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Die Kunst, kein Egoist zu sein

Warum wir gerne gut sein wollen und was uns davon abhält

AutorRichard David Precht
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl544 Seiten
ISBN9783641049355
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Warum wir uns so schwer tun, gut zu sein
Ist der Mensch gut oder schlecht? Ist er in der Tiefe seines Herzens ein Egoist oder hilfsbereit? Und wie kommt es eigentlich, dass sich fast alle Menschen mehr oder weniger für die »Guten« halten und es trotzdem so viel Unheil in der Welt gibt? Das Buch stellt keine Forderung auf, wie der Mensch zu sein hat. Es untersucht - quer zu unseren etablierten Weltbildern - die Frage, wie wir uns in unserem täglichen Leben tatsächlich verhalten und warum wir so sind, wie wir sind: Egoisten und Altruisten, selbstsüchtig und selbstlos, rivalisierend und kooperativ, nachtragend und verzeihend, kurzsichtig und verantwortungsbewusst. Je besser und unbestechlicher wir unsere wahre Natur erkennen, desto gezielter können wir unsere Gesellschaft verändern und verbessern. Ein Buch, das uns dazu bringt, uns selbst mit neuen Augen zu sehen!

Richard David Precht, geboren 1964, ist Philosoph, Publizist und Autor und einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Er ist Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Seit seinem sensationellen Erfolg mit »Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?« waren alle seine Bücher zu philosophischen oder gesellschaftspolitischen Themen große Bestseller und wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Seit 2012 moderiert er die Philosophiesendung »Precht« im ZDF und diskutiert zusammen mit Markus Lanz im Nr.1-Podcast »LANZ & PRECHT« im wöchentlichen Rhythmus gesellschaftliche, politische und philosophische Entwicklungen.

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Leseprobe
Platons Talkshow
Was ist das Gute?
Was eine Talkshow ist, darauf kann man sich leicht verständigen. Eine Talkshow ist eine Unterhaltungssendung in Form eines Gesprächs in Hörfunk und Fernsehen. Ein Gastgeber versammelt seine Gäste an einem ausgewählten Ort, meistens einem Studio, interviewt sie und eröffnet ein von den Moderatoren gelenktes Gespräch unter den Teilnehmern.
So weit, so klar. Aber wer hat’s erfunden? Glaubt man Wikipedia, so kommt die Talkshow aus den USA, erfunden in den 1950er Jahren. Und in Deutschland geht es 1973 los mit – erinnern Sie sich? – Dietmar Schönherrs Je später der Abend. Aber der eigentliche Urheber der Talkshow ist – Platon.
Etwa 400 Jahre vor Christus beginnt der griechische Philosoph mit der Konzeption eines gelehrten Talks über die großen Fragen dieser Welt: Wie soll ich leben? Was ist das Glück? Was ist das Gute? Wozu brauchen wir die Kunst? Und warum passen Frauen und Männer nicht zusammen?
Der Produzent der Show heißt Platon – und sein Gastgeber ist Sokrates. Und er ist wirklich ein abgekochter Profi. Nonchalant hält er das Gespräch zusammen, leitet die Runde, gibt wichtige Impulse und stellt mehr oder weniger vergiftete Fragen. Fast immer legt er die anderen dabei rhetorisch aufs Kreuz. So sicher sich die anderen Gäste zu Beginn des Gesprächs mit ihren Ansichten sind, am Ende müssen sie einsehen, dass Sokrates selbst mal wieder der Klügste von ihnen ist. Mehr oder weniger überzeugt stimmen sie seiner Meinung zu. Dabei sind die zwei, drei oder vier Gesprächsteilnehmer stets hochkarätige Gäste, Politprofis, Poeten, Propheten und Pädagogen – ausgewiesene Experten der Staatskunst, der Kriegsführung, der Rhetorik oder der Künste. Als Kulisse dienen unterschiedliche Settings. Mal versammeln sich die Gäste in der Villa eines Prominenten, mal machen sie einen Spaziergang in der Umgebung Athens, mal diskutieren sie beim Abendessen. Und ein anderes Mal treffen sie sich sogar im Knast. Die Schauplätze wirken so echt und authentisch wie die Gäste. Der einzige Haken ist – alles ist abgesprochen und inszeniert. Und aus Mangel an elektronischen Ausstrahlungsmöglichkeiten begnügt sich der Produzent mit Papier.
Aber immerhin: Als erster Denker des Abendlandes entscheidet sich Platon dazu, den Widerstreit der Vorstellungen, Ansichten und Ideen nicht wegzureden, sondern ihn auszudiskutieren. Fast alles, was wir von Platons Schriften haben, sind solche Diskussionen und Streitgespräche. Doch was ist der Sinn des Ganzen? Wer war dieser Platon?
Der Junge hatte ein beneidenswertes Leben, aufgewachsen mit einem goldenen Löffel im Mund.1 Seine Familie war so reich wie einflussreich. Doch die Chancen für ein ruhiges Leben standen schlecht. Zu bewegt waren die Zeiten. Als Platon geboren wird, im Jahr 428 vor Christus, ist Perikles, Athens politischer Superstar, gerade gestorben. Eine Zeitenwende. Der lange blutige Krieg mit den Rivalen aus Sparta hat begonnen; am Ende wird er Athen vernichten.
Platon selbst aber geht es gut. Während die Soldaten Athens in Sizilien scheitern und umkommen, das spartanische Heer marodierend durchs Umland zieht, während die Demokratie in der Stadt durch eine Wirtschaftselite ausgehebelt wird, die Flotte untergeht und die attische Demokratie schließlich vollends zusammenbricht, erhält er eine vorzügliche Ausbildung. Man darf vermuten, dass er Karriere machen will, ein mustergültiges Beispiel geben für seine Familie.
In der Stadt dagegen herrscht Anarchie. Die Ordnung verfällt im Eiltempo. Ein Menschenleben ist nicht mehr viel wert. Eines Tages in dieser Zeit trifft Platon in den Straßen einen merkwürdigen Menschen, einen Herumtreiber ohne Geld und Gut, einen, wenn man so will, blitzgescheiten Obdachlosen. Die jungen Nachwuchsintellektuellen der Stadt sind fasziniert. Konsequent verzichtet der Aussteiger auf alles Hab und Gut. Ein Revoluzzer, bewaffnet allein mit seiner gefährlichen Rhetorik, der die Herrschenden auslacht. Ein Spötter, der ihre Werte veralbert, ihre Weltweisheiten entzaubert. Der Name dieses Mannes ist: Sokrates.
Hunderte von Geschichten ranken sich um Sokrates. Doch wer dieser Mensch in Wirklichkeit war, darüber wissen wir fast nichts. Wie Jesus Christus ist er vor allem eine Sagenfigur. So wie es keine Schriftzeugnisse aus der Feder von Jesus gibt, so gibt es auch keine von Sokrates. Was immer wir wissen, wissen wir aus den wenigen Schriftstücken seiner Gegner und aus den umfangreichen Elogen seiner Anhänger und Bewunderer. Wie bei Jesus, so lässt sich auch bei Sokrates vermuten, dass er tatsächlich gelebt hat. Und auf einige wenige Fans hatte er eine ausgesprochen nachhaltige Wirkung.
Der begeistertste dieser Enthusiasten aber war Platon. Hätte sich der 20-Jährige dem alten Herrn nicht angeschlossen, wer weiß, was von ihm geblieben wäre. Platon ist Sokrates’ Evangelist. Er macht ihn zum Superstar der antiken Welt, zu einem Universalgenie der Logik und der Vernunft. Sokrates weiß, was den Menschen im Innersten zusammenhält. Er ist der einzige Kenner der Weltformel.
Die Begegnung mit Sokrates hinterlässt Spuren. Binnen kurzer Zeit gibt Platon seine politischen Ambitionen auf. Er will nichts mehr werden, jedenfalls nichts, was in den Augen der Gesellschaft viel zählt. Sokrates öffnet dem jungen Mann die Augen für die Verlogenheit und Korruption in der Gesellschaft, für Lug und Trug und die Selbstsüchtigkeit der Herrschenden. Die beste Demokratie wird wertlos, wenn das gesamte politische System verrottet ist und nur noch aus egoistischen Cliquen besteht, aus Seilschaften, Privilegien und Willkür.
Im Jahr 399 vor Christus, so scheint es, haben die Regierenden in Athen die Faxen dicke. Sie zerren Sokrates vor Gericht und machen ihm den Prozess. Das Todesurteil ist schnell gefällt, der Tatbestand offensichtlich. Sokrates, so heißt es, »verderbe die Jugend« – aus Sicht der herrschenden Oligarchen ein durchaus berechtigter Vorwurf. 430 Jahre später wird die römischjüdische Obrigkeit in Jerusalem den Wanderprediger Jesus aus ähnlichen Gründen zum Tode verurteilen: wegen Nestbeschmutzung. In beiden Fällen belegt vor allem der letzte Prozess, dass diese Menschen tatsächlich existierten. Und gemeinsam sind sie, Sokrates und Jesus, die Großväter der abendländischen Kultur.
Der Tod des Sokrates hält die Entwicklung nicht auf. Er schafft nur einen Märtyrer. Und nun schlägt Platons Stunde. Er setzt das Projekt seines Lehrmeisters fort, allerdings mit ganz anderen finanziellen Mitteln. Zwölf Jahre nach Sokrates’ Tod kauft er ein Grundstück und eröffnet dort eine Schule – die Akademie. Die Einrichtung ist ohne Beispiel. Unentgeltlich haben junge Männer die Chance, für mehrere Jahre in einer Art philosophischer Kommune zu leben. Der Lehrplan umfasst die Fächer Mathematik, Astronomie, Zoologie, Botanik, Logik, Rhetorik, Politik und Ethik. Am Ende, so wünscht es sich Platon, werden hochgebildete Männer die Schule verlassen. Sie sollen die Welt besser machen. Feingeistige Intellektuelle und politische Kader sollen sie sein, von allen falschen persönlichen Antrieben befreit. Eine philosophische Heilsarmee für eine kranke Gesellschaft. Tatsächlich werden viele Absolventen in unterschiedliche Teile der Welt aufbrechen als Missionare der Akademie und Ratgeber der Mächtigen.
Die wichtigste Voraussetzung für diesen Job ist die Kenntnis des guten Lebens. Es ist die Hauptfrage, die Platon mehr interessiert als alles andere. Das ganze Denken in der Akademie ist diesem Ziel untergeordnet: das Gute zu erkennen und zu leben. Nur dafür hinterfragen die Akademiker die überkommenen Mythen und Konventionen und kritisieren falsche Wahrheiten und Lebensentwürfe. Für Platon sind Philosophen Krisenhelfer und Scouts für Sinndefizite. Der Bedarf an solchen Männern – Frauen spielen in Platons Welt keine Rolle – ist groß. Der Niedergang der öffentlichen und der privaten Moral, die kriegerischen Wirren und die allgemeine Verwahrlosung schreien geradezu nach einer Neuordnung der Verhältnisse, einer Revolution der Seelen.
Was also ist ein gutes, ein besseres Leben? An welchem moralischen Wesen soll Athen genesen? Platons frühe Schriften verraten, wie angeregt und erbittert über die Frage diskutiert und gestritten wurde.2 Die Suche ist allgegenwärtig. Die Gesellschaft steht auf der Kippe. Und auf den öffentlichen Plätzen der Stadt, den Foren und in den Privathäusern kreuzen vor allem jüngere Menschen rhetorisch ihre Klingen.
Man wird sich aus heutiger Sicht darüber vielleicht wundern. Denn die Frage ist nicht mehr sehr modern. Und »das Gute« scheint uns sehr viel abstrakter zu sein als den alten Griechen. Aber auch in Deutschland ist es noch gar nicht lange her, dass sich junge Menschen die Köpfe über diese Frage heiß redeten. Von Mitte der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre galt das Private vielen jungen Intellektuellen als das Politische. Und auch die Ökobewegung der frühen 1980er Jahre forderte von sich und der Gesellschaft: »Du musst dein Leben ändern!« Erst der erneut starke Anstieg des Wohlstandes in den 1980er und 1990er Jahren ließ die Diskussionen um ein alternatives Leben, alternative Werte und ein alternatives Wirtschaften für längere Zeit wieder weitgehend verstummen.
Die Frage nach dem guten Leben entzündet sich in Krisenzeiten. In Platons Zeit ging es um nichts weniger als das Ganze. Wenn man sich die Situation vorstellt, in der er philosophiert, so erscheint unsere heutige Zeit auch eingedenk der Weltwirtschaftskrise dagegen ruhig und harmlos. Nie zuvor erlebte das Abendland eine solche Blüte der Kunst und einen solchen Sturm ...
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