Im Anschluß an die Überprüfung der Zulässigkeit placebokontrollierter Arzneimittelprüfungen nach dem Arzeimittelrecht ist die Frage zu beantworten, ob § 41 II S. 1 Nr. 2 a) AMG, welcher fremdnützige Forschung auch mit einwilligungsunfähigen Minderjährigen seit der 12. AMG-Novelle begrenzt zuläßt, mit den genannten Grundrechten des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und mit Art. 7 Satz 2 CCPR vereinbar ist. Auch § 41 III Nr. 1 S. 2 AMG soll auf seine Verfassungsmäßigkeit und Vereinbarkeit mit der zitierten Norm des Völkerrechts hin überprüft werden.
Möglicherweise verstößt § 41 II S. 1 Nr. 2 a) AMG gegen Vorschriften des Grundgesetzes. In diesem Zusammenhang soll nochmals auf die problematische Situation der Verfassungswirklichkeit hingewiesen werden: In der Pädiatrie gibt es für viele Krankheiten überhaupt keine erprobten Standardmedikationen[449]. Aus diesem Grunde müssen im Rahmen der Individualtherapie bei Kindern häufig Medikamente verwendet werden, die eigentlich für Erwachsene vorgesehen sind und nicht ausreichend für die Therapie von Krankheiten bei Kindern getestet worden sind. Zur Erprobung spezieller Therapien und Verfahren zur Behandlung spezifischer Kinderkrankheiten erscheinen daher aus medizinischer Sicht klinische Prüfungen auch an einwilligungsunfähigen Minderjährigen notwendig, welche nicht immer einen individuellen Nutzen für den einzelnen Teilnehmer begründen können.
Gruppennützige Vorhaben werden im Übrigen auch in Deutschland seit Jahren gebilligt und mit einem angeblichen Eigennutzen legitimiert, der sich in Wahrheit lediglich als ein Begleitnutzen[450] für die betroffene Person darstellt. Insoweit ist grundsätzlich begrüßenswert, daß das novellierte Arzneimittelgesetz derartige Vorhaben nunmehr auf eine klare rechtliche Grundlage stellt und darüber hinaus restriktive Vorgaben hinzufügt[451].
Andererseits muß gewährleistet sein, daß die neuen gesetzlichen Vorgaben nicht gegen geltendes Verfassungsrecht, insbesondere nicht gegen die Grundrechte der betroffenen Prüfungsteilnehmer, verstoßen. Es sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, daß weder die anerkannte medizinische Notwendigkeit noch das Billigen der beschriebenen Vorhaben durch die zuständigen Ethikkommissionen und Fachkreise eine Aussage über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit gruppennütziger klinischer Arzneimittelprüfungen zu treffen vermag.
Es ist vorliegend nicht ersichtlich, daß durch die Vorschrift des § 41 II S. 1 Nr. 2 a) AMG formelles Verfassungsrecht verletzt wird. Sie ist mithin formell verfassungsmäßig.
Möglicherweise ist § 41 II S. 1 Nr. 2 a) AMG unvereinbar mit materiellem Verfassungsrecht. Im Rahmen der Überprüfung soll zunächst zwischen nicht einwilligungsfähigen und einwilligungsfähigen Minderjährigen differenziert werden, da für die verfassungsrechtliche Beurteilung insoweit unterschiedliche Maßstäbe gelten.
a) Einwilligungsunfähige Minderjährige
Die in Rede stehende Vorschrift des Arzneimittelgesetzes könnte in Grundrechte einwilligungsunfähiger Minderjähriger eingreifen. Als betroffene Grundrechte kommen die Menschenwürde, Art. 1 I S. 1 GG, das Allgemeine Persönlichkeitsrecht und die Allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 I GG, in Verbindung mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 II S. 1 GG in Betracht. Auch das Kindeswohl als Leitprinzip von Art. 6 II GG könnte – als Grundrecht der Eltern – tangiert sein. Darüber hinaus erscheint eine Verletzung des Allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 I GG als nicht von vornherein ausgeschlossen.
a) Verletzung der Menschenwürde, Art. 1 I S. 1 GG
Möglicherweise verletzt § 41 II S. 1 Nr. 2 a) AMG die Menschenwürde nicht einwilligungsfähiger Minderjähriger aus Art. 1 I GG. Hierfür müßte zunächst der Schutzbereich der Menschenwürde betroffen sein.
(1) Schutzbereich/Verhältnis zu anderen Grundrechten
In der Wertordnung des Grundgesetzes ist die Menschenwürde tragendes Konstitutionsprinzip und oberster Verfassungswert[452]. Die Würde des Menschen ist daher nicht verfügbar und zugleich nicht verwirkbar. Sie verlangt, daß der Mensch als selbstverantwortliche Persönlichkeit mit Eigenwert anerkannt wird[453]. Immer dort, wo menschliches Leben existiert, kommt diesem per se Menschenwürde zu[454]. Es ist nicht entscheidend, ob sich der Träger dieser Würde bewußt ist und sie selbst zu wahren weiß[455]. Auch – einwilligungsunfähige – Kinder sind mithin Träger des Grundrechts aus Art. 1 I S. 1 GG[456].
Die Bestimmung des Schutzbereichs der Menschenwürde bereitet häufig Schwierigkeiten, da sich nicht generell sagen läßt, unter welchen Umständen dieser getroffen ist[457]. Der Gewährleistungsgehalt des auf Wertungen verweisenden Begriffs der Menschenwürde bedarf der Konkretisierung[458]. Dies geschieht in der Rechtsprechung in Ansehung des einzelnen Sachverhalts mit Blick auf den zur Regelung stehenden jeweiligen Lebensbereich und unter Herausbildung von Fallgruppen und Regelbeispielen[459]. Dabei wird der Begriff der Menschenwürde häufig vom Verletzungsvorgang her beschrieben[460]. Die Bestimmung des Schutzbereiches muß mithin stets in Ansehung des konkreten Falles erfolgen[461]. Daher ist weniger auf positive Bestimmungen der Menschenwürde als auf negative Umschreibungen abzustellen und danach zu fragen, welche Handlungen im Einzelfall als Verletzung der Menschenwürde qualifiziert werden können[462].
Die Menschenwürdegarantie steht zu bestimmten Grundrechten in einem spezifischen Näheverhältnis[463]. Vor allem die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat dieses Näheverhältnis mehrfach betont, indem es Art. 1 I GG „in Verbindung“ mit anderen Grundrechten als Prüfungsmaßstab genannt hat[464]. Eine besondere „Nähe“ zu Art. 1 I GG hat das Bundesverfassungsgericht auch den Grundrechten aus Art. 2 II S. 1 GG, 3 I GG und 6 GG attestiert[465], die im Folgenden noch zu prüfen sind.
Der Menschenwürdeschutz läßt sich beispielsweise auch als eine Begrenzung der Beschränkbarkeit des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 II S. 1 GG begreifen[466]. Art. 1 I GG hat insgesamt unmittelbare Bedeutung für die Begrenzung anderer Grundrechte, indem er als deren immanente Schranke wirkt, was vornehmlich für schrankenlos gewährte Grundrechte relevant ist[467]: So kann etwa die hier Bedeutung erlangende Forschungsfreiheit des Art. 5 III S. 1 GG kein Verhalten tragen, das einen anderen Menschen in mit Art. 1 I GG unvereinbarer Weise herabwürdigt.
(2) Eingriff
Art. 1 I GG steht nicht unter Gesetzesvorbehalt. Die Vorschrift darf wegen Art. 79 III GG nicht einmal bei einer möglichen Verfassungsänderung berührt werden. In diesem Sinne bemerkt die herrschende Meinung im Schrifttum, daß die Menschenwürdegarantie keinen Beschränkungs- und Abwägungsmöglichkeiten unterliegt[468]. Das Bundesverfassungsgericht scheint sich in gleicher Richtung zu bewegen, wenn es ausführt: „soweit das allgemeine Persönlichkeitsrecht (...) unmittelbarer Ausfluß der Menschenwürde ist, wirkt diese Schranke absolut ohne die Möglichkeit eines Güterausgleichs“. Eingriffe in die Menschenwürde sind danach verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen[469].
Demgegenüber wird teilweise vertreten, dass Leben und Würde des Menschen zu einem „einheitlichen Schutzgut“ verbunden werden könnten, um sich damit die „Zukunftsfähigkeit“ des Art. 1 I GG durch Beschränkbarkeit zu eröffnen[470]. Diese Auffassung ist jedoch abzulehnen. Denn Art. 1 S. I GG ist gegenüber allen anderen Grundrechten deutlich hervorgehoben, was sich über seine systematische Stellung und seine durch Art. 79 III GG garantierte Unabänderlichkeit hinaus am...