EINLEITUNG – Begegnung in Beziehungen
„Wenn wir uns berühren lassen, ist das Kunst.“
Khalil Gibran
Wenig betrifft uns so sehr und bedeutet uns so viel wie Beziehungen. Denn sie haben die Macht, uns zu berühren. Wenn Ehen oder ganze Familien auseinanderbrechen, so brechen wir mit ihnen ein Stück weit mit. Wir brechen auf – und das ist höchst anstrengend. Streit und Konflikte am Arbeitsplatz sind nicht nur mühsam, aufreibend und kräftezehrend, sie brennen uns sogar aus. Freunde kommen uns plötzlich oder langsam abhanden, Lebensabschnittspartner kommen und gehen. Was bleibt, ist Einsamkeit. Das Scheitern im Beziehungsleben ist mindestens so hart wie das Scheitern im Berufsleben. Und oft treten beide Formen des Scheiterns gemeinsam auf. Wobei das Scheitern notwendig ist, um uns zu zeigen, was uns wichtig ist und inwiefern wir uns selbst davon abhalten, es zu erleben.
Worum es in Beziehungen wirklich geht
Eine Beziehung spendet uns den vertrauensvollen Rahmen, uns zu begegnen – zuallererst uns selbst, im und durch den anderen. Gute Beziehungen zeichnen sich vor allem durch diese Kraft der Begegnung aus. Es ist dies eine besondere Qualität, denn wir erkennen in der Begegnung nicht nur uns selbst und die Bedeutung(en) des Daseins. Wir begegnen uns darüber hinaus in einer Überfülle an Vitalität. Gute Beziehungen machen das Leben erst so richtig lebenswert. So tragen wir dann auch unsere ganz speziellen Vorstellungen in uns, wie eine richtig gute Beziehung aussehen sollte: Das ideale Bild von der glücklichen Familie, von der Traumfrau, vom Traummann. Wir haben eine klare Vorstellung vom perfekten Chef oder dem pflegeleichten, kauffreudigen Kunden, von der wunderbaren Kollegin, der besten aller Freundinnen, dem einen echten Kumpel. Wir kennen die tiefe Sehnsucht nach gegenseitigem Vertrauen, grenzenloser Unterstützung und bedingungsloser Verlässlichkeit. Wir sehnen uns nach der Erfüllung unserer Wünsche: Wir wollen gemeinsam alt werden und wir wünschen uns zugleich sinnliches Prickeln ohne Ende. Wollen treue und aufregende Partner, verständnisvolle und abenteuerlustige Partnerinnen. Einen Vorgesetzten, der klare Direktiven gibt, ohne uns zugleich vorzugeben, was wir alles wann und wie zu tun haben. Freunde, die für uns da sind, ohne uns durch ihre Sichtweisen einzuschränken. Die Wunschliste gegensätzlicher Eigenschaften einer für uns perfekten Beziehung ließe sich endlos fortsetzen.
Wir sehnen uns nach Menschen, die uns das geben, was wir – von Kindheit an – so dringend brauchen: Zuneigung, Anerkennung, Geborgenheit, Akzeptanz, Unterstützung, Wärme. Oder aber das Gegenteil, z. B. Abweisung, Abwertung, Grenzsetzung. Je nach früher Musterprägung ist ein ganz bestimmtes Setting im Sinne eines „Ursache-Wirkungsfeldes“ vonnöten, damit wir uns gesehen bzw. „geliebt“ fühlen bzw. das Gefühl von „Liebe“ in uns ausgelöst wird.
Viele unter uns, die mit ihrem Beziehungsleben unzufrieden sind, sind darauf gepolt, unglücklich damit zu sein und diesen Zustand als normal zu empfinden. Der Begriff Beziehung meint hier und in Folge nicht nur die Partnerschaft, sondern alle Formen des intensiven Miteinanders. Wobei die Intensität völlig unterschiedliche Formen annehmen kann: Manche leben in Abhängigkeitsverhältnissen emotionaler oder finanzieller Natur. Andere erwarten (nicht immer nur unbewusst), schlecht behandelt, heruntergemacht, ignoriert zu werden. Dritte brauchen die Reibungswärme, ein ständiges Auf und Ab, um sich und einander zu spüren. Unsere Beziehungsprogrammierung kreiert unablässig eine Selffulfilling Prophecy, eine sich „selbsterfüllende Erwartung“. Wir sehen uns selbst und andere durch die Brille, die uns in frühen Jahren schon aufgesetzt wurde und die wir durch Gewohnheit als unsere Wirklichkeit akzeptiert haben. So können wir damit auch nur jene Aspekte eines Menschen wirklich scharf erkennen, auf die wir trainiert wurden. Dies ist ein grundlegendes Dilemma, das es zunächst zu registrieren und mit dem es sodann umzugehen gilt.
Neue Wege zu- und miteinander
Um eine Lockerung bis Lösung des Alten, Vorprogrammierten zu erreichen und damit eine Neuorientierung zu ermöglichen, tauchen wir im ersten Teil des Buches mit dem Titel REFLEXION zunächst in deine persönliche Ausgangslage ein. Dieser Abschnitt ist dem Erkennen gewidmet. Wie wurdest du geprägt, was suchst du daher, wie und warum funktionieren deine Beziehungen (nicht)? Im ersten Abschnitt gewinnst du wertvolle Informationen über dich, deine Familie und die Beziehungen, in denen du „steckst“. Gerade bei diesen Übungen kann es vorkommen, dass die Auseinandersetzung mit vielleicht nur einer einzigen Frage lange dauert. Nimm dir diese Zeit. Keine Übung muss innerhalb von wenigen Minuten erledigt werden. Es geht in diesem Erkenntnisprozess bereits darum, die Weichen für neue Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten zu stellen. Schau, was dich beschäftigt, und bleib dran!
Wozu neue Wege suchen und gehen?
Du hast vielleicht den Wunsch, einen passenden Partner, inspirierende Kollegen oder vertrauenswürdige Freunde zu finden und zu halten. Du verfolgst vielleicht das Ziel, eine stabile Familie zu gründen, dein Beziehungserleben in der vorhandenen Familie zu verändern oder ganz allgemein einer dir wohltuenden Umgebung anzugehören. Zumeist jedenfalls wollen wir das Miteinander nicht einseitig, sondern uns gleichzeitig im intensiven Austausch, im „Senden und Empfangen“ bzw. im „Geben und Nehmen“ erleben. Im besten Fall verständigen sich alle Beteiligten dabei auf derselben – und darunter verstehen wir primär eine unseren eigenen Vorstellungen und Prägungen entsprechenden – Frequenz. Wir wünschen uns eine erfüllendere Gegenseitigkeit, wollen so miteinander kommunizieren, umgehen, interagieren, wie wir es ganz selbstverständlich für sinnvoll und wunderbar halten.
Die schlechten Nachrichten
Dass andere so sind oder je sein werden, wie wir sie uns vorstellen, ist jedoch ein irrealer Wunsch. Niemand ist wie du – oder deine Vorstellung. Jeder von uns ist definitiv einzigartig und weicht damit von anderen und deren Sichtweisen wie Erwartungen ab. Die Unverwechselbarkeit jedes Einzelnen ist im Prinzip auch eine großartige Sache. Aber wir wollen unsere Einzigartigkeit – oder die des anderen – während der meisten Beziehungszeit nicht wirklich wahrhaben. Hier beginnt das Problem. Wir wollen nicht zu 100 Prozent mitbekommen, was in uns selbst oder rundherum eigentlich und wirklich so los ist. Wir wollen nicht wissen, wie sehr wir uns voneinander unterscheiden. Denn unsere Verschiedenheit lässt uns einsam fühlen und alleine dastehen. Verzweifelt denken wir vielleicht immer wieder: „Versteht mich denn niemand? Gibt es denn niemand auf derselben, auf meiner Wellenlänge?“
Zur selben Zeit suchen wir üblicherweise Sicherheit in der Wiederholung uns altbekannter Muster. Durch diesen Kreislauf stets selbstähnlichen Verhaltens bewirken wir aber nur das ewig Gleiche: Statt Zufriedenheit durch einen qualitativ hochwertigen Austausch zu erlangen, erreichen wir den (Interaktions-)Partner jedes Mal aufs Neue nicht. Wir verstehen einander nicht wirklich. Wie können sich zwei Menschen auch tatsächlich begegnen, wenn beide im Grunde nur die eigene „Wahrheit“ bestätigt wissen wollen und die eigenen Wünsche und Bedürfnisse erfüllt bekommen möchten? Eine Zeit lang hilft vielleicht das „Gemeinsam-als-Familie-Funktionieren“ oder „Als-perfektes-Paar-Auftreten“ oder „Auf-gemeinsame-Zieleim-Beruf-Konzentrieren“ über diese grundlegende Ungereimtheit hinweg. Andere Formen des sich Anpassens oder Einfügens in gemeinsame Vorstellungen und Rahmen findet man auch „Beieinem-Verein/Klub/Lokal/Partei/Kirche-nach-den-Spielregeln-Mitmachen“. Früher oder später wird dabei dann entweder das eigene Selbstbild den äußeren Erwartungen angepasst oder die Regeln der Gemeinschaft werden nach den eigenen Vorstellungen verändert. Oder aber die Dissonanz, die Un-Stimmigkeit, zwischen Wunsch und Wirklichkeit wird immer größer. Oft wird dieses Gefühl des Nicht-dazu-Passens so lange verdrängt, bis wir wirklich zutiefst enttäuscht, wütend oder physisch krank werden, grundlegend an uns selbst zweifeln oder vielleicht sogar gänzlich am Leben verzweifeln.
Diese Ent-Täuschung, verursacht durch das Nicht-Übereinstimmen von der erwarteten Vorstellung und der erlebten Realität, betrifft nicht nur den Bereich der Paarbeziehung. Wir wünschen uns Akzeptanz, Verständnis und Zuneigung (in Form der jeweils eigenen Prägungen) sowohl von unseren Partnern als auch von unseren Freunden, Verwandten und Kollegen.
Real hingegen ist, dass die zwischenmenschliche Interaktion nur zu oft eine Quelle der Frustration, Enttäuschung und des Zornes ist. Wiederholte oder besonders negative...