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E-Book

Die rote Couch

Roman -

AutorIrvin D. Yalom
Verlagbtb
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl544 Seiten
ISBN9783641194826
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Ernest Lash, ein junger Psychoanalytiker aus San Francisco, glaubt an die Wirksamkeit seines Tuns, ist aber andererseits davon überzeugt, daß die klassischen Therapien dringend einer Erneuerung bedürfen. Eines Tages beauftragt ihn die Ethikkommission seines Fachbereichs mit der Untersuchung eines prekären Falls: Er soll die Arbeitsweise eines älteren, sehr berühmten Kollegen namens Seymour Trotter überprüfen, der angeklagt ist, ein Verhältnis mit einer vierzig Jahre jüngeren Patientin gehabt zu haben. Trotter beharrt darauf, daß Sex das einzige Mittel gewesen sei, um die junge Frau vor ihrem selbstzerstörerischen Verhalten zu retten. Zunächst ist Ernest entrüstet. Doch je mehr er sich mit der Sache beschäftigt, desto mehr fasziniert ihn die Idee, jedem Patienten bzw. jeder Patientin eine fallspezifische Behandlung zuteil werden zu lassen.

Irvin D. Yalom wurde 1931 als Sohn russischer Einwanderer in Washington, D.C. geboren. Er gilt als einer der einflussreichsten Psychoanalytiker in den USA und ist vielfach ausgezeichnet. Seine Fachbücher gelten als Klassiker. Seine Romane wurden international zu Bestsellern und zeigen, dass die Psychoanalyse Stoff für die schönsten und aufregendsten Geschichten bietet, wenn man sie nur zu erzählen weiß.

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Leseprobe

1


Dreimal die Woche hatte Justin Astrid während der vergangenen fünf Jahre seinen Tag mit einem Besuch bei Dr. Ernest Lash begonnen. Sein heutiger Besuch war anfangs genauso verlaufen wie jede andere der vorangegangenen siebenhundert Therapiesitzungen: Um zehn vor acht ging er die hübsch gestrichene Außentreppe des viktorianischen Hauses auf der Sacramento Street hinauf, dann durch den Hausflur, von dort aus in den zweiten Stock und schließlich in Ernests schwach beleuchtetes Wartezimmer, das von dem satten, feuchten Aroma italienischen Röstkaffees durchzogen wurde. Justin atmete den Duft tief ein, goß etwas Kaffee in einen japanischen, mit einer handgemalten Persimone verzierten Becher, setzte sich dann auf das steife, grüne Ledersofa und schlug den Sportteil des San Francisco Chronicle auf.

Aber Justin konnte dem Artikel über das gestrige Baseballspiel nicht folgen. Nicht heute. Etwas Gewaltiges war geschehen – etwas, das seine Gedanken in Anspruch nahm. Er faltete die Zeitung zusammen und starrte auf Ernests Tür.

Um acht Uhr legte Ernest Seymour Trotters Akte in den Aktenschrank, warf einen schnellen Blick auf Justins Karte, räumte den Schreibtisch auf, legte die Zeitung in eine Schublade, rückte seine Kaffeetasse außer Sichtweite. Danach stand er auf und sah sich noch einmal prüfend um, bevor er die Tür öffnete. Nichts wies darauf hin, daß der Raum bewohnt war. Gut.

Er öffnete die Tür, und einen Augenblick lang sahen die beiden Männer einander an. Heiler und Patient. Justin, der seinen Chronicle in der Hand hielt; Ernest, dessen Zeitung tief im Schreibtisch verborgen lag. Justin in seinem dunkelblauen Anzug mit der gestreiften Seidenkrawatte. Ernest in marineblauem Blazer und geblümter Krawatte. Beide hatten fünfzehn Pfund Übergewicht: Bei Justin zeigte sich das Fleisch an Kinn und Wangen, bei Ernest wölbte sich der Bauch über den Gürtel. Justins Schnurrbart kräuselte sich nach oben, reckte sich nach seinen Nasenlöchern. Ernests manikürter Bart war sein adrettestes Merkmal. Justins Gesicht war beweglich und nervös, seine Augen unruhig. Ernest trug eine Brille mit großen Gläsern; sein ruhiger Blick wurde nur selten von einem Wimpernschlag unterbrochen.

»Ich habe meine Frau verlassen«, sagte Justin, nachdem er Platz genommen hatte. »Gestern abend. Bin einfach ausgezogen. Ich habe die Nacht bei Laura verbracht.« Er sprach diese ersten Worte ruhig und leidenschaftslos aus, hielt dann inne und sah Ernest an.

»Einfach so?« fragte Ernest gelassen. Ohne mit der Wimper zu zucken.

»Einfach so.« Justin lächelte. »Wenn ich weiß, was zu tun ist, verschwende ich keine Zeit.«

Während der letzten Monate hatte sich ein leiser Humor in ihre Gespräche eingeschlichen. Für gewöhnlich hieß Ernest eine solche Entwicklung willkommen. Sein Supervisor, Marshal Streider, hatte gesagt, es sei häufig ein günstiges Zeichen, wenn während der Therapie humorvolle Bemerkungen fielen.

Aber Ernests Kommentar »Einfach so?« war keine gutmütige Randbemerkung. Justins Feststellung beunruhigte ihn. Und sie ärgerte ihn! Er behandelte Justin jetzt seit fünf Jahren – fünf Jahre lang hatte er ihn immer wieder in den Hintern getreten, um ihm dabei zu helfen, von seiner Frau loszukommen! Und heute informierte Justin ihn ganz beiläufig darüber, daß er es getan hatte.

Ernest dachte an ihre allererste Sitzung zurück, an Justins erste Worte damals: »Ich brauche Hilfe, um aus meiner Ehe herauszukommen!« Monatelang hatte Ernest die Situation aufs sorgfältigste untersucht. Schließlich war er zu dem Schluß gekommen: Justin sollte aus seiner Ehe herauskommen – es war eine der schlimmsten Ehen, mit denen Ernest je zu tun gehabt hatte. Und während der nächsten fünf Jahre hatte Ernest jeden psychotherapeutischen Kunstgriff angewandt, den er kannte, um Justin zu diesem Schritt zu bewegen. Und jeder einzelne Versuch war gescheitert.

Ernest war ein hartnäckiger Therapeut. Niemand hatte ihm je den Vorwurf gemacht, er würde sich nicht genug Mühe geben. Die meisten seiner Kollegen hielten ihn für zu aktiv, zu ehrgeizig in seiner Therapie. Sein Supervisor ermahnte ihn ständig: »Brrr, Cowboy, immer langsam mit den jungen Pferden! Sie müssen den Boden bereiten. Sie können die Menschen nicht dazu zwingen, sich zu ändern.« Aber irgendwann mußte sogar Ernest die Hoffnung aufgeben. Obwohl er nie aufhörte, Justin zu mögen und nie aufhörte, auf bessere Verhältnisse für ihn zu hoffen, wuchs nach und nach seine Überzeugung, daß Justin seine Frau nie verlassen würde, daß er unbeweglich war und tief verwurzelt, daß er lebenslänglich in einer qualvollen Ehe festsaß.

Daraufhin steckte Ernest Justin einfachere Ziele: das Beste aus einer schlechten Ehe zu machen, bei der Arbeit autonom zu werden, bessere soziale Fähigkeiten zu entwickeln. Das konnte Ernest genausogut wie jeder andere Therapeut. Aber es war langweilig. Die Therapie wurde immer vorhersehbarer; niemals geschah etwas Unerwartetes. Ernest mußte sich gewaltsam wach halten. Er sprach auch nicht länger mit seinem Supervisor über Justin. Er malte sich aus, wie er bei Justin die Frage anschnitt, ob er mit einem anderen Therapeuten nicht glücklicher wäre.

Und heute kam Justin ganz lässig in seine Sprechstunde geschlendert und verkündete, daß er seine Frau verlassen habe!

Ernest putzte seine Brillengläser mit einem Kleenex, das er zuvor aus der Schachtel gerissen hatte.

»Erzählen Sie mir davon, Justin.« Schlechte Technik! Er wußte es sofort. Er setzte seine Brille wieder auf und notierte sich auf seinem Block: »Fehler – nach Information gefragt – Gegenübertragung?«

Später, bei der Supervision, würde er diese Notizen mit Marshal durchgehen. Aber er wußte selbst, daß es idiotisch von ihm war, nach Informationen zu fischen. Warum sollte er Justin zum Weitersprechen überreden müssen? Er hätte seiner Neugier nicht nachgeben dürfen. Undiszipliniert – genauso hatte Marshal ihn vor einigen Wochen genannt. »Lernen Sie abzuwarten«, würde Marshal sagen. »Es müßte für Justin wichtiger sein, Ihnen davon zu erzählen, als für Sie, davon zu hören. Und wenn er sich dafür entscheidet, es Ihnen nicht zu sagen, dann sollten Sie sich auf die Frage konzentrieren, warum er zu Ihnen kommt, Sie bezahlt und Ihnen dennoch Informationen vorenthält.«

Ernest wußte, daß Marshal recht hatte. Trotzdem scherte er sich nicht um technische Korrektheit – das war keine gewöhnliche Sitzung. Justin war aus seinem Schlaf erwacht und hatte seine Frau verlassen! Ernest betrachtete seinen Patienten; bildete er es sich nur ein, oder wirkte Justin heute kraftvoller? Kein unterwürfig gesenkter Kopf, keine herabhängenden Schultern, kein Gezappel auf dem Sessel, um seine Unterwäsche zurechtzuzupfen, kein Zögern, keine Entschuldigung, weil er seine Zeitung neben dem Sessel auf den Boden geworfen hatte.

»Nun, ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr erzählen – es war alles so einfach. Als flöge ich mit Autopilot. Ich habe es einfach getan. Ich bin einfach gegangen!« Justin schwieg.

Wieder konnte Ernest es nicht erwarten. »Erzählen Sie mir mehr, Justin.«

»Es hat mit Laura zu tun, meiner jungen Freundin.«

Justin sprach selten von Laura, aber wenn er es tat, war sie immer einfach »meine junge Freundin«. Ernest fand das irritierend. Aber er ließ sich nichts anmerken und schwieg weiter.

»Sie wissen, daß ich mich häufig mit ihr treffe – vielleicht habe ich das Ihnen gegenüber ein wenig heruntergespielt. Keine Ahnung, warum ich das vor Ihnen verborgen habe. Aber ich habe sie fast täglich getroffen, zum Mittagessen oder für einen Spaziergang, oder wir sind in ihre Wohnung gegangen, um dort mal kurz in die Federn zu springen. Ich habe einfach immer mehr das Gefühl gehabt, daß ich zu ihr gehöre, bei ihr zu Hause bin. Und gestern sagte Laura dann ganz sachlich: ›Es wird Zeit, daß du bei mir einziehst, Justin. ‹ Und wissen Sie was«, fuhr Justin fort, während er die Schnurrbarthaare zur Seite strich, die in seinen Nasenlöchern kitzelten, »ich dachte, sie hat recht, es ist Zeit.«

Laura sagt ihm, er soll seine Frau verlassen, und er verläßt seine Frau. Einen Augenblick lang dachte Ernest an einen Essay, den er einmal über das Paarungsverhalten des Korallenriffisches gelesen hatte. Anscheinend können die Meeresbiologen die dominanten weiblichen und männlichen Fische mühelos identifizieren: Sie behalten einfach das Weibchen im Auge und beobachten, wie es die Schwimmuster der meisten männlichen Fische durcheinanderbringt, mit Ausnahme derjenigen der dominanten Männchen. Die Macht des schönen Weibchens, sei es Fisch oder Mensch! Ehrfurchtgebietend! Laura, die kaum die High-School hinter sich hatte, hatte Justin einfach gesagt, es sei Zeit, seine Frau zu verlassen, und er hatte gehorcht. Wohingegen er, Ernest Lash, ein begabter, ein hochbegabter Therapeut, fünf Jahre auf den Versuch verschwendet hatte, Justin aus seiner Ehe herauszuhebeln.

»Und dann«, fuhr Justin fort, »hat Carol es mir gestern abend zu Hause leichtgemacht, indem sie sich so abscheulich benommen hat, wie sie es immer tut, und an mir rumgenörgelt hat, weil ich nie da wäre. ›Selbst wenn du da bist, bist du abwesend‹, hat sie gesagt. ›Zieh deinen Stuhl näher an den Tisch! Warum bist du immer so weit weg? Sprich mit uns! Sieh uns an! Wann hast du das letzte Mal unaufgefordert das Wort an mich oder die Kinder gerichtet? Wo bist du? Dein Körper ist hier – aber wo bist du! Ich weiß nicht einmal, warum du dir die Mühe machst, deinen Körper nach Hause zu bringen.‹

Und dann, Ernest, war es mir...

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