Leonardo Sciascia, am 8. Januar 1921 in Recalmuto auf Sizilien geboren, befasste sich Zeit seines Lebens bis zu seinem Tod am 20. November 1989 immer wieder kritisch mit der Thematik Mafia und den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen seiner Heimat. Bekannt wurde der „unbequeme Schriftsteller“[132] mit Romanen, Erzählungen, Publizistik und Essays, in denen er sich kritisch mit der tragischen Vergangenheit Siziliens und aktuellen Problemen wie Machtmissbrauch und Korruption auseinandersetzte. Außerdem engagierte er sich auch als Politiker. 1975 wurde er als unabhängiger Kandidat über die Liste der PCI (Partito Comunista Italiano) in den Stadtrat von Palermo gewählt. Von 1979 bis 1983 war er als Abgeordneter der Partito Redicale Mitglied des Europäischen und Italienischen Parlaments.
Als Mitglied des parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der sich mit der Entführung und Ermordung des Generalsekretärs der Christdemokratischen Partei Aldo Moro durch die Brigate Rosse beschäftigte, legte Sciascia 1978 mit seinem publizistischen Buch L’affaire Moro einen Abschlussbericht vor. Mit seiner Hauptthese, Aldo Moro sei von seinen eigenen Parteifreunden aus politischem Kalkül bewusst geopfert worden, löste er Aufruhr in ganz Italien aus. Hier zeigt sich bereits der Kämpfer und Kritiker Sciascia, der sich unbeugsam für Gerechtigkeit, Vernunft und die moralische Instanz einsetzt. Nicht unerwähnt bleiben sollten außerdem Sciascias historische Romane, wie I consiglio d’Egitto (1963), Morte dell’inquisitore (1964), I pugnalatori (1976) oder La sentanza memorabile (1982), in denen es dem Autor stets um die genaue Dokumentation und Aufklärung geht. Ein weiterer wichtiger und viel beachteter Roman ist Candide ovvero un sogno fatto in Sicilia (1977), bei dem sich Sciascia an Voltaires Candide ou l’optimisme (1759) hält. Auch hier will Sciascia, entsprechend seinem philosophischen Vorbild, auf die Wichtigkeit von Vernunft, Gerechtigkeit und Freiheit hinweisen. So ist an diesem Punkt festzuhalten, dass Sciascia sich in all seinen Werken vor allem der Darstellung der Gesellschaft und der realen Verhältnisse verpflichtet sah, dass er aber gleichzeitig als Rationalist und unabhängiger Intellektueller an den Glauben an Toleranz, Freiheit, Vernunft und Gerechtigkeit appellierte, was sich schließlich in seinem engagierten Schreiben ausdrückt.
Eine besondere Bedeutung bekommen in diesem Zusammenhang Sizilien und Luigi Pirandello, der ein wichtiger Bezugspunkt für Sciascia ist. Über ihn hat er zahlreiche Schriften, wie zum Beispiel Pirandello e il pirandellismo (1953) und Pirandello e la Sicilia (1961) verfasst. Mit ihm verbindet er seine „Erfindung der sicilianità“[133], bei der er den besonderen Charakter Siziliens und der sizilianischen Gesellschaft bewusst macht. Zahlreiche Schriften, Essays und Interviews, wie zum Beispiel La Sicilia come metaforo (1979) oder Sicilia e sicilitudine (1969) sind in diesem Zusammenhang von Sciascia entstanden.
Es zeigt sich, dies sei hier bereits betont, dass sich bei der Betrachtung von Sciascias umfangreichem literarischem Werk zahlreiche Einflüsse für sein Schaffen finden, die nicht alle ausführlich in dieser Arbeit beachtet werden sollen und können. Denn zunächst geht es in den folgenden Kapiteln vor allem um die Darstellung und Analyse seiner im sizilianischen Milieu angesiedelten Kriminal- und Detektivromane. Es sind vor allem diese seine Romane, mit denen Sciascia international bekannt wurde, die meisten der Romane wurden von berühmten Regisseuren, wie Damiano Damiani, Francesco Rosi, Elio Petri und Gianni Amelio verfilmt. Von seinen insgesamt sechs Detektivromanen (Il giorno della civetta 1961, A ciascuno il suo 1966, Il contesto 1971, Todo Modo 1974, Il cavaliere e la morte 1988 und Una storia semplice 1989) sollen in dieser Arbeit die ersten drei behandelt werden, weil sie besonderen Aufschluss auf das Bild der Mafia und die gesellschaftliche Situation Siziliens geben und außerdem über die Romane hinweg eine aussagekräftige Entwicklung zu erkennen ist. Es soll dargestellt werden, wie sich Sciascia der Thematik Mafia widmet, inwieweit er sich dabei des Genres des Detektivromans bedient und wie sich die Auseinandersetzung über seine drei ersten zentralen Romane, deren Publikationsjahre einen Zeitraum von zehn Jahren umspannen, entwickelt. Im Bewusstsein der komplexen Mafia-Thematik und der kritischen und sozial engagierten Stellung Sciascias gilt es schließlich zu analysieren, welche Intentionen Sciascia mit seinen Romanen verfolgt und ob und wie ihm das gelingt. Dabei ist die Kommunikation zwischen Autor und Leser von besonderer Bedeutung für Sciascias Sozialkritik, dies sei hier bereits erwähnt. Abschließend muss darauf hingewiesen werden, dass bei der Untersuchung von Sciascias Detektivromanen entsprechend der wissenschaftlichen Auseinandersetzung vor allem die Genrethematik im Vordergrund stehen soll. Dennoch ist festzustellen, dass wichtige weitere Einflussfaktoren in Sciascias Schaffen teilweise auch in den hier zu behandelnden Detektivromanen zum Ausdruck kommen. Diese Einflüsse sollen in Kapitel 3.5 nochmal kurz umrissen und nachvollzogen werden.
„Sciascia selbst hat sein Gesamtwerk als einen Roman bezeichnet, in dem er das eine Thema Sizilien umkreise (…). Gleiches gilt für seine Detektivliteratur, die - von Sizilien ausgehend - die Aufklärung gegen starke und verbrecherische Machtstrukturen thematisiert und nachdrücklich als politischen und moralischen Imperativ einfordert.“[134] Wie bereits erwähnt, sind es vor allem die Detektivromane, die Sciascia auch außerhalb Italiens bekannt gemacht haben. „Neben Gadda und vor Umberto Eco ist er zu dem italienischen Klassiker des Genres geworden.“[135] Dabei lässt die Thematik Mafia eine literarische Umsetzung in der Gattung des Detektivromans auf den ersten Blick durchaus logisch erscheinen - es geht um Kriminalität, um Korruption, die Verstrickung von Macht und Verbrechen. An dieser Stelle kann betont werden, dass Sciascia für seine Mafia-Darstellung und seine besondere Sozialkritik ganz bewusst die Fiktion und den Detektivroman nutzt. Bevor in den folgenden Kapiteln näher auf Sciascias Darstellung der Mafia in seinen Romanen eingegangen wird, darf vorweg nicht vergessen werden, seine besondere Umsetzung des Genres des Detektivromans darzustellen. Hierzu ist in Kapitel 3.3 ein knapper formaler Vergleich zwischen den Detektivromanen Sciascias und dem Genre des klassischen Detektivromans nötig.
Zunächst ist aber festzustellen, dass Sciascia durchaus ein gründlicher Kenner von Detektivliteratur ist. In seinem Essay Breve storia del romanzo poliziesco beschreibt er kurz ihre Geschichte. Dabei verweist er unter anderem auf klassische Kriminalautoren, wie Agatha Christie oder Dashiell Hammett, und er betont die Begründung des Genres durch Edgar (Allan) Poe und Arthur Conan Doyle, dessen Detektive Charles Auguste Dupin und Sherlock Holmes stets - bewusst - rational zur Aufklärung des Falls kommen. Sciascia beschreibt, dass der Detektivroman vor allem der Unterhaltung dient. Der Leser nimmt am Handlungsverlauf teil, er identifiziert sich mit dem positiven Helden, meist dem Detektiv, und versucht aufgrund der rätselhaften Zeichen, der Indizien, zu einer Lösung zu kommen.[136] Darüber hinaus, darauf soll in Kapitel 3.3 näher eingegangen werden, weist der klassische Detektivroman eine Anzahl fester Charakteristika und Strukturschemata auf. Es bleibt zu klären, inwieweit und mit welcher Akzentuierung Sciascia diese Kategorien verwendet und ob sich eine entsprechende Rezeptionshaltung des Lesers in seinen Romanen wiederfinden lässt. Hier liegt die Besonderheit von Sciascias Detektivromanen.
Dadurch, dass er um die klassischen Charakteristika des Genres weiß, ist davon auszugehen, dass Sciascia ganz bewusst diese verkehrt, das sei hier bereits hervorgehoben. In seinem Essay Breve storia del romanzo poliziesco schließt Sciascia ausdrücklich mit Bezug auf Carlo Emilio Gadda und betont, dass nur der Krimi ohne Lösung der wahre Krimi ist. „Ci basta ora finire con Gadda: che ha scritto il più assoluto ‚giallo’ che sia mai stato scritto, un ‚giallo’ senza soluzione.“[137] Immerhin etwas anders als Gadda, „der die Aufklärungsgeschichte, die der Kern jedes Detektivromans ist, in einem erkenntnistheoretisch motivierten Zugriff als vielfach zu hinterfragende aufsplittert und die degressive Reflexion zum Textprinzip macht, um die Wirklichkeit in ihrer Komplexität zu zeigen, konzentrieren sich Leonardo Sciascias Detektivromane wieder ganz auf die Aufklärungshandlung“[138]. Ulrich Schulz-Buschhaus spricht hier vom „realistische(n) Kriminalroman als Instrument von Sozialkritik“[139]. Die Aufklärung scheitert an den gesellschaftlichen Machtstrukturen. „Deshalb führen Sciascias Versuche, mit Hilfe von Detektivromanen etwas über die gesellschaftliche Realität auszusagen, zu Umformungen der traditionellen Handlungsstrukturen des...