Vorwort
Vor 30 Jahren war ich als Korrespondent für die Los Angeles Times tätig. Damals führte mich ein Auftrag ins Allerheiligste des Politbüros, in das geheimnisvolle und allmächtige Zentrum der Sowjetunion. Staatsoberhaupt Michail Gorbatschow leitete zu dieser Zeit gerade sein ehrgeiziges politisches Projekt für mehr Offenheit und Veränderung in die Wege. Seine Perestroika, die Umgestaltung der sowjetischen Regierung, würde später unweigerlich – wenn auch unbeabsichtigt – das Ende des brutalen kommunistischen Experiments herbeiführen. Danach folgte eine schöne neue Welt aus unterschiedlichen Ethnien, Kulturen und Religionen, die sich über ein Sechstel der Landfläche unseres Planeten erstreckt.
Ich interviewte an diesem Tag Alexander Jakowlew, das liberalste Mitglied des Politbüros und enger Vertrauter Gorbatschows. Ein anderes Mal klopfte ich im selben Flur auch an die Tür von Jegor Ligatschow, der als zweiter Mann nach Michail Gorbatschow und stärkster Gegner der Perestroika galt. Boris Jelzin, dessen Rolle zu dieser Zeit noch eher unklar war, begegnete ich leider nicht – er wurde 4 Jahre später, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der erste russische Präsident. Es war Jelzin, der den ehemaligen KGB-Oberstleutnant Wladimir Putin als Angehörigen des Reformflügels in seine Regierung holte. Als Jelzin am 31. Dezember 1999 sein Amt niederlegte, übernahm Putin die Amtsgeschäfte des Präsidenten. Ein paar Monate danach gewann Putin dann mit einem klaren Sieg über den Kandidaten der Kommunistischen Partei die Präsidentschaftswahlen des Landes.
Der Regisseur Oliver Stone führte für den US-Fernsehsender Showtime mehrere Interviews mit dem russischen Staatschef. Diese historisch bedeutenden und immens wichtigen Gespräche wurden zur Grundlage einer vierteiligen Doku-Fernsehserie und sind im vorliegenden Buch vollständig abgedruckt. Putin sagt darin unter anderem, dass er nach dem Ende der Sowjetunion glaubte, der Kalte Krieg und mit ihm die Bedrohung in Gestalt eines bewaffneten Konflikts seien nun endlich vorbei. Doch es kam völlig anders.
Putin verwarf zwar den Kommunismus als Staatsreligion und griff stattdessen die Traditionen der russisch-orthodoxen Kirche wieder auf, ist aber bis heute leidenschaftlicher Nationalist. Er ist fest entschlossen, Russland den Respekt zu verschaffen, den es seiner Ansicht nach verdient. Für ihn bedeutet das eine Rücksichtnahme auf die historischen Anliegen des russischen Volkes bezüglich seiner Landesgrenzen und der Behandlung russischsprachiger Menschen, die nach dem Kollaps der Sowjetunion plötzlich Bürger eines anderen Landes wie beispielsweise der Ukraine waren.
Bei seinen Gesprächen mit Stone hält Putin seinem Amtsvorgänger Gorbatschow zugute, dass er einerseits die Notwendigkeit eines tief greifenden Wandels im scheiternden sowjetischen System richtig erkannt habe. Andererseits sei der Perestroika-Lenker äußerst naiv gewesen, was die gewaltigen Hindernisse für diesen Wandel im eigenen Land und vor allem in den Vereinigten Staaten anging. Er sei überzeugt gewesen, dass die Vernunft siegen werde, da doch die Hauptgegner im Kalten Krieg – die beide die Fähigkeit besaßen, alles Leben auf der Erde auszulöschen – nichts als den Frieden wollten.
Die zentrale Fragestellung in den Stone-Putin-Interviews befasst sich damit, wie es zum derzeitigen politischen Spannungsverhältnis kommen konnte. Damit sind diese Gespräche ein Schlüsseltext zum Verständnis unserer gefährlichen Zeit. Die zwischen dem 2. Juli 2015 und dem 10. Februar 2017 geführten Interviews entstanden in einem Zeitraum, als sich die Beziehungen zwischen den zwei größten Militärmächten der Welt erheblich verschlechterten. Heute herrschen zwischen Russland und den USA so viel Misstrauen und Feindseligkeit, wie wir sie seit dem Ende des Kalten Kriegs vor einem Vierteljahrhundert nicht mehr gesehen haben. Stone merkt in den Gesprächen auch einige Male pointiert an, dass Macht oft die Eigenschaft hat, die Herrscher eines Landes im Namen eines fehlgeleiteten Patriotismus zu korrumpieren. Und dies, so Stone, sei ein Problem, das jeden Staat und definitiv auch Russland betreffen könne.
Das Gespräch wurde respektvoll geführt und gab Putin die Möglichkeit, »seine Version der Geschichte darzustellen«, wie Stone gegen Ende sagte. Das hindert den Regisseur und Journalisten Stone jedoch nicht daran, diese Version immer wieder aktiv infrage zu stellen. Seine Bemerkungen drehen sich vor allem um die anhaltende Diskussion über Russlands Rolle in der Weltpolitik, angefangen von der Unterstützung des syrischen Assad-Regimes bis hin zur Anschuldigung, die US-Präsidentschaftswahlen des Jahres 2016 beeinflusst zu haben.
Stone weiß aus eigener Erfahrung viel über aussichtslose Kriege und die Lügen, die darüber erzählt werden. Er war 2 Jahre im Kampfeinsatz in Vietnam und verarbeitete die dort gemachten Erfahrungen in seinem mit vier Oscars ausgezeichneten Film Platoon und den beiden anderen Werken seiner bravourösen Vietnam-Trilogie, Geboren am 4. Juli und Zwischen Himmel und Hölle. Auch in seiner 2012 vom Sender Showtime ausgestrahlten, zehnteiligen revisionistischen Geschichtsaufarbeitung Oliver Stone – Die Geschichte Amerikas und dem Begleitbuch dazu geht er ausführlich auf das Thema Krieg ein. Zudem stellt er darin die offizielle amerikanische Darstellung des Kalten Kriegs infrage, die gerade vor dem Hintergrund des vorliegenden Werks eine grundlegende Rolle spielt.
Aber auch Putin ist mit dem Thema Krieg mehr als vertraut. Schließlich kam er im Trümmerhaufen der Sowjetunion an die Macht, die nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs, der deutschen Invasion und 50 Millionen Toten nichts Besseres zu tun hatte, als in Afghanistan einzumarschieren. Dieser sinnlose Konflikt war es im Endeffekt auch, der das Ende des kommunistischen Regimes einläutete. Heute lenkt Wladimir Putin einen Staat, der zwar nach wie vor eine riesige militärische Macht darstellt, aber weit weniger erfolgreich ist, was seine friedlichen wirtschaftlichen Errungenschaften angeht.
Gemeinsam ist Putin und Stone die Überzeugung, dass militaristische Selbstüberschätzung fatale Folgen haben kann. Auch jenen Ideologien in ihren jeweiligen Gesellschaften, die heute ebenso wie früher imperialistisch gesinnt sind, stehen sie durchaus misstrauisch gegenüber. Dennoch unterhalten sich hier nicht zwei Gleichgesinnte. Stone ist auf den folgenden Seiten vielmehr der kritische Künstler, der sich auf Widersprüche und merkwürdiges Gedankengut stürzt. Putin wiederum stellt von vornherein ausdrücklich klar, dass er sich bei aller Zurückhaltung seiner Rolle als Oberbefehlshaber der zweitstärksten Militärmacht der Welt stets bewusst ist und dass alle seine Aussagen Folgen haben können, die weit über spannendes Fernsehen hinausgehen. Dennoch hegen die beiden Männer einen vorsichtigen Respekt füreinander und gewähren dem Leser interessante Einblicke in den Verstand der Mächtigen – seien es nun Politiker oder Künstler.
Für Oliver Stone ist das Filmemachen eine perfekte Möglichkeit, seiner Verachtung für die Dogmen der außenpolitischen Führung seines Landes Ausdruck zu verleihen. Putin steht vor einer wesentlich schwierigeren Aufgabe: Er ist der politische Führer eines Landes, das immer noch mitten im grundlegenden Wandel von der sowjetkommunistischen zu einer neuen russischen Nationalidentität steht. Ihr muss es gelingen, die Brücke zwischen »1000 Jahren« russischer Geschichte, von den Zaren bis zu den mächtigen Oligarchen – der russischen Version der Günstlingskapitalisten – zu schlagen.
Putin tritt hier als Prophet eines verwundeten russischen Nationalismus auf, der zwar durchaus eine erhebliche Bedrohung darstellen könnte, aber so gar nichts mit der kommunistischen Ideologie zu tun hat, die seinem Aufstieg zur Macht voranging und die ihm sichtlich zuwider ist. Dieses Spannungsverhältnis spielt – wie wir sehen werden – eine zentrale Rolle in Putins Denken, aber auch in der Frage, wo Russland in der heutigen, stark veränderten Welt steht. Das Interview beginnt zu einer Zeit, als kaum jemand damit rechnete, dass ein populistischer, rechter Kandidat bei den amerikanischen Vorwahlen sämtliche Gegner aus dem republikanischen Establishment schlagen, die demokratische Kandidatin problemlos überholen und US-Präsident werden würde. Am Ende der Abschrift, nicht einmal einen Monat nach Donald Trumps Amtseinführung, beenden Oliver Stone und Wladimir Putin ihr Gespräch auf zugleich aufschlussreiche wie deprimierende Art und Weise.
In der letzten Interviewsitzung versucht Stone seinen Gesprächspartner nachdrücklich zu Aussagen zu bewegen, die für den intellektuell angriffslustigen Dokumentarfilmer ein paar offene Fragen beantworten sollen. Dazu gehören auch umstrittene Aspekte der 18 Jahre, die Putin nun schon das flächenmäßig größte Land der Erde regiert. Ist Putin süchtig nach Macht? Sieht er sich selbst als jemanden, der eine unerlässliche Rolle in der russischen Geschichte spielt? Hat die großteils unangefochtene Macht, die er ausübt, seine Sicht der Dinge ins Unrealistische verändert? Obwohl diese Themen in den vorliegenden Interviews nicht das erste Mal zur Sprache kommen, geht Putin gegen Schluss nicht mehr so bereitwillig auf Stones Nachbohren ein. Vielmehr hat sich eine gewisse Verdrossenheit eingestellt, die – wie Wladimir Putin klarstellt – weniger darauf zurückzuführen ist, dass er seine Ideen nicht für ein westliches Publikum geeignet hielte, sondern vielmehr darauf, dass sie ohnehin nicht gehört werden.
Putin hat es mittlerweile bereits mit seinem vierten US-Präsidenten zu tun, und ironischerweise ist Trump...