Zum Beginn
»Eine Krise kann jeder Idiot haben.
Was uns zu schaffen macht, ist der Alltag.«
Anton Tschechow
Ich vermute schon lange, dass mein Stammitaliener, nennen wir ihn »Luigi«, zumindest über mehrere Ecken hinweg mit Leuten verwandt ist, die ihren Mitgliedsausweis bei der Camorra regelmäßig verlängern lassen. Im Vergleich zu dem Yogi allerdings, mit dem ich an einem Abend in seinem Restaurant auftauchte, sind Luigis Familienangehörige vermutlich ausnahmslos sanfte Lämmer. Mein Begleiter genießt in der Yogaszene Kultstatus, weil er gleichsam vom Saulus zum Paulus geworden ist. Er ist ein freundlicher und höflicher Mann im mittleren Lebensalter, der inneren Frieden und Gelassenheit ausstrahlt. Wenn man Außenstehende gefragt hätte, wer von den beiden Typen an dem Tisch der Pizzeria eher fähig sei, zu rauben und zu töten, hätten sie vermutlich auf mich gezeigt.
Bis zum 15. August 2007 kannte Luigi alle Italiener der Welt. Wenn ich ihm von meinen alten Fahndungszeiten erzählte, in denen ich mit diesem oder jenem italienischen Ganoven oder Gastronomen (was selbstverständlich nur in äußerst seltenen Fällen dasselbe ist …) zu tun hatte, wusste Luigi bezüglich der von mir angesprochenen Person noch eine Geschichte draufzulegen. Es gab keinen italienischen Kellner, keinen italienischen Koch, den Luigi nicht kannte. Wie gesagt, bis zum 15. August des Jahres 2007. Seitdem kennt er niemanden mehr. Zumindest keinen Italiener. Seinen Aussagen zufolge müsste er seit seiner Geburt der einsamste Mensch der Welt gewesen sein, aufgewachsen ohne Mutter, Vater, Geschwister und Cousins. Die einzigen Menschen, die er noch kennt, sind liebenswerte Deutsche, die in seinem Restaurant Nudeln und Pizza verzehren. Selbst die Namen seiner italienischen Angestellten sind ihm vollkommen fremd. Am 14. August 2007 war sein Gedächtnis noch vollkommen okay gewesen. Es gab keinerlei Anzeichen oder Symptome, die Anlass zur Sorge gegeben hätten. Luigis Amnesie kam plötzlich und unerwartet, quasi über Nacht. Genauer gesagt: in den frühen Morgenstunden des Tages von Mariä Himmelfahrt, als vor einem italienischen Restaurant in der Duisburger Innenstadt sechs Männer mit insgesamt siebzig Schüssen aus Maschinenpistolen getötet wurden. Der spektakuläre Fall ging als der »Mafiamord von Duisburg« in die Kriminalgeschichte ein.
Gott sei Dank handelte es sich bei dem Restaurant nicht um den Laden von Luigi, in dem Karina und ich seit fast zwanzig Jahren verkehren. Nur ungern hätten wir uns ein anderes Restaurant gesucht. (In dieser Hinsicht sind wir ausgesprochen konservativ.) Die Familien der Opfer und – wie sich sehr schnell herausstellte – auch der Täter des brutalen Anschlags stammten allesamt aus der italienischen Region Kalabrien. Durch den sechsfachen Mord in Duisburg wurde das kalabrische Dorf San Luca quasi über Nacht berühmt. »Grüße aus San Luca« titelte beispielsweise der Stern. Ich erinnerte mich, dass auch Luigi aus Kalabrien kam und in den vergangenen Jahren mehrfach von San Luca gesprochen hatte. Nun aber, als ich ihn darauf ansprach: »Mensch, Junge, sämtliche Protagonisten des Attentats kamen aus demselben Kaff wie du …«, winkte er vehement ab. Seinen ersten Babyschrei habe er weit von San Luca entfernt abgelassen, versicherte er. Niemals in seinem Leben sei er dort gewesen, auch kenne er niemanden, der jemals dort gewesen, geschweige denn geboren sei. Wo zum Teufel ist San Luca …?
Nun, fünf Jahre später, saß ich zusammen mit einem Yogi an Tisch 13, meinem Stammplatz im hinteren Bereich von Luigis Restaurant. Mein Begleiter hat mehr als die Hälfte seines Lebens im Knast verbracht, weil er vor über 25 Jahren auf brutalste Weise einen Menschen beraubt und getötet hatte. Nach einigen Jahren Haft war er aus dem Gefängnis ausgebrochen und hatte sich mit den Polizisten, die ihn wieder einfangen wollten, eine wilde Schießerei geliefert. Dies hatte ihm für die nächsten Jahre eine Unterkunft im Hochsicherheitstrakt eingebracht. Wäre es nach der deutschen Justiz gegangen, hätte er seine Zelle – wenn überhaupt – erst als alter Mann wieder verlassen. Doch er hatte Glück: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte vor einigen Jahren die deutsche Praxis der Sicherheitsverwahrung als Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention, und infolge dessen mussten etliche hochkarätige Straftäter aus deutschen Gefängnissen freigelassen werden. Einer der Glücklichen war der Mann, der nun freundlich lächelnd mit mir zusammen an Tisch 13 saß und ein vegetarisches Nudelgericht verspeiste. Auf meinem Teller lag eine »Pizza Bomba la Bomba«, eine Art »Calzone«, gefüllt mit allem, was die italienische Küche so hergibt. Diese Pizza trägt ihren Namen zu Recht, da sie wie eine überdimensionale Handgranate aussieht. Passend zum Thema, könnte man sagen. Die »Pizza Bomba« ist im Übrigen auf Luigis Speisekarte direkt unter den Gerichten »Pizza Al Capone« und »Pizza Mafia« platziert, was selbstverständlich nichts zu bedeuten hat. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass Duisburg meines Wissens die einzige Stadt in Deutschland ist, die über eine Mafiastraße verfügt. Sie befindet sich nicht allzu weit von Luigis Laden, in dem an diesem Abend ein ehemaliger Schwerverbrecher und ein ehemaliger Zielfahnder zusammentrafen.
Verabredet hatten wir uns allerdings nicht, um über alte Zeiten zu plaudern, vielmehr sprachen wir über spirituelle Themen. Mein Begleiter hatte während der Haft mit der Praxis des Yoga begonnen und mit dieser Disziplin nicht mehr aufgehört. Seit mehr als zehn Jahren nun meditiert er täglich. Zunächst hatte er sich im Gefängnis zurückgezogen und von den anderen Insassen abgeschottet, im Laufe der Zeit hatte er begonnen, anderen Häftlingen die Yogapraxis und insbesondere »Ahimsa«, das yogische Prinzip der Gewaltlosigkeit, zu vermitteln. Er hatte einen Job in der Gefängnisbücherei übernommen und spirituelle Literatur verschlungen. Heute, in Freiheit, reist er als Yogalehrer durch die Lande und veranstaltet unter anderem Kurse in Justizvollzugsanstalten.
»Viele Jahre vor meiner Freilassung aus der Haft habe ich durch Yoga meine innere Freiheit erlangt«, sagte er. »Ich habe zu Gott gefunden.«
Dass Straftäter im Knast ihren Hang zur Spiritualität beziehungsweise Religion entdecken, ist nichts Neues. Je höher die Strafe, desto wahrscheinlicher wird es, dass ein Gefangener gläubig wird. Ein Mensch, der keine weltliche Perspektive mehr hat, muss sie im Geistigen suchen. Was bleibt, wenn ihm alles genommen wurde? Wer bleibt, wenn ihn alle verlassen haben? Am offenkundigsten wird dieses Phänomen bei Menschen, denen die härteste Strafe auferlegt wurde, die überhaupt denkbar ist. So ist es nicht verwunderlich, dass in den Todestrakten amerikanischer Gefängnisse lauter Fromme einsitzen. Gott sei Dank nimmt die Anzahl der Länder, in denen die Todesstrafe verhängt wird, Jahr für Jahr ab. Ein unrühmliches Gegenbeispiel sind die USA. Zur Zeit haben dort lediglich siebzehn Bundesstaaten die Todesstrafe abgeschafft. Nebenbei bemerkt finde ich beachtenswert, dass die Quote der bekennenden Christen, allen voran der Evangelikalen, in den übrigen 33 Bundesstaaten deutlich höher ist als in den »humanen«. Die Gouverneure der Hardlinerstaaten bekunden öffentlich gern ihren festen Glauben an einen Mann namens Jesus, der sich bekanntlich auf die Seite der Sünder gestellt hatte und nicht zuletzt deshalb von der Obrigkeit zum Tode verurteilt worden war. Sie beten zum Erlöser und verhalten sich dennoch wie Pontius Pilatus, zumindest in den Momenten, in denen sie die Gnadengesuche der Delinquenten ablehnen.
Die amerikanische Sängerin Britney Spears hat zu diesem Thema übrigens mal in einem Interview gesagt: »Ich bin für die Todesstrafe. Wer etwas Schlimmes tut, muss die entsprechende Strafe bekommen. Damit er fürs nächste Mal lernt.« Alles klar, Britney …!
Ich persönlich bin sehr glücklich darüber, dass ich in einem Staat lebe, der die Würde aller Menschen achtet (auch derjenigen, die gegen Gesetze verstoßen haben) und dies unter anderem dadurch zeigt, dass er niemanden umbringt. Zu einem würdevollen Umgang eines Staates mit seinen Bürgern gehört allerdings auch, dass er deren Verantwortung ernst nimmt und gegebenenfalls vor Gericht einfordert. In meiner aktiven Zeit als Kriminalbeamter habe ich es mit vielen Leuten zu tun gehabt, die aufgrund ihres kriminellen Verhaltens eine Gefahr für andere darstellten und deshalb für eine gewisse Zeit aus dem Verkehr gezogen werden mussten. Leute wie beispielsweise der Yogi, der an diesem Abend bei Luigi an Tisch 13 Spaghetti mit Gemüse aß.
Währenddessen sprach er über Buddhismus und insbesondere über die Lehre vom Karma, der zufolge sämtliche Begegnungen in diesem Leben Verabredungen aus einem vorherigen wären. »Es geht darum, einen Ausgleich zu schaffen, eine Harmonie wiederherzustellen«, sagte er. »Was in einem früheren Leben in Ungleichgewicht geraten ist, wird in diesem Leben ausgeglichen, und was in diesem Leben in Ungleichgewicht gerät, wird im nächsten Leben ausgeglichen.«
»Du meinst, Reinkarnation gibt uns die Gelegenheit, offene Rechnungen zu begleichen?«, fragte ich.
Ganz so hart wollte der Yogi es nicht formulieren, im Grundsatz aber stimmte er mir zu. Wir einigten uns auf den Begriff »karmischer Täter-Opfer-Ausgleich«.
Ich fragte ihn, ob er sich auch mit den Gefühlen seines jetzigen Lebens auseinandergesetzt hätte, mit den Schmerzen seiner Opfer beispielsweise, mit den Emotionen der Familienangehörigen und nicht zuletzt auch mit seinen eigenen Schuldgefühlen? »Bekommt man die mit gymnastischen Yogaübungen weg? Hilft da ein täglicher Handstand?«
»Ja«, sagte er, »wenn du den...