihre Unterstützung oder wird gewalttätig gegen mich; sie verlässt mich oder reicht die Scheidung ein; sie erwidert meine Liebe nicht …
In unserer Kindheit waren wir möglichen Kränkungen und Attacken besonders schutzlos ausgeliefert. Wir alle kommen mit der Sehnsucht auf die Welt, dass wir die Liebe eines anderen spüren und erfahren, erwünscht zu sein. Wir brauchen Eltern oder nahe wichtige Bezugspersonen, die uns Geborgenheit und Urvertrauen schenken; die uns den Rücken stärken und ermutigen, das Leben zu wagen. Wenn wir als Kind aber permanent beschimpft oder entwertet, zurückgesetzt oder vernachlässigt wurden, oder wenn wir uns unerwünscht fühlten, so ist das Weiche und Sensible in uns schwer verwundet worden. Und wer Gewalt oder Missbrauch ausgesetzt war, wurde bis ins Mark verletzt.
Doch nicht nur Menschen, sondern auch Strukturen können uns tief verletzen. Viele leiden unter systemischer Ungerechtigkeit: Benachteiligung aufgrund von Geschlecht oder Hautfarbe, das oft ausbeuterische Diktat von Gewinnmaximierung, ungerechte Entlohnung oder Entscheidungsstrukturen, die Partizipation ausschließen, all das sind Beispiele dafür, wie tagtäglich strukturelle Ohnmacht erzeugt wird. Und all dies kann chronisch krank machen!
Wenn wir Kränkungen nicht einfach verdrängen, sondern aufmerksam betrachten, werden wir vermutlich schnell eine unterschiedliche Verletzbarkeit feststellen. Manchmal kann der finstere Blick eines anderen unsere heitere Stimmung in keiner Weise trüben, ein andermal verdirbt er uns den ganzen Tag. Woran liegt es, dass wir in manchen Situationen verwundbarer sind als in anderen? Wann treffen uns Kränkungen besonders heftig?
Verletzungen können uns tiefer verwunden, wenn sie schwerwiegend sind. Oder wenn wir uns zu dem Zeitpunkt eher instabil fühlen und somit leichter aus der Bahn geworfen werden. Sie treffen uns auch umso mehr, je weniger wir uns in anderen Beziehungen aufgehoben und angenommen erfahren. Darüber hinaus empfinden wir eine Kränkung als besonders gravierend, wenn wir die andere Person und ihre Motive als böswillig erleben: Eine Nachbarin, die absichtlich Gerüchte über mich in die Welt setzt, um meinen Ruf zu schädigen, kränkt mich mehr als jemand, der aus einem Missverständnis heraus eine falsche Anschuldigung verbreitet.
Am meisten verletzbar sind wir in Beziehungen, die für uns bedeutsam und emotional wichtig sind: als Kinder in der Beziehung zu unseren Eltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen; als Jugendliche und Erwachsene in Freundschaften, Liebesbeziehungen und Partnerschaften. Während der grantige Tonfall eines Wiener Kellners an mir abgleitet, kann der boshafte Stich eines geliebten Menschen ins Mark treffen. Denn je größer meine Zuneigung ist, desto näher lasse ich mein Gegenüber an mich heran. Nie bin ich verletzlicher als in Beziehungen, in denen ich mich aus Liebe einem anderen öffne und anvertraue. Ich lege Panzer und Schutzschild ab und daher schneidet eine Zurückweisung von Freundschaft und Liebe tief ins Fleisch. Je enger die Beziehung, umso schmerzlicher und heftiger trifft mich ein Missverständnis, eine gefühlte Distanz und Fremdheit, eine verweigerte Nähe oder gar eine Gemeinheit. Bei einem Verrat entsteht sogar der Eindruck, dass der Dolch der Verletzung von hinten kommt: Ein Mensch, von dem ich glaubte, dass er hinter mir steht, fällt mir von dort aus in den Rücken!
Schließlich kann uns das Verhalten einer anderen Person über die Maßen treffen, wenn es eine alte Narbe berührt. Wir alle haben aufgrund unserer Lebensgeschichte wunde Punkte, an denen wir verletzt wurden und nun besonders verwundbar sind. Wir kennen sensible Stellen von empfindsamer Dünnhäutigkeit. Ein Beispiel: Angenommen, Sie wurden in Ihrer Kindheit immer wieder mit Liebesentzug bestraft. An Ihrem Geburtstag warten Sie vergeblich auf den Glückwunsch Ihrer Kollegen und am Abend vergisst dann auch noch ein Freund Ihre Essenseinladung. Mit einem Schlag werden Ihre (vor allem emotionalen) Erinnerungen an die früheren Kränkungen wieder wach. Sie fühlen sich äußerst verunsichert oder haben den Eindruck, nichts wert und keinem Menschen wichtig zu sein – Selbstzweifel, die Sie schon längst überwunden glaubten. Vielleicht wundern Sie sich über die Heftigkeit Ihrer Reaktion. Diese wird verständlicher, wenn Sie mit der Zeit entdecken: »Weil ich an einem wunden Punkt getroffen worden bin, konnte die Sache mich derart tief verletzen.«
Das verwundete Selbstwertgefühl
Kränkungen, die aus böser Absicht geschehen, sind deshalb so schmerzhaft, weil sie unser Selbstwertgefühl in besonderer Weise verletzen. Wenn wir ein Verhalten als böswillig empfinden, dann vermittelt es den Eindruck: »Du bist es nicht wert, dass ich dir...