Erkenne, dass du selbst deine Wirklichkeit aus dem schaffst, was du für Tatsachen hältst.
Ein bisschen seltsam scheint die Idee ja schon. Jeder schafft sich seine eigene Wirklichkeit, in der er dann lebt. Ich schaffe mir meine, Sie schaffen sich Ihre, und wir leben beide in zwei verschiedenen Realitäten. Als ob Wirklichkeit etwas wäre, das man schaffen und nach Belieben verändern kann. Und als ob sich meine Wirklichkeit von Ihrer unterscheiden könnte. Wie sollte denn das funktionieren? Entsteht Wirklichkeit nicht aus Tatsachen? Und was hat das mit dem Denken und unserem Drachen zu tun?
Der Drache in dir
Beginnen wir mit einem einfachen Beispiel. Sagen wir, Sie und ich, wir lesen beide das gleiche Buch. Es ist ein Kriminalroman, in dem ein Polizist einen Verbrecher jagt. Der Autor beschreibt so detailliert das Aussehen, das Umfeld und das Leben dieser zwei Personen, dass wir meinen, die beiden würden real existieren. Wir erfahren alles über das Alter, den Beruf, die Vorlieben und den Charakter der Darsteller. Wir wissen, was sie essen, wann sie aufstehen, wie sie sich kleiden und dass einer der beiden immer mit der Waffe schläft. Hätte nun Wirklichkeit vorrangig mit Tatsachen zu tun, müssten wir doch exakt die gleiche Vorstellung davon haben, wie die Personen aussehen, oder?
Schließlich liegen uns beiden dieselben Fakten vor. Wir müssten für die gleiche Person Sympathie empfinden und den gleichen Darsteller ablehnen. Auch unsere Vorstellung von der Umgebung, in der diese Geschichte spielt, müsste ebenso exakt gleich sein wie unsere Annahme vom Ausgang der Geschichte. Sind sie aber nicht. Warum nicht? Weil Wirklichkeit im Kopf entsteht.
Jeder lebt in seiner Wirklichkeit
Was genau ist aber nun Wirklichkeit? Und wie unterscheidet sie sich von der Tatsache? Bleiben wir bei dem Beispiel mit dem Kriminalroman. Tatsache ist hier alles, was wir vom Autor über die handelnden Personen erfahren. Das kann die Haarfarbe eines Charakters sein, ihr Kleidungsstil oder die von ihr bevorzugte Automarke. In unserem Kopf erwecken wir nun diese Person zum Leben, indem wir sie vervollständigen. Wir erzeugen ihren Gang, ihre Haltung und einfach alles, das sie braucht – über das der Autor aber nicht geschrieben hat. Wir entscheiden schließlich, ob sie sympathisch oder unsympathisch aussieht, und sogar, ob wir ihre Stimme mögen. Das ist nun unsere Wirklichkeit. Und nur für den Fall, dass der Typ in unseren Gedanken schrecklich unsympathisch wirkt, wir uns aber eigentlich in ihn verlieben möchten, steht es uns jederzeit frei, ihn zu ändern. Anders ausgedrückt könnte man auch sagen, dass die Tatsachen Zutaten zu einem Kochrezept sind, und die eigene Wirklichkeit das, was jeder daraus kocht.
Ob wir es wollen oder nicht, unser Denken erzeugt uns ständig Realität.
Nehmen wir an, Sie lesen einen Reiseführer. Die Stadt, die in diesem Buch beschrieben ist, haben Sie noch nie gesehen. Sie beginnen die Einleitung zu lesen, in der ein allgemeiner Überblick gegeben wird. Ohne, dass Sie etwas dagegen tun können, entsteht in Ihren Gedanken ein Bild. Sie sehen den Hauptplatz, den mächtigen Dom, das gemütliche Kaffeehaus und sich selbst darin sitzen. Sie flanieren durch die engen Gassen und genießen die Ruhe.
Die Beschreibung lässt in Ihrem Kopf Bilder entstehen, die Sie in diesem Moment für die Wirklichkeit halten. Solange Sie die Stadt nicht tatsächlich sehen, wissen Sie für sich selbst ganz genau, wie es dort aussieht. Doch wie groß ist oft das Erstaunen, wenn Sie den im Buch beschriebenen Ort dann wirklich besuchen? Wenn Sie sehen, wie wenig Ihre Vorstellung mit den tatsächlichen Gegebenheiten übereingestimmt hat?
Sie könnten jetzt vielleicht sagen, gut, ein Buch. Da gibt es keine »echte« Wirklichkeit, da muss ich mir ja meine eigene zurechtzimmern. Mag sein. Aber, sehen Sie den Herrn da drüben? Ich finde, er sieht sehr gut aus mit dem dunklen Anzug und der dunklen Krawatte. Auch die Maßschuhe dürften aus Pferdeleder sein. Selbst wenn ich nicht wirklich verstehe, warum er um diese Tageszeit eine schwarze Sonnenbrille trägt, ich habe selten einen so elegant gekleideten Mann gesehen.
Wenn ich Sie jetzt frage, was dieser Mann beruflich macht, welche Realität entsteht in Ihrem Kopf? Ist er ein erfolgreicher Banker oder ein Mafiaboss? Fühlen Sie sich in seiner Nähe wohl? Möchten Sie Ihn näher kennenlernen?
Ich glaube, er ist einfach ein Model für die aktuelle Modeproduktion eines Designer-Labels. Warum sonst sollten hier Fotografen und Visagisten herumstehen?
Du bist, was du denkst
Auch Erwartung hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf Ihre eigene Wirklichkeit. Stehen Sie nach drei Tagen unglaublich anstrengender Anreise endlich vor den Ruinen des angeblich so berühmten Tempels T, werden Sie wohl jeden einzelnen Stein voller Entzücken bewundern. Sie werden das schönste Bauwerk der Welt vorfinden. Kommen Sie an dem gleichen Tempel zufällig vorbei, ist Ihnen dieser vielleicht nicht einmal die fünf Minuten wert, anzuhalten. Nicht körperliche Tatsachen, sondern ausschließlich Gedanken sind also die Schöpfer unserer Wirklichkeit. Das erkennt man auch daran, dass wir immer dort sind, wo wir mit unseren Gedanken sind. Wir können uns also in jeder Situation mit unserem Denken in eine andere, gegebenenfalls angenehmere Situation versetzen.
Stellen Sie sich bitte vor, Sie haben eine Traumreise gewonnen. Eine Luxuslimousine holt Sie von zu Hause ab, um Sie zum Flughafen zu bringen. Dort erwartet Sie bereits das Personal, das Sie zum Einstieg in die erste Klasse geleitet. Schon beim Betreten des Flugzeugs serviert man Ihnen ein Glas Sekt. Der Flug verläuft ruhig, das Personal ist ständig um Sie bemüht. Am Ziel angekommen wartet bereits Ihr Fahrer, der Sie in einem sehr komfortablen Auto in ein wunderschönes Hotel bringt. Die Anlage entspricht genau Ihren Vorstellungen. Sie fühlen sich wunderbar. Die Sonne scheint, es ist warm, und es geht Ihnen einfach gut. Dann beziehen Sie Ihren lichtdurchfluteten Bungalow, wo bereits ein voller Obstkorb auf Sie wartet. Sie werfen einen Blick aus dem Fenster und sehen den traumhaften Sandstrand, das strahlend blaue Meer und fühlen sich so richtig wohl. Einfach schön, hier zu sein. Es klopft vorsichtig an der Tür. Als Sie öffnen, steht ein junges, zierliches Mädchen mit mandelbraunen Augen und schwarzen Haaren vor Ihnen.
Wo sind Sie gerade? Wieder zurück? Gut. Dann lassen Sie uns fortfahren.
Unsere Realität ist immer eine Mischung aus dem, was wir tatsächlich wahrnehmen, und aus dem, was wir dann daraus machen. Und so entsteht in jeder Sekunde persönliche Wirklichkeit.
Wenn es mir jetzt gelungen ist, Sie in eine andere Welt zu entführen, dann verstehen Sie, warum ich sage, dass Tatsachen und Wirklichkeit nicht zwingend miteinander verknüpft sind. Vergessen Sie aber bitte nicht, dass Denken keine Richtung hat. Ihre Gedanken ermöglichen Ihnen jederzeit einen Besuch im Himmel, das haben Sie gerade gesehen. Umgekehrt aber auch einen Aufenthalt in der Hölle.
Gleich, ob wir einen Schrei oder ein Lachen hören, den Duft einer Blume riechen oder den Geruch von Feuer wahrnehmen – in unserem Kopf entsteht eine Theorie, an der wir unser weiteres Denken und Handeln ausrichten. Unsere eigene Realität ist uns im Laufe des Lebens so selbstverständlich geworden, dass wir geneigt sind, zu glauben, es gäbe so etwas wie eine allgemeine, unveränderliche Wirklichkeit. Es gibt aber noch etwas anderes, das unsere persönliche Realität verändert: das Wissen um Dinge.
Denken erschafft Wirklichkeit
Vor etwa 1400 Jahren lebte in Korea ein Mann namens Won Hyo. Auf der Suche nach der Erleuchtung wanderte er als junger Mönch lange durch die nördliche Wüste. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, den ganzen Tag zu marschieren und erst am Abend zu rasten.
Eines Abends machte er in einer kleinen Oase halt. Ein paar Bäume boten ihm Schutz, und er sank müde unter einem von ihnen nieder und schlief ein. Mitten in der Nacht weckte ihn ein schrecklicher Durst. Da es stockdunkel war, tappte er herum, um Wasser zu finden. Nach einiger Zeit berührten seine suchenden Hände eine Schale. Als er sie aufhob, fühlte er Wasser darin schwappen. Er führte die Schale zum Mund und trank. Es war köstlich. In Dankbarkeit legte er die Hände zusammen und verbeugte sich.
Am Morgen wachte er auf und sah im ersten Licht des Tages, was er für eine Schale gehalten hatte: Es war ein zertrümmerter Totenschädel, voll von verkrustetem Blut, und an den Backenknochen hingen vertrocknete Fleischfetzen. In dem trüben Wasser darin krabbelte es. Den jungen Mönch überwältigte der Ekel. Und als er sich würgend übergab, öffnete sich sein Geist und er verstand.
In der Nacht hatte er nicht gedacht und nicht gesehen – da war das Wasser köstlich erfrischend gewesen. Am Morgen hatten ihn Sehen und Denken zum Erbrechen gebracht. Er sagte zu sich: »Denken schafft Gut und Böse, Leben und Tod. Denken bringt den Kosmos hervor, Denken beherrscht alles. Ohne Denken gibt es keinen Kosmos, keinen Buddha, kein Dharma. Alles ist eins, und dieses Eine ist leer.«
Nun war es nicht mehr notwendig, einen Meister zu suchen – Won Hyo verstand bereits Leben und Tod;...