Ignatius
Ignatius Kniling, der vom Waldrand bei Meiningen nach Jena kam, brachte eine nicht alltägliche vita activia zum Studium mit. Von der er während des Studiums Gebrauch machte.
Ignatius war eines jener Kriegskinder des Zweiten Weltkrieges, die ein Wehrmachtssoldat »unterwegs«, unehelich, gezeugt hatte. Nach 1945 konnte der Vater zweifelsfrei ermittelt werden, doch lehnte er die Vaterschaft ab. Das konnte er umso problemloser, nachdem er LPG-Vorsitzender geworden war. Während Mutter Irene, eine Schneiderin, ihre Schwangerschaft schamhaft zu verbergen gesucht und in der Ferne bei einer Freundin hatte niederkommen wollen.
Ignatius wurde im oberösterreichischen Linz geboren. In Linz wurde Ignatius auch getauft. Jedoch nicht in einer Pfarrei, sondern in der Diözese Linz. Dazu war es gekommen, nachdem Kaiser Joseph II. die Diözese Passau 1784 zum Verzicht auf ihre Pfarren gezwungen und die Diözese Linz gegründet hatte. Papst Pius VI. stimmte dem unterwürfig zu. Die von Bischöfen im 11. Jahrhundert eingeteilten oberösterreichischen Pfarrsprengel wurden damit beseitigt. Weihbischof war zu »Ignatius’ Zeit« Josephus Calasanz Fließer.
Einer Üblichkeit der Religion und der Zeit folgend, könnte Ignatius Kniling mit dem Chrisam gesalbt worden sein. Einem Olivenöl werden nach päpstlichem Rezept noch ein paar wohlriechende Balsame und Düfte beigemischt – und fertig ist der Chrisam. Damit es original römisch-katholisch werde, damit der Gesalbte künftig das Evangelium noch besser verbreiten könne. Inwieweit das Ignatius gelungen ist, muss der weiteren Kniling-Forschung übereignet werden. Andererseits ist überliefert, dass der Chrisam immer nur an einem osternahen Tag, etwa am Gründonnerstag, vom Bischof aus dem goldenen Kanister der Heiligen Öle im Keller des Maria-Empfängnis-Doms von Linz geholt wurde. Wer weiß. Wer hat Ignatius Kniling 1942 getauft?
1943/1944 verbrachte Ignatius ein reichliches Jahr in einem Kinderheim des Klosters der Augustinerinnen in Würzburg. Wir entdecken eine bedeutende karitative Leistung der katholischen Kirche: die Krankenpflege. Das Kloster, in dem außerdem noch ein kleines Krankenhaus betrieben wurde, gehörte der 1848 von Johanna Etienne in Neuss am Rhein gegründeten Augustiner Schwesterngemeinschaft an. Die Schwesterngemeinschaft der »Neusser Augustinerinnen« wurde eine neue Kongregation bischöflichen Rechts. Sehe ich die Aufopferung, mit der Schwester Johanna Etienne diese besondere karitative Leistung vollbracht hat, dann fällt mir nur noch ein, dass auch Johanna von Orléans, das besondere Mädchen, die Heilige, mitgemacht hätte! Johanna Etienne war eine Cellitinnin, sie kam vom »Damenflügel«, den sich die Brüderschaft der Alexianer leistete. Es ist nicht hinreichend geklärt, inwieweit sich alexianische Brüder dem Zölibat entzogen. Wir lassen Cellitinnen und Alexianer im Hochmittelalter zurück; die karitative Leistung der Augustinerinnen ist jedoch nur mit ihnen zu verstehen.
Die Augustinergemeinschaft arbeitete auf der wirtschaftsorganisatorischen Grundlage einer Genossenschaft zusammen. Bis 1933 waren 17 Niederlassungen als Neusser Eigentum entstanden, 42 Niederlassungen, vorwiegend in Klöstern, kamen dazu. So auch in Würzburg. Die Nazis gingen der erfolgreich wirtschaftenden Genossenschaft der Augustinerinnen ans Geld, und sie zerschlugen sie weitgehend. Eine Neugründung der Genossenschaft nach 1945 führte nicht wieder zum einstigen, jahrhundertelangen Erfolg. Im Würzburger Kloster wurde Ignatius in schwieriger Kriegszeit von Schwestern und Nonnen liebevoll behütet und versorgt.
Nach Würzburg wuchs Ignatius bei der Mutter und den Großeltern bei Meiningen im »Häusle« heran. Wie das im Leben oft vorkommt, gehörten für das Enkelchen Oma und Opa zu den Lieblingen. Und von seinen Großeltern wurde der Junge auch gern beim Kosenamen »Ignaz« gerufen. Ignatius – welch großartiger Name! Eine Anregung für Geistliches?
1943 ereignete sich für die Familie Ungeheuerliches. Gleichwohl deutete es auf den kommenden Untergang Hitlerdeutschlands hin. Vom Leiter des Arbeitsamtes Römhild wurde Ignatius’ Mutter zur Arbeit in die Rüstungsindustrie zwangsverpflichtet. Sie sollte in der nahe gelegenen Munitionsfabrik Helba arbeiten. Aber Ignatius’ Mutter hatte das Herz am rechten Fleck und war zudem auch nicht auf den Mund gefallen. Sie entgegnete dem dicken, versoffenen Vollnazi vom Arbeitsamt, der sie auch noch »rumkriegen« wollte, der zu Hause den Nazioberbefehl über seine Ehefrau Nazine, über ein Jungmädel im Dienstgrad der Jungmädelringführerin der Rhön sowie über zwei Pimpfe ausübte, dass sie nur dorthin gehen werde, wenn er auch seine Frau und seine Haushaltshilfe in die Fabrik verpflichte. Frau Nazine hatte ihren kostbaren Vornamen 1933 kostspielig erkauft. Als ihr Antrag auf eine Sondergenehmigung auf dem tausendjährigen Eichenholzschreibtisch des Führers landete, zeigte sich dieser von der namentlichen Wortneuschöpfung derart begeistert, dass er die Reichsbank am Werderschen Markt in Berlin umgehend anwies, der Dame fünfzig Prozent Nazirabatt zu gewähren.
Der Leiter des Arbeitsamtes Römhild zeigte Ignatius’ Mutter an. Machtmissbrauch war bei den Nazis gang und gäbe. Wegen Defätismus und Wehrkraftzersetzung wurde sie zu einer mehrjährigen Gefängnishaft verurteilt. Einige Monate saß sie im Gefängnis Eisenach ein.
Dort wurde sie durch Georg Herzog von Sachsen-Meiningen (1892-1946), Sohn des Prinzen Friedrich von Sachsen-Meiningen, dann aber wieder herausgeholt. Georg war Jurist, dazu Richter in Hildburghausen und als Georg III. zugleich Oberhaupt des Hauses Sachsen-Meiningen. Sein Einsatz war eine bemerkenswerte human-rechtliche Tat. Nach Ansicht des Autors gehörte der Herzog der NSDAP nicht unbedingt aus Überzeugung, sondern eher aus taktischen Gründen an. 1945 wurden er und seine Familie von der SMAD entschädigungslos enteignet. Georg wurde in sowjetische Kriegsgefangenschaft nach Nordwestrussland verschleppt. Nach offiziellen Angaben starb er am 6. Januar 1946 in Tscherepowez eines natürlichen Todes. Wirklich? Wer weiß.
Ignatius Kniling ist nur in seiner katholischen Identität und mit der passenden religiösen Genesis mütterlicher- und großmütterlicherseits zu begreifen. Nach dem Ersten Weltkrieg brach der Großvater aus dem Werratal als Lokomotiv-Schlosser nach Düsseldorf auf. Die 1920 aus den acht Länderbahnen gegründeten staatlichen Deutschen Reichsbahnen brauchten Facharbeiter. Als Evangelischer fuhr er hin, zurück kam er mit seiner katholischen Frau und Tochter, also mit Ignatius’ späterer Großmutter und Mutter. Blickt man auf deren Leben zurück, kann man nur sagen: Es geht doch, Evangelische und Katholische unter einem Dach! Wenn man es nur will.
Da es nach dem Krieg mit mancher Heirat um die Sicherung familiärer Existenzen ging, und weil es weniger Männer als Frauen gab, musste manchmal genommen werden, was sich so ergab. Immerhin heiratete Ignatius’ Mutter mit Hellmut einen aus einer Fabrikantenfamilie.
Ignatius’ Familienvater war der Stiefvater ohne Vaterschaftsrecht. Obwohl vor fast einem halben Jahrhundert evangelisch getauft, herrschte er über die Familie, war gegen Religionen, Kirche und Juden. Nicht für den Holocaust, aber gegen die Juden als Ursprung allen Übels. Er musste in der NSDAP etwas gelernt haben, was er nicht vergessen konnte. Der Stiefvater war von Beruf Buchhalter. In den 50-er Jahren brachte er es zum Hauptbuchhalter des VEAB Meiningen. Der »VEAB« war ein »Volkseigener Erfassungs- und Aufkaufbetrieb«. In Wirklichkeit war er ein staatlicher Betrieb zum Aufkauf privater Erzeugnisse wie Obst, Gemüse, Eier, Geflügel, Kräuter. Einschließlich solcher Kräuter, die in der DDR als Drogen geführt wurden. Der VEAB als Drogenhandel.
Die Konflikte waren programmiert. Ignatius wurde als »Drogenhändler« geschlagen, ja verprügelt. Die Mutter war überfordert. Wie konnte er dem »Vaterhaus« entfliehen? Der Ausweg hieß katholische Jugend. Die katholische Jugendarbeit ist seit ehedem weit verzweigt. Unter dem Dach des 1947 gegründeten Bundes der Katholischen Jugend versammeln sich 17 Jugendverbände und -organisationen. Daneben gab es die »eigentliche« katholische Jugendarbeit in der Pfarrei. Was von den Teilnehmern selbst als »katholische Jugend« Meiningens verstanden wurde, stellte in der Organisationsstruktur die Ortsgruppe der Pfarrei mit einer Pfarrjugendleitung dar. Sie wurden auch »Pfarrjugend« genannt. Mit Zugangs- und Beratungsrecht der Leitung des jeweiligen Verbandes beziehungsweise der Organisation des BDKJ, des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend. Die Ortsgruppe war einem Dekanat zugeordnet, das aus den Pfarrjugendleitungen ebenfalls einen Vertreter für den BDKJ-Vorstand wählte.
Der von der Katholischen Kirche für die Jugendarbeit in den Pfarreien gewählte Oberbegriff hieß Koedukation. Katholische Gemeinschaftserziehung und -bildung, gemischt, bunt, reichhaltig, vielfältig. In diesem Sinne erlebte Ignaz Kniling die katholische Jugend in Meiningen. Und war dabei, ich bemerkte das auch während des Studiums, mit dem Mund manchmal ein wenig vorneweg. Die katholische Jugend war sein erster Ausweg.
Fünfzig bis sechzig, vielleicht auch mehr, waren sie in Meiningen. Im Pfarrhaus und im Gemeindesaal führten sie ihre Veranstaltungen durch. Regelmäßige Tanzabende mit eigener Kapelle, katholisches Laientheater, Glaubensstunden, Buchlesungen und -besprechungen und Wanderungen standen auf dem Programm.
Und wie eine Erleuchtung im Gotteshaus erschien Inka! Sie war der zweite Ausweg aus dem vom Stiefvater verursachten Dilemma in der Familie. Inka – die Leuchtende, die Helfende, die...