Wie man mit Wasserpistolen Kinder erzieht
Am schnellsten lösen wir unsere Probleme, indem wir nach der denkbar einfachsten Lösung suchen. Man sollte nicht glauben, wie viele Menschen diese Strategie für falsch halten.
Der nachfolgende Witz kursiert in einigen Varianten. Stets spielt ein Mann die Hauptrolle, der seine Lebensgefährtin mit verschiedenen Verhaltensweisen in den Wahnsinn treibt. In einer Version geht er mit ihr durch die Straßen der Stadt und kommentiert laut und vernehmlich das Aussehen der Entgegenkommenden und macht sich über sie lustig. Eines Tages hat die Ehefrau genug und zwingt den Mann, mit ihr zur Therapie zu gehen. Dort schildert sie, was sie seit langem ertragen muss. Der Psychologe hört sich die Klagen geduldig an. Dann nimmt er den Mann zur Seite, legt ihm vertraulich den Arm um die Schulter und flüstert ihm ein paar Sätze ins Ohr. Der Mann nickt, der Psychologe nickt, Ende der Beratungsstunde.
Als das Paar eine Woche später wieder erscheint, kommt der Psychologe gar nicht dazu, eine Frage zu stellen. «Ein Wunder», erzählt die Frau strahlend, «er ist wie ausgewechselt! Mein Mann hat schlagartig mit dem Unsinn aufgehört! Was haben Sie ihm bloß zugeflüstert?» Worauf der Psychologe freundlich lächelnd erwidert: «Ich habe ihm gesagt, dass er damit aufhören soll!» Sagt’s und wünscht der Frau noch einen schönen Tag.
Ein Witz, ich weiß. Und doch steckt in ihm eine tiefe Weisheit. Sie lautet: Versuche es erst einmal mit der denkbar einfachsten Lösung, auch wenn das Problem noch so vertrackt erscheint. Der renommierte Psychologe Steve de Shazer etwa hatte den Mut, an diesem Grundgedanken festzuhalten. So zum Beispiel, als ihn eine gewisse Frau Y. zu Rate zog. Sie sei durchaus erfolgreich in ihrem Job, erzählte sie ihm, wäre da nicht die Sache mit den Telefonaten. Trotz aller Bemühungen schaffe sie es einfach nicht, sie zu erledigen. De Shazer ließ sich schildern, was die Frau schon alles unternommen hatte. Als sie fertig war, bekam sie zur Antwort: «Was Sie bisher versucht haben, hat nicht funktioniert, deshalb machen Sie morgen, wenn Sie zur Arbeit kommen, etwas anders.» Darauf habe die Frau erst gestutzt, dann gelächelt und schließlich gefragt: «Ist das alles?» De Shazers Antwort: «Das ist alles.»
Zwei Wochen später. Frau Y. kommt wieder und erzählt, was geschehen ist: Am nächsten Tag sei sie, ohne groß zu überlegen und aus einer Laune heraus, einfach eine Stunde früher als gewohnt ins Büro gegangen. Keiner da, mit dem sie hätte reden können. Also habe sie nichts zu tun gehabt, außer zu telefonieren. Lösung gefunden, Problem erledigt. Ohne den Vorwurf zu fürchten, er mache es sich unverantwortlich einfach, betont de Shazer, dass Lösungen im Grunde aus nichts anderem bestünden, als «dass jemand etwas anders macht oder etwas anders sieht».
So einfach kann es also sein. Und so einfach sollten wir es uns auch machen. Wenn wir uns erlauben, diesem Gedanken ein wenig nachzuhängen, werden uns ein paar verblüffend simple Optionen für einige hartnäckige Probleme einfallen. So könnten wir das nächste Mal einfach «Nein» sagen, bevor wir zum tausendsten Mal gegen unseren Willen «Ja» murmeln. Oder unseren Partner liebevoll in den Arm nehmen, wenn wir uns in endlose Beziehungsdebatten zu verstricken beginnen. Seit einigen Jahren kursiert in den sozialen Netzwerken eine Liste, die den Titel «Das Leben ist zu kurz für Dramen» trägt. Ihre Beliebtheit lässt darauf schließen, dass viele Menschen sie zumindest bemerkenswert finden, wenn nicht sogar hilfreich. Wir lesen: «Du vermisst jemanden? Ruf ihn an! – Du weißt nicht weiter? Frag! – Du willst verstanden werden? Erklär dich! – Dir geht etwas auf die Nerven? Verändere es! – Du liebst jemanden? Sag es ihm! – Du willst andere treffen? Lade sie ein!»
Wer einfache Lösungen verspricht, findet sich schnell in eine dubiose Ecke gedrängt
Diese radikale Einfachheit wird vielen trivial, naiv oder provokant erscheinen, und sie mag es mitunter auch sein. Das kann aber nicht bedeuten, dass wir uns die Chance verbauen, nach einfachen Lösungen zu suchen. Ganz so, wie wir das mit einem Computer machen, der sich aufgehängt hat: Ihn einfach aus- und wieder einschalten. Problem meistens gelöst. Und wenn nicht, stehen uns immer noch die etwas ausgefeilteren Lösungen zur Verfügung. Zum Beispiel den Rechner ein zweites Mal aus- und wieder einzuschalten.
Man muss nicht lange suchen, um Leute zu finden, die nichts von einfachen Lösungen halten. Vor allem, wenn es um schwierige Probleme geht. Die wohl am liebsten zitierte Kritik stammt von H.L. Mencken, einem US-amerikanischen Journalisten und Satiriker. Sie lautet: «Es gibt immer eine wohlbekannte Lösung für jedes menschliche Problem – eingängig, plausibel und falsch.»
Womit wir uns auch beschäftigen, stets werden wir davor gewarnt, es uns keinesfalls zu einfach zu machen: Vorsicht sei angebracht, heißt es etwa in einem Artikel über die Risiken der Naturheilkunde, wenn «jemand simple Lösungen für komplizierte Probleme» verspricht. Über Volksabstimmungen ist zu lesen, diese seien «organisierte Verantwortungslosigkeit», denn sie versprächen, «was Politik niemals liefern kann: einfache Lösungen». Referenden würden eine «vereinfachte Schwarz-Weiß-Zweiteilung» erzwingen, und diese wiederum «bevorzugt populistische Politiker, die einfache Lösungen für komplizierte Probleme anbieten». Schöne Bescherung.
Je mehr Einwände gegen einfache Lösungen man vernimmt, umso verantwortungsloser fühlt man sich, wenn man ihnen doch Gutes abzugewinnen versucht. Wie kann man nur auf die bescheuerte Idee kommen, sie würden uns irgendetwas bringen außer Unglück? Wo sich doch auch Verschwörungstheorien dadurch auszeichnen, «einfache Antworten auf komplizierte Fragen und komplizierte auf einfache» zu geben? So ist es nur logisch, dass der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anlässlich seines Dienstantritts Anfang 2017 eindringlich warnt: «In vielen Ländern gibt es einen steigenden Bedarf an einfachen Antworten auf gesellschaftliche Fragen. Und leider auch politische Kräfte, die vorgeben, diese zu haben.»
Von dem US-amerikanischen Cartoonisten Wiley Miller gibt es eine Zeichnung, die unser Dilemma ganz wunderbar auf den Punkt bringt. Darauf sehen wir eine Menschenschlange vor einer Weggabelung. Links geht es zu den «einfachen, aber falschen Antworten», rechts hingegen zu den «komplexen, aber richtigen». Die überwiegende Zahl der Leute folgt natürlich dem Weg nach links und stürzt kopfüber in einen Abgrund. Die wenigen Klugen hingegen machen sich auf einen langen, beschwerlichen Weg, der sie zu einem Berggipfel führt, wo sie die gesuchte Antwort finden. Als zusätzliche Belohnung können sie dann (höhnisch? Bedauernd? Mitleidig?) in die Schlucht hinunterschauen, wo die vielen doofen und vor allem toten Leute liegen, die schnelle, einfache Antworten auf schwierige Fragen wollten. Selber schuld.
Bei so viel Ablehnung hilft nur zweierlei: sich warm anzuziehen und genauer hinzusehen. Das lässt uns erkennen, dass die geballte Kritik stets am selben Punkt ansetzt. Sie wirft einfachen Lösungen in immer neuen Formulierungen vor, sie seien angesichts der komplexen Welt viel zu simpel. Ganz so, als bestünde zwischen Problem und Lösung ein unauflösbarer Zusammenhang; als wäre es ein Naturgesetz, dass die Größe der Lösung jener des Problems entsprechen müsse. Wie wir das eben im Alltag so gelernt zu haben glauben: Liegt da ein Haufen Sand auf der Straße und versperrt uns die Zufahrt (kleines Problem), dann können wir ihn mit unserer Schaufel (einfache Lösung) innerhalb kurzer Zeit bewältigen. Stehen wir hingegen vor einer Schlammlawine, nutzt nur mehr schwerstes Gerät, um das Hindernis aufwendig und mit vielen Helfern zu beseitigen.
Diese Grundannahme hat zur Folge, dass wir angesichts großer Probleme selten auf die Idee kommen, wir könnten sie schnell, beiläufig und unangestrengt lösen. Ein Beispiel, um zu illustrieren, wie sehr wir dabei irren: Eines Tages kam eine Mutter in die Praxis eines Therapeuten, die völlig entnervt war von den plötzlich auftretenden Wutanfällen ihrer Tochter. Nach eingehender Beratung erhielt sie folgenden schlichten Rat: Sie möge eine Wasserpistole kaufen, diese füllen und bereitlegen. Wenn die Situation das nächste Mal entgleise, solle sie zur Waffe greifen und ihr Kind nass spritzen. Gesagt, getan. Die Mutter kaufte eine Pistole, füllte sie und trug sie «schussbereit» mit sich herum. Es dauerte nicht lange, da war es wieder so weit. Als die Mutter jedoch ihren Plan in die Tat umsetzen wollte, geschah etwas ebenso Überraschendes wie Plausibles: Sie begann schallend zu lachen, und das Kind vergaß schlagartig seine Wut. Vorbei. Nichts war es mehr mit einer Wiederholung des bekannten Spiels. Vielmehr hatte die Mutter die Erfahrung gemacht, dass sie das wiederkehrende Problem lösen konnte, indem sie auf überraschende Weise darauf reagierte. Was sie so lange tat, bis es verschwunden war.
Weil jedoch einfache Lösungen nicht sein dürfen, fühlen wir uns in schwierigen Zeiten nicht nur von Problemen belastet; vielmehr sehen wir uns auch noch dazu verpflichtet, aufwendig nach großen Lösungen zu suchen. Wer danach fragt, wo diese zu finden seien, wird in erstaunte Gesichter blicken. Was für eine eigenartige und einfältige Frage. In der...