Einleitung
Das Wort „Tugend“ hat eine große Bedeutungsvielfalt. Es ist ein Wort mit einer großartigen Geschichte, die vielleicht ebenso alt ist wie die Menschheit selbst. Es existiert sowohl in östlichen wie auch in westlichen Kulturen. Heutzutage hört man nicht viel von diesem Wort, zum Teil weil wir uns mehr für die Schattenseite des Lebens interessieren als dafür, das Gute zu tun. Ich glaube, unsere Kultur ist für eine Kehrtwendung reif. Die neue Tür zur Beschäftigung mit der Tugend wurde uns am 11. September 2001 in New York, Washington und im Flugraum über Pennsylvania gezeigt, indessen Folge alle die in diesem Buch beschriebenen Tugenden in Erscheinung traten; das war der Beginn eines neuen Zeitalters, das Gute zu tun (siehe Epilog). Angesichts dieser Situation unserer Kultur dürfte es als Einstieg hilfreich sein, wenn ich Ihnen erkläre, wie ich das Wort „Tugend“ verwende.
Aus religiöser Perspektive nähere ich mich der Tugend nicht. In diesem Buch geht es nicht darum, ein tugendhafter Mensch zu sein, sofern dieser Ausdruck mit einem pietätvollen Unterton gehört wird. Es geht vielmehr darum, dass wir das Wesen unserer Seele finden und dass wir uns einen inneren Sinn dafür aneignen, wie die Seele in der Welt funktionieren will, um das Gute herbeizuführen. Gegenwärtig sind wir daran gewöhnt, von der Seele in ihren Leiden, in ihrem Bedürfnis nach Schönheit, in ihrer Liebe zur Erzählung, zum Mythos, zur Kreativität zu hören. In jüngerer Zeit hört man ferner von „der Seele der Welt“. Auch handeln will die Seele. Und wenn wir uns tief in das Leben der Seele hineinbegeben, werden wir für das empfänglich, was aus den geistigen Welten zu uns kommt.
Die Tugenden sind das Aufleuchten von geistigen Impulsen innerhalb der Seele, um unser Leben mit den Rhythmen des Kosmos in Harmonie zu bringen. Tugend hat mit dem Schließen der Kluft zwischen der irdischen Welt und den geistigen Welten zu tun. Zwei Welten gibt es nicht – es sei denn, wir wenden uns vom Handeln in Übereinstimmung mit der Großen Welt ab und schaffen eine künstliche Trennung dort, wo keine echte existiert. Solche Trennung erzeugt eine kulturelle Selbstsucht der derbsten und grausamsten Art. Wir können ja vergessen, dass wir Bürger des Kosmos sind, dass die Erde und ihre Wesen Teil des Ganzen sind. Diese Schrift möchte daran erinnern, dass wir nicht nur zu diesem Ganzen dazugehören, sondern dass es auch an uns ist, im Einklang mit dessen Größe und Schönheit zu handeln.
Nach populärem Verständnis heißt spirituelle Entwicklung heutzutage oft, sich auf die Chakren konzentrieren lernen; verschiedene Formen der Meditation ausführen; nach dem eigenen höheren Selbst suchen; sich mit schamanischen Praktiken befassen, mit Seelenbildern, mit Traumdeutung und einer Vielzahl anderer möglicher Praktiken. Der inneren moralischen Entwicklung wird herzlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Und doch gibt jede spirituelle Tradition dem moralischen Charakter eine hohe Priorität zu und den Erfahrungsarten, die viele zeitgenössische spirituelle Praktiken suchen, einen eher geringen Wert. Eine der Wirkungen des Arbeitens an den Tugenden und an der eigenen Vertiefung ist nicht abzustreiten: man wird allmählich offen für Erlebnisse, die dem gewöhnlichen Bewusstsein nicht zugänglich sind. Es ist aber nicht der Fall, dass allein das sich Erarbeiten psychischer oder gar geistiger Fähigkeiten einen Menschen zu jemandem mache, der das Gute sucht und tut.
Spirituelle Entwicklung kann zu fragwürdigen Zwecken gesucht werden, und genau das kommt auch durchaus häufig vor. Leibfreier Erfahrungen machen, in andere Welten reisen, hellsichtig werden, Heilerfähigkeiten entwickeln, eine Beziehung zum höheren Selbst finden – alle solchen Anliegen gelten in den großen religiösen und geistigen Traditionen als von wenig Belang für eine spirituelle Entwicklung. Ja das Entwickeln solcher Fähigkeiten sieht man in den Traditionen sogar als große Herausforderung an. Man müsse daran vorbeischauen lernen und niemals sich in solche Fähigkeiten verlieben. Anders ausgedrückt: Wenn wir uns seelisch immer weiter vertiefen wollen, müssen wir tatsächlich lernen, die sich entwickelnden Fähigkeiten zu übersehen. Diese Mahnung hinsichtlich des Strebens nach geistigen Erfahrungen zeigt, dass spirituelle Arbeit so, wie sie seit Jahrtausenden verstanden wird, niemals nur um des Arbeitenden willen selbst, sondern stets der ganzen Welt zuliebe ausgeführt wird. Der Vorzug der Tugenden ist, dass durch sie unsere geistigen Bemühungen immer geerdet und mit den seelischen und geistigen Bedürfnissen anderer in Verbindung bleiben.
Der Kontext, in dem jeder Mensch in den Qualitäten der Tugenden vorankommen kann, ist unser alltägliches Leben, inmitten unserer Verbindungen, Prüfungen, Schwierigkeiten und Freuden mit anderen zusammen. Eine alternative Weise die Tugenden zu sehen wäre, sie als das seelische Medium unserer geistigen Beziehungen mit anderen zu sehen. Die Tugenden machen den Weg sakralen Dienens in der Welt aus, denn sie sind das Mittel, durch das wir der Seele und dem Geist anderer Menschen dienen. Nur wenn wir so dienen, kann eine ganze Gemeinschaft gedeihen. Es muss allerdings unterschieden werden, ob wir der Seele und dem Geist anderer Menschen dienen, oder ob es bloß ein anderer Mensch oder dessen äußere Bedürfnisse sind, denen wir dienen. Ferner muss solches Dienen freie Wahl sein und sich nicht auf Macht oder Autorität oder Stellung gründen.
Im alltäglichen Leben kommen wir oft in Situationen hinein, in denen eine Art dienstartigen Verhaltens anderen gegenüber gefordert ist. Solche Anforderungen treten im Familienleben, bei der Arbeit, in intimen Partnerbeziehungen, in gesellschaftlichen Situationen auf. In der Regel gehen wir aus Liebe zum anderen Menschen, aus Pflicht, Verbindlichkeit, Furcht auf sie ein. Keine dieser Verhaltensweisen kann als eine Handlung der Tugend gelten. Solche Situationen können aber zum Ort des Arbeitens, zum Labor für die Ausführung der Tugenden werden.
Wenn wir die Sache aus einer Seele-Geist-Perspektive betrachten, so ist das, was in allen diesen Zusammenhängen von uns verlangt wird, dass durch uns eine Forderung in eine Handlung der Tugend verwandelt werde, und zwar dem Menschen gegenüber, der die Forderung stellt. Bei dieser Verwandlung ist es nötig, dass auf die Forderung nicht direkt eingegangen, sondern dass sie durchschaut werde. Mit „durchschauen“ meine ich einen Akt der Imagination, in dem die leidende Seele und der leidende Geist des Menschen, der die Forderung stellt – sei diese offen oder versteckt – wahrgenommen und beantwortet werden kann. Mir ist zum Beispiel vielfach gesagt worden, dass ich bei meiner Arbeit als Kursleiter sehr geduldig bin. In meinen Kursen werden des öfteren Fragen gestellt, die ziemlich frivol wirken können. Ich bin bestrebt, mich weder von solchen Fragen abzuwenden, noch sie direkt zu beantworten. Entstammen sie doch meistens der Persönlichkeit des Fragenden. Ich bemühe mich, die Frage, den Kommentar, die Bemerkung eben bis auf das Seelen- und Geistwesen, das diese Person ist, zu durchschauen, und die seelische Substanz der Person direkt anzusprechen. Damit ich dies tun kann, muss meine unmittelbare emotionale Reaktion auf die Person gemildert sein. Es geht nicht darum, diese Dinge zu durchdenken, sondern um die Disziplin, mit der wir die Wahrnehmung des anderen Menschen suchen.
Ob die Tugend nach innen geht in Richtung Seelenentwicklung, oder nach oben in Richtung Entwicklung des Geistes: sie hat nicht nur mit einem selbst zu tun. Bei der Tugend geht es um die Seelen- und Geistesgeschenke, die wir anderen machen. Ferner sind diese Geschenke nichts, was wir schon zur Hand und fertig zum Verschenken haben. Der andere Mensch schenkt uns, dass wir diese Geschenke erst erzeugen müssen, damit wir sie verschenken können. So haben alle Tugenden etwas Polares an sich. So müssen wir zum Beispiel in der Tugend der Geduld Fortschritte machen, und Geduld ist zugleich auch unser geistiges Geschenk an andere. Oder wir müssen in der Tugend des Gleichgewichts Fortschritte machen, und Gleichgewicht ist zugleich auch unser geistiges Geschenk an andere.
Dann gibt es einen weiteren Aspekt: Tugend als Handlungsmodus anderen Menschen gegenüber soll sich nicht an deren unmittelbaren Bedürfnissen orientieren, sondern an der Ebene ihrer Seele und ihres Geistes. So kann es sehr wohl sein, dass das Schenken und Empfangen der Tugend ein unsichtbarer Vorgang bleibt. Zwar tauchen die Wirkungen eines solchen Hin und Her schon in der sichtbaren Welt auf, indem Beziehungen sich allmählich auf niveauvollere, verfeinertere Ebenen hinaufverwandeln; aber diese Wirkungen sind fast immer sehr fein und daher kaum wahrnehmbar.
Der Ausdruck „verfeinertere Ebenen“ bedarf der Klärung. Tugend funktioniert in keiner einfachen Weise; es handelt sich nicht darum, dass meine gütige Behandlung von jemandem dazu führt, dass dieser seine Haltung mir gegenüber verändert und mir im Gegenzug auch Güte bezeigt. Die Schwierigkeit bei einem solchen Denkansatz sowie bei einem entsprechenden Verhalten anderen gegenüber wäre, dass dies rasch zu einer Machtstrategie würde mit dem Sinn und Zweck, ein gewünschtes Ergebnis herbeizuführen.
Tugend funktioniert nicht in dieser...