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Vorwort
»Ich bin alles, was da war, ist und sein wird; und kein Sterblicher hat je mein Gewand aufgedeckt.«
Plutarch, De Iside et Osiride 9
Am 5. Mai des Jahres 218,1 es war das vierte Jahr der Herrschaft Ptolemaios’ IV., begab sich der griechische Reitersoldat Herakleides aus privaten Gründen in das ägyptische Dorf Psya. Der Ort lag inmitten Ägyptens, im Faijum, einer vom Nil gespeisten Oase in der libyschen Wüste. Die aus Makedonien stammenden Pharaonen hatten hier einen Großteil ihrer nichtägyptischen Soldaten angesiedelt, und Ägypter und Fremde lebten Dorf an Dorf und teilweise auch Tür an Tür. Als Herakleides nun arglos durch die Straßen von Psya ging, traf ihn plötzlich ein Schwall abgestandenen Urins aus dem Obergeschoss eines Hauses. Die Ägypterin Psenobastis hatte, wie der Grieche in einer Klageschrift schreibt, ihren Nachttopf ausgeleert und den Spaziergänger dabei – möglicherweise eher willentlich als aus Versehen – mit ihren Exkrementen überschüttet. Verständlicherweise entbrannte daraufhin ein heftiger Streit zwischen Herakleides und der Ägypterin, der darin mündete, dass nicht etwa der Mann, sondern die Frau handgreiflich wurde, Herakleides anspuckte und ihm das Gewand von der Brust riss. In welcher Sprache die beiden miteinander stritten, ob sie sich überhaupt verstanden, bleibt offen. Klar ist, dass der Grieche nicht einmal den korrekten Namen der Dame verstanden hatte, denn Psenobastis – »Der Sohn der Bastet« – ist ein Männername! Die Ägypterin wird also korrekt Thenobastis – »Die Tochter der Bastet« – geheißen haben. Beide schrieen sich auf jeden Fall so laut an, dass sich schnell eine Zuschauermenge gebildet hatte, welche Thenobastis schließlich, wie Herakleides berichtet, dazu bewegen konnte, von ihm abzulassen.
Wieder an einem sicheren Ort, verfasste der Elitesoldat die besagte Klageschrift, die er, so wie in dieser Zeit üblich, direkt an den König des Landes schickte. Statt also ebenfalls Gewalt anzuwenden, möglicherweise sogar Selbstjustiz zu üben, hatte Herakleides den Rechtsweg beschritten und eine Anzeige mit der Bitte um Untersuchung des Falls eingereicht:
»Ich bitte dich also, König, wenn es dir (recht) erscheint, nicht über mich hinwegzusehen, dem solcherart bar jeder Vernunft von einer Ägypterin Gewalt angetan wurde – der Grieche ist und Fremder! –, sondern den Strategen Diophanes anzuweisen, … dem Dorfvorsteher Sogenes zu schreiben, dass er die Psenobastis vor ihn sende, so dass ihr Fall entschieden werden kann gegen mich wegen dieser (Vorkommnisse) und, wenn das in der Eingabe wahr ist, sie die Strafe erlange, auf die der Stratege entscheidet. Wenn das geschieht, werde ich durch dich, König, Gerechtigkeit erlangen. Lebewohl.«2
Diese kurze, auf einem Papyrus aus dem Wüstensand erhaltene Eingabe an den König führt mitten hinein in ein Land, dessen Gesellschaft durch die Eroberungen Alexanders des Großen und die daran anschließende Herrschaft der makedonischen Könige ein vollkommen verändertes Gesicht erhalten hatte. Unzählige Fremde waren als Soldaten, Verwaltungsexperten und Händler, als Abenteurer und Glücksucher hierhergekommen. Viele, vielleicht sogar alle, waren gekommen, um zu bleiben, denn für die Zuwanderer bedeutete der Weg nach Ägypten in den meisten Fällen einen sozialen Aufstieg: Das Land am Nil war die Neue Welt des hellenistischen Zeitalters. Aus den Fremden wurden damit spätestens in der zweiten Generation Einheimische. Doch sie sahen sich auch noch nach 300 Jahren keinesfalls als Ägypter und das, obwohl sie im Laufe der Jahrhunderte die Lebensgewohnheiten, die Kultur und Religion Ägyptens übernahmen oder in ihrem Sinne adaptierten.3 Sie beharrten in vielen Fällen trotzdem auf ihrer nichtägyptischen Identität, da sie zu einer privilegierten Bevölkerungsschicht, der Statusgruppe der Hellenen, gehörten, die die entscheidenden Positionen von Heer und Verwaltung innehatte und die auf vielfältige Weise mehr oder weniger offen gegenüber den Ägyptern bevorzugt war.
In einer solchen Gemengelage waren Konflikte unausweichlich. Sie verschärften sich in Zeiten verstärkten Zugriffs der fremden Könige auf die wirtschaftlichen Ressourcen des Landes, was auch die großen einheimischen Aufstände der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts zeigen. In Oberägypten konnten sich für 20 Jahre sogar einheimische Gegenpharaonen etablieren. Trotz derartiger Verwerfungen ist es den ptolemäischen Königen aber insgesamt gelungen, eine äußerst stabile Herrschaft aufzubauen, denn ihnen war stets an einem Ausgleich zwischen den verschiedenen Untertanengruppen gelegen, sie traten sogar häufig genug schützend für die Ägypter gegen korrupte Funktionäre ein. Sie taten das natürlich nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern weil sie eine im Sinne der Herrschaft funktionierende und arbeitstätige, die Felder bestellende Bevölkerung brauchten, schließlich war das Getreide Ägyptens das Gold der Ptolemäer. So war die letzte Dynastie des Landes am Nil mit einer 300jährigen Dauer gleichzeitig auch die erfolgreichste in der über 3000jährigen Geschichte Ägyptens.
Wie der König und sein Beraterkreis die innere Stabilität gewährleisten konnten, zeigt gerade die eingangs vorgestellte Klageschrift, die die damals bestehende Rechtssicherheit vor Augen führt und den Griechen von Selbstjustiz abhielt. Ebenso sind Eingaben von Ägyptern an den König bekannt. So beschwerte sich am 26. Februar 221 der Bauer Stotoetes beim König, dass ihn der Soldat Geroros gewaltsam aus seinem Haus in Polydeukeia, einem Dorf, das ebenfalls im Faijum lag, herausgeworfen hatte. Er bat um Prüfung und Rechtsgewährung durch den Gauverwalter Diophanes und den ihm zugeordneten Polizeivorsteher Sosibios, damit er sich, und hier kommt das entscheidende Argument, wieder »der Feldarbeit zuwenden kann«.4 Ein Priester des Ammon und des Herrscherkultes wiederum beschwerte sich in der Zeit des vierten Ptolemäers darüber beim König, dass er mit soldatischen Einquartierungen belästigt wurde, nur »weil er Ägypter« sei, was aber für ihn in seiner Funktion als Priester nicht zu rechtfertigen sei.5 In der Tat waren die einheimischen Priester eine äußerst privilegierte Gruppe der Bevölkerung, der im Verlauf der ptolemäischen Geschichte eine wichtige Rolle in der Stabilisierung der Herrschaft zukam.
Die gesellschaftlichen Verhältnisse Ägyptens waren maßgeblich vom Handeln und den Weisungen des Königs und seiner Hofgesellschaft bestimmt. Als basileus (König) war er den Fremden und als Pharao den Ägyptern sinngebendes und handlungsorientierendes Vorbild. Als basileus herrschte er jedoch nicht nur über Ägypten, sondern im dritten Jahrhundert zudem direkt oder indirekt über weite Teile des östlichen Mittelmeerraumes, von Libyen bis nach Kleinasien und über viele Inseln im Mittelmeer. Bis ins erste Jahrhundert waren Kyrene in Nordafrika und Zypern wichtige Bestandteile des Reiches.
Über die Verhältnisse im Land am Nil sind wir vor allem deshalb am besten informiert, weil zu ihnen die meisten antiken Quellen vorliegen und weil nur Ägypten bis zum Ende der Ptolemäerzeit beständiger Herrschaftsraum der Ptolemäer war. Folgerichtig muss und wird ein Schwerpunkt des vorliegenden Buches auf den politischen und sozialen Rahmenbedingungen, den Strukturen der Herrschaft einerseits und der Ereignisgeschichte in Ägypten andererseits liegen.6 Im Verlauf der Darstellung kommen zudem ausführlich die einschlägigen Quellen, die üblicherweise in den Fußnoten verschwinden, zu Wort. Schließlich sind diese Quellen, wie es schon der eingangs zitierte Papyrus zeigt, äußerst spannend und sie helfen dem Leser, sein Verständnis für die Epoche zu vertiefen, ebenso wie er eigene Einschätzungen zu gewinnen vermag.
Aus diesem Grund finden sich hier natürlich einerseits Auszüge der großen antiken Historiker und Biographen, wie Diodor, Polybios, Livius oder Plutarch, die teils nie oder nur kurze Zeit in Ägypten waren, die aber die Geschichte des ptolemäischen Ägyptens in einen größeren Ereigniszusammenhang stellen und auf diese Weise überhaupt erst eine chronologische Darstellung der Ptolemäerzeit ermöglichen. Gleichzeitig legen die antiken Autoren aber ein »Gewand« der Erinnerung über die Geschichte, unter dem manches verborgen bleibt und vieles in einem anderen Licht erscheint, sich gar völlig anders darstellt. So gleicht die Geschichte Ägyptens dem oben...