ABWEICHLER, POLITISCH MISSLIEBIGE, WIDERSPENSTIGE, GEISTIGE AUFRÜHRER, NEUERER UND IHRE ERFAHRUNGEN MIT DER PSYCHIATRIE – EINIGE BEISPIELE AUS BILDENDER KUNST, MUSIK, LITERATUR UND PHILOSOPHIE: Friedrich Hölderlin, Robert Walser und Camille Claudel
In den Sechziger-, Siebziger- und Achtziger-Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelte und etablierte sich in weiten Teilen Europas und der USA die sogenannte Antipsychiatrie, eine politische und soziale Bewegung, welche die Existenzberechtigung der Psychiatrie in Frage und die soziale Bedingtheit psychischer „Erkrankungen“ in den Fokus ihres Intereses stellte. Dem interessierten Laien sind einschlägige Filme wie „Einer flog über das Kuckucksnest“ (USA, 1975) bekannt.
Im Rahmen dieser kritischen Auseinandersetzung mit der Institution Psychiatrie veröffentlichte Bertaux 1978 seine Hölderlin-Biographie, in welcher er die These vertrat, Hölderlin sei durch die ihm drohende politische Verfolgung nachgerade gezwungen gewesen, seine Ver-Rücktheit zu spielen [1].
Die These, dass Hölderlin sich seines tatsächlichen seelischen Zustands durchaus bewusst, also keinesfalls geisteskrank war (müsste wohl eher seelenkrank heißen – jedenfalls eine gleichermaßen interessante wie bezeichnende Begriffskonfusion), diese These lässt sich jedenfalls mit einem bekannten Gedicht von 1811 trefflich untermauern:
„Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen,
Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen,
April und Mai und Julius sind ferne
Ich bin nichts mehr; ich lebe nicht mehr gerne“ [2].
Jedenfalls wurde Hölderlin 1805 im Auftrag des Kurfürsten von Württemberg verhaftet und des Hochverrats angeklagt. Zwar stellte man die Ermittlungen gegen ihn bald ein, erklärte ihn jedoch für wahnsinnig und verbrachte ihn unter Anwendung von Zwang ins Tübinger Universitätsklinikum. Wegen einer „Manie als Nachkrankheit der Krätze“.
(Zwar müssen solch abenteuerliche Diagnosen im medizinhistorischen Kontext gesehen werden; sie sind indes – bezeichnender für die, welche sie stellen, als für die, denen sie angedichtet werden – durchaus heute noch, zudem kaum seltener und nicht weniger bizarr als vor zweihundert Jahren anzutreffen.)
Die Behandlung Hölderlins – u. a. durch den Psychiater (die passendere Bezeichnung wäre wohl Folterknecht) Autenrieth, der traurige Berühmtheit durch seine gleichnamige Maske zur Knebelung unruhiger Patienten erlangte – muss jedenfalls in höchstem Maße traumatisch und dem seelischen Zustand Hölderlins nicht gerade zuträglich gewesen sein [3]. Er wurde dann unter Vormundschaft gestellt und bis zu seinem Lebensende in den berühmten Tübinger Turm gesperrt.
Hölderlin ist nur eines von unzähligen Beispielen, wie durch Gesellschaften und Jahrhunderte hindurch mit Abweichlern, politisch Missliebigen, Widerspenstigen, geistigen Aufrührern und Neuerern jedweder Couleur verfahren wird.
Ein „Hölderlin-Schicksal“ widerfuhr beispielsweise auch Robert Walser, „ ... wobei offen bleibt, wie man sich ... [die] Zeit seines Verstummtseins ... vorstellt – als eine Periode ´geistiger Umnachtung´ ... oder als Ausdruck eines radikalen und vollständigen Rückzugs in sich selbst ... [, der] auf fatale Weise erzwungen [wurde] ... Diagnose und Krankheitsbegriff sind in der Psychiatrie nicht ... dazu da, Einsichten in die spezifische seelische Not von Menschen zu gewinnen, sondern [dienen]... zur Legitimierung praktischer Eingriffe in ... [ihr] Leben ...
Im Krankheitsbegriff sind all die sozialen, therapeutischen ... und juristischen Maßnahmen verankert, zu denen die Institution Psychiatrie befugt ist. Und bei der Verteidigung dieses Paradigmas geht es nicht zuletzt auch darum, wer in Gesellschaft und Wissenschaft die Meinungsführerschaft und das Zuständigkeitsmonopol ... beanspruchen darf ...
Damit wird ... auch die Frage ausgeblendet, ob der Betroffene nicht vielleicht ... ´krank´-machenden Zusammenhängen unterlegen ist, ob ihm – mit anderen Worten – nicht tiefes Unrecht geschah ...
An seinem Bruder Ernst scheint Walser sie genau beobachtet zu haben, jene fatale Spirale der Missachtung und Erniedrigung, des Gefühls, permanent Unrecht zu erleiden, jenes Gift der sich immer tiefer einfressenden Verletzung, jenen heimtückischen Mechanismus von Ausgrenzung, Isolation und Selbstisolation, der zuletzt in ein angeblich nicht mehr nachvollziehbares Anderssein mündet: in die Verrücktheit“ [4].
(Siehe hierzu auch Anmerkung [5] sowie Anmerkungen [8] und [8a] zum in Bezug genommenen Roman „Geschwister Tanner“.)
Über Hölderlin schreibt Walser (und offenbart dabei auch sich selbst) [9]: „Hölderlin hatte angefangen, Gedichte zu schreiben, doch die leidige Armut zwang ihn, als Erzieher ... nach Frankfurt ... zu gehen, damit er sein Brot verdiene ... In ein hübsches, elegantes Gefängnis begab er sich ... und übernahm die ... Verpflichtung, sich honett, gescheit und manierlich aufzuführen. Er empfand ein Grauen ... Da, da zerbrach, zerriss er, und er war von da an ein armer, beklagenswerter Kranker.“
Und er, Walser, fragt in diesem Zusammenhang, fragt Christian Morgenstern: „Was kann man sein, wenn man nicht gesund ist?“ [6]
Tertium non datur! Oder doch: Tertium datum est?
Foucault führt diesbezüglich aus, dass aus dem Wahnsinn erst dann eine Krankheit wurde, als „die Vernunft für den Menschen aufgehört hat, eine Ethik zu sein, um statt dessen eine Natur zu werden“ [7].
Als Walser – durch seine Lebensumstände und sein exzessives Schreiben (letzteres als Versuch der Bewältigung ersterer) – völlig ausgebrannt war, unternahm er ein paar stümperhafte Versuche, sich das Leben zu nehmen. „Ich konnte aber nicht einmal eine rechte Schlinge machen. Schliesslich war es soweit, dass mich meine Schwester Lisa in die Anstalt Waldau brachte. Noch vor dem Eingangstor habe ich sie gefragt: ´Tun wir auch das Richtige?´ Ihr Schweigen sagte mir genug. Was blieb mir übrig als einzutreten?“ [10]
Heute würde man von einem Burn-out sprechen – Walser war erschöpft und depressiv, jedoch nicht suizidgefährdet [11].
Aber er war allein-stehend. Und weil seine Schwester Lisa nicht imstande, genauer: willens war, ihn aufzunehmen, landete er in der Anstalt Waldau. Auch deshalb, weil sie, Lisa, und ihr gemeinsamer Bruder Oskar eine Erbschaft nicht mit ihm, Robert, teilen wollten. So dass die Erbschafts-Frage per (zunächst freiwilliger, dann zwangsweiser) Psychiatrisierung Walsers geklärt wurde.
„Es bleibt jedenfalls ein schwerwiegendes Problem, dass der Fokus der psychiatrischen Diagnostik ganz auf den Einzelnen und die Phänomenologie seiner ´Störungen´ ausgerichtet ist und kein methodisches Sensorium für die Frage hat, ob hier nicht einer schlichtweg kapituliert – vor einer Übermacht von widrigen Umständen oder dem Labyrinth menschlicher Verstrickungen.
Mir scheint, dass Walser so einer war, der kapitulierte“ [4].
Und auch Camille Claudel kapitulierte. Nach einem Leben zwischen Leidenschaft, Wahn und Wahn-Sinn.
Camille Claudel, die geniale Bildhauerin, Camille Claudel, die unglückliche Geliebte Rodins (und wohl auch Claude Debussys) [16], Camille Claudel, die gesellschaftlich Geächtete, Camille Claudel, die von eben dieser Gesellschaft und ihren Normen zunächst ins Elend, dann in den Wahn-Sinn Getriebene.
Und dieses Wahnes Sinn (nämlich den – irgendwie, gleichwie, egal, wie – zu überleben), diesen ebenso kryptischen wie arche-typischen Sinn des Wahns nannte man (und nennt man noch immer) Schizophrenie.
Claudel starb 1943 im Alter von fast achtzig Jahren – nach 30-jährigem Aufenthalt in einer „Heil“-Anstalt [12, 13, 14].
1913 ließen sie ihre Mutter und ihr Bruder Paul (Schriftsteller und Diplomat – [15]) in eine psychiatrische Anstalt einweisen. Gegen ihren Willen. Nachdem man ihre Wohnung aufgebrochen und sie mit Gewalt aus dieser entfernt hatte.
„Am 5. März des Jahres 1913 trifft sich Paul Claudel mit Dr. Mischaux, dessen Praxis sich am Quai Bourbon Nr. 19 befindet. Dieser stellt ihm ein ärztliches Attest aus, das entsprechend dem Gesetz von 1838 zur Einweisung in eine Anstalt befugt. Am Montag, dem 10. März 1913, wird Camille interniert. 2 kräftige Krankenwärter dringen gewaltsam in das Atelier Quai Bourbon ein und bemächtigen sich ihrer Person. Auch heutzutage gestalten sich Einweisungen meist spektakulär. Die gewaltsame Einlieferung von Camille Claudel in die Klinik geriet auch 1913 schon in die Kritik. Im Nachhinein muss jedoch gesagt werden, dass zum damaligen Zeitpunkt eigentlich keine andere Möglichkeit bestand, als Camille Claudel in die Klinik einzuliefern, auch wenn die Vorgehensweise damals – wie es auch heute sein würde – brutal erscheint.
Camille Claudel war 48...