1.1EINE VOLKSKRANKHEIT IN ZAHLEN
„Autsch!“, zischt Martha und lässt beinahe die Kiste Wasser fallen.
Der unangenehme Schmerz ist ihr in den Rücken geschossen. Genau genommen in den unteren Bereich ihres Rückens. Ist das etwa ein Bandscheibenvorfall? Sie ist doch noch keine 40! Oder sind es vielleicht doch nur die Muskeln?
Martha hat in der Zeitung gelesen, dass Rückenschmerzen die Volkskrankheit Nummer eins seien. Sie beschließt, beim Arzt anzurufen!
Rückenschmerzen sind eine der großen Herausforderungen unserer Zeit: Sie gehören für viele Menschen zum Alltag dazu und sind eine der häufigsten Ursachen für den Arztbesuch. Eine Herausforderung sind sie deshalb auch für die Gesellschaft und das Gesundheitssystem.
Für das Gesundheitssystem, weil Rückenschmerzpatienten, insbesondere solche mit sogenannten unspezifischen, chronischen Schmerzen, den Staat jedes Jahr eine ordentliche Stange Geld kosten. Für die Gesellschaft, weil chronische Schmerzen sich psychologisch auf jeden Einzelnen und ökonomisch auf die gesamte Bevölkerung, die Wirtschaft und das Gesundheitssystem auswirken. Betrachtet man die Zahlen der vergangenen Jahre genauer, ist davon auszugehen, dass die finanzielle Belastung in den nächsten Jahren weiter steigen wird.
Fakten
Der wirtschaftliche Schaden aufgrund von Rückenschmerzen beträgt in Deutschland rund 49 Milliarden Euro pro Jahr.
Fast jeder Mensch leidet im Laufe seines Lebens irgendwann einmal unter Rückenschmerzen. Damit kommen Rückenschmerzen weitaus häufiger vor als jede andere Erkrankung. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Wenn wir von „Rücken“ sprechen, meinen wir die Wirbelsäule – unser sprichwörtliches Rückgrat: Die Wirbelsäule ist zunächst einmal verantwortlich für unseren aufrechten Gang. Gleichzeitig ist sie durch eine hohe Beanspruchung und falsche Bewegungsmuster anfällig für Haltungsschäden.
Schon seit vielen Jahren gelten Rückenschmerzen, gleichgültig, in welcher Form sie auftreten, deshalb als Volkskrankheit Nummer eins. Aufgrund von Rückenschmerzen gehen die Menschen in Deutschland häufiger zum Arzt als wegen einer Grippe oder etwa Bluthochdruck, die ebenfalls weit oben in der Liste weitverbreiteter Erkrankungen rangieren.
DRF-Interview
Betrachtet man die Zahl der Arztbesuche insgesamt, belegen Rückenschmerzen als Ursache für das Aufsuchen des Arztes in Deutschland Platz zwei. Bei Männern sind sie die häufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit, bei Frauen die zweithäufigste. Eine dauerhafte Heilung der Rückenbeschwerden scheint in vielen Fällen ausgeschlossen: Rund 80-90 % der Rückenschmerzen sind unspezifisch, d. h., die Ärzte können trotz aufwendiger Untersuchungen keine definitive Ursache für das Auftreten der Schmerzen erkennen. Folglich können die Schmerzen nicht gezielt behandelt werden und treten in unregelmäßigen Intervallen wieder auf. Wird vom Betroffenen der Rückenschmerz nicht als Warnsignal verstanden und bleibt die Behandlung inkonsequent, so können diese Schmerzen schließlich chronifizieren.
Die große Masse unspezifischer Rückenbeschwerden, die wiederkehrend sind oder chronifizieren, erschwert den Medizinern den Umgang mit dieser Volkskrankheit. Sie kann viele verschiedene, nicht immer voneinander zu unterscheidende Ausprägungen annehmen. Mit nur 7 % aller Patienten, die aber etwa 80 % der Kosten verursachen, bilden die chronischen Rückenbeschwerden die größte Gruppe der sogenannten Muskel-Skelett-Erkrankungen.
Fakten
RÜCKENSCHMERZEN IN ZAHLEN
Rund 69 % der Deutschen leiden unter Rückenschmerzen, davon 12 % sogar täglich. Wer einmal Rückenschmerzen gehabt hat, wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit wieder bekommen − im schlimmsten Fall werden die Schmerzen chronisch, sodass sie trotz ausreichender Bewegung nur noch mit Medikamenten behandelt werden können. Chronische sowie rezidivierende, also wiederkehrende, Rückenschmerzen treten bei 34 % der Bevölkerung auf. Pro Jahr suchen deshalb rund 20 Millionen Deutsche wegen Rückenbeschwerden einen Arzt auf. Die verschriebenen Therapiemaßnahmen schlagen bei den meisten Patienten zwar zunächst an, bei 81 % kehren die Symptome jedoch nach einiger Zeit wieder zurück. Häufig entsprechen die von chronischen Rückenschmerzen Betroffenen einem gemeinsamen Krankheitsbild: Sie sind überwiegend weiblich, über 50 und meist übergewichtig.
Rückenschmerzen können viele Ursachen haben, die nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen sind. Eine Fehlhaltung aufgrund ungesunder Körperhaltung, Bewegungsmangel aufgrund einer sitzenden Tätigkeit oder Muskelverspannungen aufgrund von Stress können Auslöser regelmäßig auftretender Rückenschmerzen sein.
Grundsätzlich teilt man Rückenschmerzen in spezifische und unspezifische Schmerzen ein. Die Mehrzahl der Betroffenen (80-90 %) leidet an unspezifischen Schmerzen, die zunächst noch keine Erkrankung im eigentlichen Sinne sind, sondern als Symptom einer solchen betrachtet werden.
Fakten
80-90 % aller Rückenschmerzen sind unspezifisch. Eine spezifische Ursache haben nur 10-20 % der Beschwerden.
Häufig sind die genauen Ursachen für unspezifische Rückenschmerzen nicht erkennbar und können auch nach aufwendigen diagnostischen Untersuchungen nicht festgestellt werden. Ein solcher Auslöser können z. B. Muskelverspannungen sein, die zu einer Fehlhaltung des Rückens führen, und dadurch Schmerzen auslösen. Ähnliche Ursachen sind Bewegungsmangel und die zunehmende Übergewichtigkeit der Gesellschaft – sitzende Tätigkeiten und eine ungesunde Ernährung fördern einen kranken Rücken zusätzlich.
Spezifische Rückenschmerzen dagegen treten seltener auf, sind aber aufgrund der diagnostischen Möglichkeiten (siehe Kap. 2.10) leichter zu identifizieren. Spezifische Rückenschmerzen beruhen auf einer feststellbaren Erkrankung oder Verformung der Wirbelsäule – es gibt also ein eindeutiges anatomisches Korrelat. Darunter fallen u. a. entzündliche Muskel- oder Bindegewebserkrankungen, aber auch eingeklemmte Muskeln oder Nervenstränge. Erkrankungen, die zu diesen spezifischen Rückenbeschwerden führen, sind u. a.
Arthrose der Wirbelsäule (siehe Kap. 2.13),
Bandscheibenvorfall (siehe Kap. 2.14),
Spinalkanalstenose (siehe Kap. 2.15),
Spondylodiszitis (siehe Kap. 2.20),
Skoliose (siehe Kap. 2.21),
Morbus Scheuermann (siehe Kap. 2.22),
Morbus Bechterew (siehe Kap. 2.23).
Mit zunehmendem Alter steigt die Anfälligkeit des Körpers für Rückenbeschwerden dem DAK-Gesundheitsreport 2016 zufolge um 325 %. So liegt der Anteil von Muskel-Skelett-Erkrankungen im Alter von 15-19 Jahren bei 8,2 %, bei den über 60-Jährigen dagegen bereits bei 26,7 %.
Aktuellen Statistiken zufolge sind Erkrankungen des Muskel-Skelett-Apparats mit 21,7 % die häufigste Ursache für Krankheitstage. Rückenschmerzen sind innerhalb dieser Erkrankungen die größte Gruppe. Mit 91,3 Arbeitsunfähigkeitstagen pro 100 Krankenversicherte liegen Männer mit der Diagnose Rückenschmerzen weit vor den Frauen, die es auf 75,2 Arbeitsunfähigkeitstage bringen.
Viele Betriebe und Unternehmen haben erkannt, dass eine sitzende Tätigkeit Rückenschmerzen fördert und so zu krankheitsbedingten Ausfällen führt. Ca. 81 % der Männer und 78 % der Frauen geben an, dass sie vom Betrieb bereitgestellte Gesundheitsmaßnahmen wahrnehmen und daraus einen Nutzen für ihre Gesundheit ziehen. Unter betriebliche Gesundheitsmaßnahmen fallen z. B. Massagen, Physiotherapie oder Betriebssport, die zum Teil auf die Arbeitszeit angerechnet werden können.
Im Zentrum von Mühsal liegen die Möglichkeiten.
Frage 1: | Sind Rückenschmerzen immer Folgen zerschlissener Bandscheiben? |
Dr. Weigl: | Der Glaube hält sich hartnäckig, doch 80 % aller Rückenschmerzen haben keine spezifischen Ursachen, wie zum Beispiel einen Bandscheibenvorfall. Grund für die Beschwerden ist häufig eine Verspannung von Muskeln, Sehnen und Bändern. |