1.
Liebe, die den Verstand übersteigt
Die Liebe tötet das, was wir waren, damit wir sein können, was wir nicht gewesen sind.
(Augustinus)
Sie hieß Pandy. Sie hatte den größten Teil ihrer Haare verloren, besaß nur noch einen Arm und sah insgesamt ziemlich mitgenommen aus. Sie war die Lieblingspuppe meiner Schwester Barbie.
Sie hatte nicht immer so schäbig ausgesehen. Einmal war sie ein persönlich ausgewähltes Weihnachtsgeschenk einer lieben Tante gewesen, die extra in ein großes Kaufhaus im fernen Chicago gereist war, um sie zu finden. Ihr Gesicht und ihre Hände bestanden aus einem gummiartigen Kunststoff und sahen aus wie echt, aber ihr Körper war mit Stofflumpen ausgestopft, damit er sich weich und kuschelig anfühlte wie ein echtes Baby. Als meine Tante Pandy im Schaufenster dieses Kaufhauses sah, wusste sie, dass sie etwas sehr Gutes gefunden hatte.
Als Pandy jung war und nach etwas aussah, liebte Barbie sie. Sie liebte sie mit einer Liebe, die für Pandy leider zu viel war. Wenn Barbie abends zu Bett ging, lag Pandy neben ihr. Wenn Barbie zu Mittag aß, saß Pandy neben ihr am Tisch. Wenn Barbie es schaffte, dann nahm Pandy auch ein Bad zusammen mit ihr. Aus Pandys Sicht war Barbies Liebe zu dieser Puppe eine schicksalhafte Leidenschaft.
Als ich Pandy kennenlernte, war sie keine besonders attraktive Puppe mehr. Um die Wahrheit zu sagen: Sie befand sich in einem üblen Zustand. Ich bin mir nicht sicher, ob wir sie noch an jemanden hätten weitergeben können.
Aber aus irgendwelchen Gründen, die sich dem gesunden Menschenverstand entzogen, liebte meine Schwester diese Puppe immer noch, wie Kinder eben manchmal sind. Sie liebte die verschlissene Pandy noch genauso wie in ihren besten Tagen.
Andere Puppen kamen und gingen; aber Pandy war ein Familienmitglied. Wenn man Barbie liebte, musste man auch ihre Lumpenpuppe lieben. Die beiden gab es nur im Sammelpack.
Einmal fuhren wir im Urlaub von Rockford in Illinois, wo wir wohnten, nach Kanada. Auf dem Rückweg merkten wir kurz vor der Grenze von Illinois, dass Pandy nicht bei uns war. Sie war im Hotel in Kanada zurückgeblieben.
Es gab keine andere Möglichkeit. Mein Vater wendete umgehend, und wir fuhren Hunderte von Kilometern zurück nach Kanada. Wir waren eine hingebungsvolle Familie. Vielleicht nicht besonders intelligent, aber sehr hingebungsvoll.
Wir stürmten in das Hotel und durchsuchten mit dem Angestellten an der Rezeption die ganze Lobby – keine Pandy. Wir rannten in unser Zimmer – keine Pandy. Wir rannten die Treppe wieder hinunter und suchten die Wäscherei ab, und dort war Pandy. Eingewickelt in Betttücher und kurz davor, zu Tode gewaschen zu werden.
Die Liebe meiner Schwester zu dieser Puppe war so groß, dass sie in ein anderes Land reiste, nur um sie zu retten.
Die Jahre vergingen und meine Schwester wurde älter. Sie wuchs aus Pandy heraus. Sie tauschte sie gegen einen Freund namens Andy ein (der seltsamerweise noch unattraktiver war als Pandy).
Lange Zeit stand Pandy nicht mehr sehr hoch im Kurs, und da schien es nur logisch, sie wegzuwerfen. Aber das konnte meine Mutter nicht übers Herz bringen. Sie nahm Pandy noch ein letztes Mal in die Arme, wickelte sie mit ganz besonderer Sorgfalt in Seidenpapier ein, legte sie in eine Schachtel und bewahrte sie zwanzig Jahre lang auf dem Dachboden auf.
Ich hatte als Kind alle möglichen Spielsachen und Stofftiere, aber meine Mutter bewahrte kein einziges davon auf. Doch Pandy hob sie auf. Und wissen Sie, warum? (Als ich jünger war, dachte ich, dass es vielleicht daran lag, dass sie meine Schwester, diese Göre, mehr liebte als mich.)
Die Liebe meiner Schwester machte Pandy so wertvoll.
Barbie liebte diese kleine Lumpenpuppe so sehr, dass diese Liebe die Puppe kostbar für jeden machte, der Barbie liebte. All diese Tränen und Umarmungen und Geheimnisse verwoben sich irgendwie mit dem verschlissenen Stoff, aus dem sie bestand. Wenn man Barbie liebte, musste man auch Pandy lieben.
Es vergingen weitere Jahre. Meine Schwester heiratete (nicht Andy, zum Glück) und zog fort. Sie bekam drei Kinder. Das dritte Kind war ein kleines Mädchen und hieß Courtney. Courtney erreichte bald das Alter, in dem sie eine Puppe haben wollte.
Es gab keine Frage: Barbie fuhr nach Hause nach Rockford, stieg auf den Dachboden und holte Pandys Schachtel hervor. Zu diesem Zeitpunkt war Pandy eher ein Bündel Lumpen als eine Puppe.
Also brachte meine Schwester sie in Kalifornien in eine Puppenklinik (dort gibt es tatsächlich so etwas) und ließ sie operieren. Pandy wurde einem Facelifting, oder was auch immer man bei Puppen macht, unterzogen, und bald war sie auch äußerlich wieder so schön, wie sie in den Augen des Menschen, der sie liebte, immer gewesen war. Ich weiß nicht, ob sie auch für Barbie schöner war, aber jetzt war es zumindest für andere Menschen möglich zu sehen, was Barbie immer in Pandy gesehen hatte.
Als Pandy neu war, liebte Barbie sie. Sie feierte ihre Schönheit. Als Pandy alt und verschlissen war, liebte Barbie sie immer noch. Ihre Liebe war reifer geworden. Nun liebte sie Pandy nicht einfach, weil sie schön war, sondern sie liebte sie mit einer Liebe, die Pandy Schönheit verlieh.
Inzwischen sind weitere Jahre vergangen. Das Nest meiner Schwester wird bald leer sein. Courtney ist ein Teenager und wird bald eine junge Frau sein. Andy jr. steht schon in den Startlöchern.
Und Pandy? Pandy bereitet sich auf die nächste Schachtel vor.
Zwei Wahrheiten
Es gibt zwei grundlegende Wahrheiten über uns Menschen.
Wir alle sind Lumpenpuppen. Fehlerhaft und schmuddelig, zerbrochen und verbogen. Seit dem Sündenfall lebt jeder Mensch am Abgrund der Schäbigkeit. Teilweise ist das etwas, was uns einfach widerfährt. Vielleicht sind in unseren Genen bestimmte Schwächen angelegt. Oder vielleicht haben uns unsere Eltern gerade in dem Augenblick im Stich gelassen, in dem wir sie am meisten brauchten. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Jeder von uns legt sich sein eigenes Guthaben auf dem Lumpenkonto an. Wir entscheiden uns dafür, andere zu täuschen, wenn wir die Wahrheit sagen sollten. Wir schimpfen, wenn ein großzügiges Lob angebracht wäre. Wir werden untreu, wenn wir loyal sein sollten.
Wie ein Tintenspritzer in einem Glas Wasser durchdringt diese Schäbigkeit unser ganzes Leben. Unsere Worte und Gedanken sind nie völlig davon frei. Wir sind eben Lumpenpuppen.
Aber wir sind Gottes Lumpenpuppen. Er sieht unsere Schäbigkeit und liebt uns trotzdem. Unsere Verschlissenheit ist nicht mehr das Wichtigste an uns.
Wir sind nicht so schäbig geschaffen. Ganz am Anfang umgab den Menschen ein Wunder, das Gott dazu bewegte, bei seinem Anblick „sehr gut“ zu sagen. Den Menschen umgab ein Wunder, das den Autor des Buches Genesis dazu veranlasste zu schreiben, dass der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen war. Den Menschen umgibt ein Wunder, das auch unsere Schäbigkeit nicht völlig auslöschen kann.
Auch Sie persönlich umgibt dieses Wunder. Die Verschlissenheit ist nicht Ihre wahre Identität. Schäbig zu sein ist nicht Ihr Schicksal, auch nicht meins. Wir sind vielleicht nicht liebenswert, aber wir sind geliebt.
Und wir können auf Dauer nicht geliebt sein, ohne uns zu verändern. Wenn Menschen Liebe erfahren (und mit Liebe meine ich hier nicht nur herzliche Gefühle gegenüber anderen Menschen; ich meine wahre Liebe, die manchmal hart und herausfordernd und sogar schmerzhaft sein kann), dann fangen sie an, liebenswert zu werden.
Das gilt auch für den physischen Bereich. Psychologen haben herausgefunden, dass sich die positive Erregung darüber, geliebt zu werden, auf den Herzschlag auswirkt: Ihr Gesicht strahlt, die Lippen röten sich mehr als sonst, und die Ringe unter den Augen sind fast nicht mehr zu sehen! Stark empfundene Gefühle sorgen dafür, dass sich Ihre Pupillen weiten und Ihre Augen strahlender und klarer aussehen. Wir sind so konstruiert, dass selbst unser Körper schöner wird, wenn er geliebt wird.
Wir kennen überwiegend die Art von Liebe, die sich auf jemanden oder etwas von großem Wert konzentriert. Diese Art der Liebe feiert die Schönheit oder Stärke dessen, der geliebt wird. Wir sind vertraut mit einer Liebe, die sich zu einem Objekt hingezogen fühlt, weil es teuer oder attraktiv ist, oder der Person, die mit diesem Objekt verbunden ist, einen gewissen Status verleiht.
Die alten Griechen hatten ein Wort für diese Art der Liebe: das Wort „eros“. Wenn wir dieses Wort hören, denken wir vermutlich zuerst an unser Wort „erotisch“, aber „eros“ war mehr als eine rein sexuelle Liebe. Im Wesentlichen beschreibt „eros“ eine Liebe, die ich in etwas investiere, was meine Wünsche erfüllt, meine Bewunderung besitzt oder meine Lust befriedigt. „Eros“ ist die Liebe, die sich auf Schatzsuche befindet. Sie ist der Lohn, der mit dem Titel „Miss Amerika“ oder „Erotischster Mann des Jahres“ einhergeht.
Schon sehr früh lernen wir diese Art der Liebe kennen.
Studien zeigen, dass Erwachsene hübsche Babys häufiger anlächeln, küssen und knuddeln als eher unansehnliche Babys. Väter kümmern sich mehr um niedliche Babys als um solche, die allgemein als nicht so süß bezeichnet werden.
Karen Lee-Thorp bemerkt, dass die Geschichten, die man Kindern erzählt, dies verstärken: „Der Prinz war nicht von Aschenputtels intelligenter, einfühlsamer Konversation bezaubert; er war vernarrt in ihre schicke Garderobe und ihre kleinen Füße. Schneewittchen und Dornröschen schnappten sich ihre Männer, während...