1. Die geographischen und ethnographischen Vorstellungen von Nordeuropa in der Antike
Der europäische Norden wurde den Römern erst spät bekannt. Als das Römische Reich bereits Italien, Griechenland, Kleinasien, Syrien, Nordafrika und Spanien umfasste und die ganze Mittelmeerwelt kontrollierte, standen die geographisch weitaus näher gelegenen nördlichen Gebiete, schon mit dem Alpenraum beginnend, noch außerhalb römischer Kontrolle – und weitgehend außerhalb des römischen Erfahrungsbereichs.
Kursorisch waren auch die geographischen Kenntnisse der Römer über Nord- und Nordwesteuropa. Die früheste, stark von philosophischen Ordnungsvorstellungen geprägte griechische Geographie kannte drei Erdteile, nämlich Europa, Asien und Afrika, die in die Fläche übertragen einen Kreis füllen würden. Durch Mittelmeer und Arabischen Golf getrennt, nahmen Europa danach die obere Hälfte, Afrika und Asien in annähernd symmetrischer Form je ein unteres Viertel ein. Rings umgeben wurden die kontinentalen Landmassen von dem Oceanus. Zu ihm öffnete sich das Mittelmeer hinter der Meerenge von Gibraltar, doch auch der Arabische Golf oder das Kaspische Meer galten als Einbuchtungen des Ozeans.
Kolonisation, bereits wissenschaftlich angelegte Erkundungen, Handelsbeziehungen und politische Kontakte, vor allem aber die Expansion des Alexanderreiches trugen dazu bei, dass die Kenntnisse über den Mittelmeerraum, über Afrika und insbesondere Asien erheblich verbessert und differenzierter wurden. Die Summe des Wissens aus spekulativen Weltbildern, mathematisch-astronomischen Berechnungen und vielfacher Empirie trug im 3. Jahrhundert v. Chr. der griechische Gelehrte Eratosthenes von Kyrene zu einer Geographie und einer weiteren Schrift über die Erdmessung zusammen, wodurch er für lange Zeit zur maßgeblichen Autorität auf diesem Gebiet wurde (Abb. 1). Zu seinen besonderen Leistungen zählt die mit 252.000 Stadien (das entspricht 36.690 Kilometern) erstaunlich genaue Berechnung des Umfangs der Erdkugel, deren Oberfläche er zugleich schon in Längen- und Breitenkreise einteilte.
Der Westen Europas mit Italien und Spanien wurde von ihm relativ genau beschrieben, doch der Norden verlor sich immer noch in einer eher schematischen Landmasse. Das Kaspische Meer galt ihm weiterhin als zum Ozean hin offen, und die Rheinmündung setzte er auf fast dieselbe Breite wie die Nordküste des Schwarzen Meeres.
Während das Schwarze Meer durch die griechische Kolonisation seit Jahrhunderten bekannt war und man annahm, dass nördlich davon bis zum Ozean die Skythen lebten, lag an konkreten Erkundungen für das westlich davon angesetzte Gebiet der Kelten im Prinzip nur die berühmte Beschreibung der Nordfahrt des Pytheas vor. Am Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. war der Seefahrer und Geograph von Massalia (Marseille) aus über den Atlantischen Ozean bis Britannien vorgestoßen und hatte die Insel umfahren. Anschließend segelte er weiter durch die Nordsee Richtung Osten, doch es ist unsicher, wie weit er gelangte. Jütland dürfte von ihm nicht mehr umschifft worden sein. Pytheas erwähnte in diesem Raum das Wattenmeer, berichtete von Bernsteinvorkommen und nannte mit den Guionen und Teutonen erste Völkernamen dieser nördlichen Region.
Abb. 1: Die Erdkarte des Eratosthenes (Rekonstruktion)
Nahmen Griechen wie Römer im äußersten Norden noch für lange Zeit die Existenz von allerlei Fabelvölkern an – wie etwa die sich allein von Sumpfvogeleiern und Hafer ernährenden Oenonen, die pferdefüßigen Hippopoden und die nur durch ihre großen Ohren bekleideten Panuatier –, so wurden die konkreten Vorstellungen der Römer von den im Norden wohnenden Menschen durch die Erfahrungen des Keltensturms geprägt: Um das Jahr 387 v. Chr. war es bis nach Italien vorgestoßenen Kelten gelungen, Rom einzunehmen, die aufstrebende Stadt weitgehend zu zerstören und die Bewohner zur Zahlung eines schmählichen Tributs zu zwingen. Das bei der Abwägung des Goldes zynisch gezischte «vae victis» – «Wehe den Besiegten» –, mit dem der Keltenführer Brennus sein Schwert noch zusätzlich zu den von den Römern als manipuliert – weil zu schwer – empfundenen Gewichten in die Waagschale warf, prägte sich tief ins kollektive Gedächtnis ein. Es veranlasste die römischen Politiker noch Jahrhunderte später, die Verhältnisse im Norden Italiens stets mit allergrößtem Misstrauen und mit durchaus existentieller Angst zu beobachten.
Mehr als zwei Jahrhunderte nach dem Keltensturm schien sich diese elementare Gefährdung zu wiederholen. Aus dem Norden Europas, vermutlich von Jütland, waren Kimbern aufgebrochen, die auf ihrer jahrelangen Suche nach neuen Wohnsitzen mit ihren Familien schließlich bis in den Alpenraum vordrangen. Die Bereitschaft zum Verlassen angestammter Wohngebiete war damals in Nordeuropa insgesamt, vielleicht aufgrund sich verschlechternder klimatischer Bedingungen, erheblich gestiegen: Zahlreiche Gruppen wie etwa die Teutonen, Ambronen und Tiguriner schlossen sich den Kimbern an, andererseits kam es aber auch immer wieder zu Abspaltungsbewegungen und erfolgreichen Landnahmen.
Die Rom gänzlich unverständliche Mobilität dieser Gruppen, die nicht sesshafte Lebensweise und die schon in der Kleidung abweichende äußere Erscheinung beunruhigten zutiefst. Die Menschen aus dem Norden schienen nicht nur eine existentielle Bedrohung der römisch-imperialen Ordnung, sondern der Zivilisation überhaupt zu sein. Versuche, das Fremde begreifbar zu machen, waren einerseits, diese Völker als Repräsentanten einer früheren Kulturstufe zu sehen, wie man sie sich in Rückzugsgebieten und in den äußersten Zonen der bekannten Welt vorstellte. Mit Hilfe griechischer Kulturentwicklungstheorien erlaubte dieses zugleich die Zuschreibung zahlreicher für die jeweilige Kulturstufe als charakteristisch angesehener Merkmale und Verhaltensweisen.
Ein anderer und gleichfalls von den Griechen schon entwickelter Weg zur Erklärung – und damit zur Einordnung des Fremden in die eigene Welt – war, die besondere physische und psychische Disposition der Menschen auf die klimatischen Bedingungen ihrer Heimat zurückzuführen: «Die Völker, die im Norden leben, sind mit ungeheuer großen Körpern, heller Farbe, geraden und rötlichen Haaren, blauen Augen und viel Blut gebildet infolge der Fülle der Feuchtigkeit und des kalten Klimas. Die aber zunächst dem Südpol und unter der Sonnenbahn wohnen, werden infolge der starken Sonnenbestrahlung mit kürzeren Leibern, dunkler Farbe, krausem Haar, schwarzen Augen, schwachen Beinen und mit wenig Blut geschaffen. Daher sind sie auch, weil sie wenig Blut haben, ängstlicher, dem Eisen Widerstand zu leisten, aber Hitze und Fieber ertragen sie ohne Furcht, weil ihre Glieder mit der Hitze aufgewachsen sind. Daher fürchten die Körper, die im Norden geboren werden, das Fieber mehr und sind anfällig; infolge ihrer Blutfülle aber leisten sie dem Eisen ohne Furcht Widerstand» (Vitruv 6,1,3f. Übers. von C. Fensterbusch).
In derartigen Erklärungen verbanden sich Erfahrungen mit theoretischen Überlegungen, doch war diesen Modellen auch stets die gedankliche Konstruktion zu eigen, in Ergänzung eigener Beobachtungen und teils auch gegen sie. Eine überdies weitgehende Abhängigkeit derartiger «wissenschaftlicher» Theorien von zeitgenössischen Ereignissen zeigt sich daran, dass die Griechen vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit den Persern noch ein klimatisches West-Ost-Gefälle konstruiert hatten, während die Römer einige Jahrhunderte später mit Blick auf die Kelten eine Süd-Nord-Skala anlegten. Ideale Klimazone zur optimalen Entfaltung der körperlichen und geistigen Gaben war in beiden Fällen die jeweils eigene Heimat der Interpreten, d.h. Griechenland und später dann Italien.
Es zählt zu den Besonderheiten der Auseinandersetzung Roms mit den Nordvölkern, dass der Ehrgeiz einzelner römischer Heerführer immer wieder die ansonsten traumatischen Ängste vor diesen Völkern noch übertraf. Der Konsul Gnaeus Papirius Carbo eröffnete 113 v. Chr. in Erwartung eines ruhmvollen Sieges heimtückisch den Kampf gegen die Kimbern, die nach zuvor geführten Verhandlungen schon bereitwillig abrückten. Das Ergebnis war eine vernichtende Niederlage. Die Schlacht beim alpenländischen Noreia galt dem Historiker Tacitus am Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. als Ausgangspunkt eines grundlegenden römisch-germanischen Gegensatzes, auch wenn die damaligen Zeitgenossen die Kimbern noch als Kelten und nicht als Germanen einordneten. Im Jahr 105 v. Chr. erlitten die Römer...