HEINRICH CORNELIUS AGRIPPA VON NETTESHEIM UND SEINE „OKKULTE PHILOSOPHIE“:
EIN VORWORT
Marco Frenschkowski
Erst seit wenigen Jahren hat sich in der Wahrnehmung der Religionsgeschichte des christlichen Europa die Erkenntnis durchgesetzt, daß nicht mit zwei, sondern mit drei strukturell und vor allem soziologisch deutlich zu unterscheidenden Traditionsströmen bzw. Traditionsbereichen zu rechnen ist. „Religion in Europa“ spätestens seit dem hohen Mittelalter hatte schon in älteren Arbeiten zumindest zwei ganz verschiedene Bereiche von Kultur beschrieben: die „offizielle“ Religion der Kirchen und der Theologie, und die volkstümliche Religiösität v.a. der unteren Bevölkerungsschichten, in der vielfach Vorchristliches überlebt hat. Beide haben sich immer in einer spannungsvollen Interaktion befunden, die nicht allein mit ihren teilweise divergierenden Vorstellungswelten, sondern mehr noch mit ihrem unterschiedlichen sozialen Ort zusammenhingen. Die „große Tradition“ („big tradition“) war durch Schrift und Bildungskultur vermittelt, sie war eher städtisch, männlich und durch Klerus und Adel geprägt. Natürlich hatte sie auch ihre spezifischen Formen und ihr Äquivalent in gesellschaftlichen „Unterschichten“, in weiblicher Lebenswelt, im bäuerlichen Leben und selbst in den Welten des fahrenden Volkes oder anderer marginalisierter Gruppen, aber sie war doch primär geprägt durch die Inhalte und Interessen der erstgenannten Schicht. Die „kleine Tradition“ („small tradition“) umfaßte die spezifische Vorstellungswelt und das Erzählgut der Bauern und kleinen Händler, der Frauen oder anderer gesellschaftlicher Gruppen, die nur peripher an Macht und Status partizipierten. Die Unterscheidung „big tradition“ und „small tradition“ hat dabei ihren Ursprung in der Soziologie (im Gegensatz zu Begriffen des 19. Jhdts. wie „Volksreligion“, volkstümliche Religion u.ä., die meist primär inhaltlich bestimmt waren). Beide sind zuweilen aufeinander bezogen, können aber auch in erstaunlicher Unabhängigkeit nebeneinander bestehen. Polare Gegenüberstellungen wie „Religion“ vs. „Magie“ oder ähnlich können jedenfalls diese komplexen kulturellen und sozialen Sachverhalte kaum bescheiben.
Daneben hat jedoch außerdem immer auch ein dritter Strom religiöser Erfahrung und religiösen Nachdenkens existiert, den wir mangels eines bes seren Namens den esoterischen nennen können, und dessen schierer quantitativer und qualitativer Umfang in der älteren Forschung meist unterschätzt wurde. Dieser Bereich religiösen Denkens und religiöser Praxis hatte seinen Platz weder primär in dem, was man herkömmlich das „Volk“ nannte, noch in der etablierten Vorstellungswelt der „offiziellen“ oder „institutionellen“ Religion. Vielmehr wurde er getragen von oft gebildeten, aber kirchlich bzw. in der „big tradition“ meist nur begrenzt oder gar nicht integrierten Menschen. Dieser esoterische Traditionsstrom hat seine inhaltlichen Wurzeln v.a. in Gnosis und Neuplatonismus der Spätantike. Wesentliche Grundgedanken hatten ehemals in der neuplatonischen Philosophie Gestalt gewonnen, insbesondere in jener Ausprägung, die ihr Porphyrios, Jamblichos, Synesios und Proklos verliehen haben. Im hohen Mittelalter war er in den islamischen Zivilisationen stärker vertreten als in Europa, aber in der Renaissance erwachte auch in diesem der esoterische Traditionsstrom mit neuer Kraft und verband sich mit anderen kulturellen Strömungen, nicht zuletzt der neuen Naturphilosophie und partiell mit der entstehenden Naturwissenschaft.1 Immanenz und Transzendenz der Gottheit wurden hier deutlich anders bestimmt als in den scholastischen Theologien der etablierten Kirche (bzw. wurden neu zum Problem), das Menschenbild legte weniger Wert auf Sünde und Erlösung, mehr auf verborgene Fähigkeiten und Gottebenbildlichkeit, mystische, nicht durch Institutionen getragene religiöse Erfahrungen rückten in den Mittelpunkt, und der Paradigmenwechsel zur neuzeitlichen Wahrnehmung der Natur bereitete sich in vielem bereits vor. Die Natur wurde zu einem völlig eigenständigen „Buch“ göttlicher Offenbarung neben der Bibel. Ihre epistemische Unterordnung unter das theologische Wissen wurde brüchig. Freilich auch Magie, Hermetik, Alchemie, Astrologie, Divination, Zahlenmystik und andere Formen von theologisch „suspektem“ Wissen wurden breit rezipiert, und die Grenzen zwischen den Religionen selbst wurden zeitweise durchlässiger, als sie es für viele Jahrhunderte zuvor gewesen war. Nicht nur antikes Erbe erlebte seine Wiedergeburt, sondern v.a. aus dem Judentum (weniger dem Islam) wurde reiches Material übernommen. Leitgedanke war „ad fontes“, zu den Quellen (nämlich des Wissens), die man vielfach verschüttet, aber doch zugänglich glaubte. In diesem geistigen Milieu ist Agrippa zu einem eigenständigen Denker geworden.
Eine Schlüsselfigur wurde für ihn der Humanist Johannes Reuchlin (1455–1522), väterlicher Freund Melanchthons, der auch Agrippa vielfach beeinflußt hat. Reuchlin – der erste deutsche Hebraist – steht vor allem für die christliche Entdeckung der jüdischen Mystik, der Kabbala („Überlieferung“). Sein großes Werk „De verbo mirifico“ (1494) hat Agrippa in seiner Jugend entscheidend geprägt, und sein „De arte cabbalistica“ (1517) gehört zu den Grundschriften der entstehenden christlichen Kabbala, die bis zum 17. Jhdt. (Christian Knorr von Rosenroth), ja bis zum 19. Jhdt. (Eliphas Levi) ständig an Bedeutung für den esoterischen Diskurs gewann. In Italien ist diese Verbindung mit Männern wie Pico della Mirandola, Marsilio Ficino, Francesco Giorgio Veneto und vielen anderen reicher vertreten als in Deutschland und findet ihren Höhepunkt in gewisser Hinsicht in Giordano Bruno.
Agrippa von Nettesheim war und ist (in seiner Wirkungsgeschichte) ein zentraler Autor dieses dritten Traditionsstroms. Tatsächlich ist er weit mehr als eine Stimme in der Geschichte des Okkultismus: er hat das Thema für lange Zeit geradezu definiert. Eine neue englische Ausgabe von „De occulta philosophia“ nennt das Werk auf dem Titel „The Foundation Book of Western Occultism“2, und wirkungsgeschichtlich gesehen ist das nicht übertrieben. Agrippa band die verschiedenen Fäden des naturphilosophischen und magischen Denkens in ein System zusammen, und füllte dies mit einer schier unendlichen Fülle an illustrierenden Details. Damit ist sein Werk weit mehr als nur ein Baustein der Geschichte religiöser Subkulturen im Abendland. Es hat auch einen Platz im Mainstream des Denkens.
Man hat gelegentlich von einem „epistemologischen Paradigmenwechsel“ bzw. „epistemischen Bruch“ in der Zeit um 1600 gesprochen: der Ort primärer Gewinnung von neuem Wissen ist nicht mehr die Bibliothek, sondern das Laboratorium mit Experiment und Naturbeobachtung.3 Während die Renaissance Fortschritt als Wiedergewinnung des „Alten“ und „Ursprünglichen“ zu gewinnen versucht („prisca theologia“, „philosophia perennis“), verselbständigt sich der neuzeitliche Fortschrittsgedanke im 17. Jhdt. gegenüber dieser Idee eines „ursprünglichen Wissens“. Agrippa gehört – vielleicht auf den ersten Blick überraschend – bereits mitten in diese Entwicklung, denn neben seiner Systematisierung eines „ganzheitlichen“ (wenn auch aus heutiger Sicht zu erheblichen Teilen obskurantistischen) Wissens partizipiert er an Fortschrittsideen, die sich an oft unerwarteten Stellen in seinem Werk zu Wort melden. Auch das Faszinans der neuen Naturbeobachtung ist bei Agrippa schon öfters zu spüren. Er steht freilich zwischen den Zeiten: Autoritäten aus alter Zeit (nicht zuletzt den älteren Plinius, eine seiner Hauptquellen) zitiert er mit der gleichen Autoritätsgläubigkeit, wie es mittelalterliche Autoren getan haben. Freilich haben viele seiner Zitate (gerade die reichlich eingestreuten Dichterzitate aus den lateinischen Klassikern) dekorativen Charakter; Agrippa ist auch Humanist, der gerne seine Bildung zeigt. Deutlicher wird die eigentümliche Mischung von Autoritäts- und Fortschrittsglauben im okkulten Diskurs ein Jahrhundert später in den Rosenkreuzertraktaten, die etwa zwischen 1614 und 1618 entstanden sind.4
Neu – wenn auch nicht grundsätzlich neu, so doch neu in einem umfassenden Werk über das Okkulte – ist die intensive Zusammenbindung von Magie und Religion. In herkömmlichen christlichen Systemen stehen Magie und Religion einander feindlich gegenüber. Zwar hat es immer in allen Formen christlicher Praxis auch magische Elemente gegeben; die Grenzen sind oft fließend, gerade in volkstümlicher Kultur. Aber im allgemeinen wird das Magische im Christentum als tendentiell dämonisch verdächtigt. Magie ist Teufelswerk, und steht in gefährlicher Nähe zum Teufelsbund. In der Renaissance hatte es verschiedentlich Versuche einer Rehabilitation der Magie gegegeben, wobei alte...