„In ganz Europa gehen die Lichter aus“, so kommentierte der britische Außenminister Edward Grey den Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914. Im Kladderadatsch, einem humoristisch-satirischen Wochenblatt Berlins, „dreht der Russe plötzlich das Licht aus“ (Bild 4):
Abbildung 1[3]: „Der Stänker“
Die Lichter der Politik und Diplomatie erloschen und überließen das Gesetz des Handelns den Waffen. „Diese Politiker waren allesamt >zu schwach, zu wenig fähig, über die Pflöcke der eigenen nationalen Grenzen zu blicken<. So ließen sie >den Dingen ihren Lauf, übergaben den Militärs das Geschäft<“.[4] Nur aus dieser Sicht, so zitierte Berghahn Binder, könne man Lloyd Georges[5] Wort zustimmen: „Wir sind alle in den Krieg hineingeschlittert.“ Die Frage der erstarrten Politik, die sich dem militärischen Dogma unterordnete, wird an späterer Stelle zu klären sein.
Dieser erste große Weltkrieg des 20. Jahrhunderts - das neue an ihm war, dass „hier nicht allein europäische Mächte aufeinanderstießen, sondern diese Mächte zu-gleich Weltmächte waren“[6] - unterschied sich deutlich von den bisher gekannten Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts. „Doch der >erste< war er sicherlich nicht. Europäische Mächte hatten während der 300 Jahre zuvor überall auf dem Erdball gegeneinander gekämpft. Jene, die in diesem Krieg kämpften, haben ihn einfach den >Großen Krieg< genannt, außer in Deutschland, wo man ihn als >den Weltkrieg< bezeichnete.“[7] Entscheidend wurde insbesondere, „daß man glaubte, die in Übersee gewonnenen Kolonialreiche auf europäischem Boden verteidigen zu müssen.“[8]
Der Erste Weltkrieg war somit ein Krieg neuen Ausmaßes, letztlich der Kampf um Weltmachtanspruch als „Ausdruck eines Prestigestrebens, das dem Reich einen >Platz an der Sonne<[[9]] verschaffen wollte.“[10] Die Kontroverse um die Sicherung des Großmachtstatus´ und das Anstreben der Weltherrschaft wird ebenfalls einer Untersuchung unterzogen werden, da hier die erheblichen Ursachen des Krieges lagen.
Durch die Politik Einiger, welche die Geschicke derselben lenkten, wurden Menschen in der Kriegsmaschinerie eingesetzt, um sich, durch Vorurteile und gesteigerte Feindbilder verstärkt, gegenseitig zu bekämpfen, zu verstümmeln und, man kann es so sagen, mit Einsatz von Giftgas regelrecht aus dem Weg zu räumen.
Wie konnte es möglich werden, dass tausende Lebensläufe dem Primat der Politik so untergeordnet wurden? Den Mächtigen damals mag diese Frage nicht in den Sinn gekommen sein, denn Krieg war „zeitgemäß“; wie Clausewitz es einst formulierte, die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Krieg schien legitim, wenn es um die Verteidigung nationaler Ansprüche ging.
Auch dieser Frage der Massenmobilisierung werde ich in meiner Arbeit versuchen, nachzugehen, da ich es schon immer für ein Phänomen hielt, wie es möglich wurde, dass nur wenige Staatsoberhäupter eine gewaltige Menschenmenge in einen solch verheerenden Krieg stürzen konnten. Der Erste Weltkrieg ist ein „Paradebeispiel“ für das, was im Zweiten Weltkrieg noch eine erschreckende Steigerung erfahren sollte.
In den Mittelpunkt meiner Arbeit stelle ich jedoch die Forschungen des 1908 geborenen Hamburger Historikers Fritz Fischer, der 1961 mit seinem Buch „Griff nach der Weltmacht“[11] eine Debatte lostrat, die großes Geschichtsinteresse in der Öffentlichkeit weckte, sodass ein breites Publikum - neben der Historikerzunft - an der Frage der Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges lebhaft teilnahm. Fischers Thesen mussten provozieren, da er beharrlich davon ausging, „dass Deutschland die Hauptschuld an der Katastrophe treffe und Berlin spätestens seit Dezember 1912 gezielt auf die Provokation eines Krieges im Sommer 1914 hingearbeitet habe, um die Hegemonie über Europa zu erkämpfen.“[12]
Fischers Position, die mit dem Nationaltabu der Deutschen brach, dass man sich selbst nur eine relative Schuld am Kriegsausbruch 1914 zugestand, radikalisierte sich im Zuge des Historikerstreits. Seine Bücher „Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914“ (1969) und „Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871 – 1945“ (1979) werden deshalb ebenfalls Erwähnung finden müssen, um zu zeigen, dass Fischer seine These, dass Deutschland ein hohes Maß an Schuld am Kriegsausbruch trug, weiter zu untermauern gedachte und sogar eine Linie vom Kaiserreich bis ins nationalsozialistische Deutschland zu ziehen glaubte, da er Konstanten in den Eliten nachgewiesen sah. Die Fülle der Literatur zum Thema Kriegsschuld Erster Weltkrieg ist immens. Eine Arbeit in diesem Rahmen kann nur den Versuch unternehmen, eine breite Auswahl zu treffen. Alle Artikel zur Kontroverse um Fritz Fischer zu sichten, ist ein Unmögliches.[13] Fischers Schriften wurden durch die Beiträge prominenter Unterstützer wie Röhl und Geiss ergänzt. Anfänglich Ritter, später Erdmann, Zechlin und Hillgruber, die sich in die Kontroverse konstruktiv einmischten, haben Gegenmeinungen zu Fischer vertreten, die es wert sind, beachtet zu werden, weshalb sie auch hier zur Sprache kommen. Die ganze Debatte belebte das Denken über die Methoden der Geschichtsschreibung.[14] Für den Geschichtsunterricht ist ein Historikerstreit wie dieser ein nicht wegzudenkender Glücksfall. Hier liegt Zündstoff im Thema, das kontrovers dargestellt werden kann, um den Blick dafür zu schärfen, dass Menschen immer im Mittelpunkt des Geschehens standen und stehen, die verschiedene Absichten hegen und, durch ihre Sozialisation bedingt, nicht vorherbestimmt reagieren, sondern letztlich perspektivisch agieren. Selbst der Historiker ist standortgebunden und prägt damit seine Sichtweise subjektiv dem Forschungsgegenstand auf. Hier liegt der Vorteil gegenüber den Naturwissenschaften: „So prägen Dissens und Widerspruch den wissenschaftlichen Diskurs zuweilen wesentlich stärker als Konsens und Zustimmung.“[15] Fischers Archiv-Forschungen seit Anfang der 1950er Jahre kulminierten in seinem Buch und dieses stieß an die Grenzen des bisher geltenden gesellschaftlichen Konsens´ und führte zu einem heftigen und emotionsgeladenen Meinungsstreit zwischen den Generationen, der sich in seiner Endphase jedoch mehr und mehr versachlichte. Diesen Diskurs so im Unterricht zu etablieren, dass sich Schüler über den umstrittenen Forschungsgegenstand und die Ansichten der Beteiligten eine Meinung bilden, sollte Ziel des Lehrers sein, der damit vom Frontalunterricht abrückt und eine Öffnung einleitet, die Schüler zum kritischen Umgang mit Geschichte einlädt, letztlich zum Mitdenken.
Im Gliederungspunkt 8 werde ich auf diese für den Geschichtsunterricht notwendigen Rahmenbedingungen näher eingehen.
In dieser Arbeit möchte ich ferner ein bloßes chronologisches Aufzählen der „reinen Ereignisse“ vermeiden, stattdessen die zentrale Frage der Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges stets herausstellen, indem ich aus einer Fülle an Literatur Meinungen heranziehe, was natürlich selektiv erfolgt, und damit versuche, dem Anspruch einer multiperspektivischen Darstellung gerecht zu werden, die den Gegenstand der Forschung selbst prägte und für den Geschichtsunterricht Leitbild sein sollte.
Im Punkt 3 werde ich auf die notwendigen politischen und gesellschaftlichen Hintergründe des im Mittelpunkt stehenden Zeitalters näher eingehen, wobei Nationalismus, Imperialismus sowie die Herausbildung der dann vor dem Weltkrieg verfestigten Blöcke aber nicht allein die in den Weltkrieg mündende Sackgasse der von den Militärs entmündigten Politik erklären. Punkt 4 ist insofern interessant, als dass er die ideologischen Grundlagen der Jahrhundertwende auf den Punkt zu bringen versucht und damit die Geisteshaltung, selbstverständlich für sein Land in den Krieg zu ziehen und darüber hinaus auch das Risiko einzugehen, dabei zu sterben.
Die Gliederungspunkte 3 und 4 sind nicht wegzudenken, wenn man verstehen will, warum der Erste Weltkrieg ausbrach.
Mit Gliederungspunkt 5 werden dann die unterschiedlichen Standpunkte zu den Ursachen des Kriegsausbruches dargestellt. Erweitert wird dies durch die Kriegsschulddiskussion nach dem Versailler Vertrag bis zu jenem Buch Fischers, das „wie ein Sprengsatz“ in die junge Bundesrepublik platzte.
Die Methodik und der Forschungsgegenstand selbst müssen im Unterricht, wie auch in dieser Arbeit, Hand in Hand gehen, um ein Thema nicht nur „abzuarbeiten“ oder „zu behandeln“, sondern daraus Kompetenzen zu erlernen, vor allem die Kompetenz, die Meinung der anderen zu ein- und demselben Sachverhalt zu respektieren. Deshalb möchte ich auf der einen Seite die Argumente zusammentragen, die klären sollen, welche Faktoren den Ausschlag zum Weltkrieg gaben und auf der anderen Seite diese den Positionen anderer am Forschungsstreit beteiligter Personen und deren Argumentation gegenüberstellen. Diese Multiperspektivität der Kontroverse um die Schuld am...