Vorwort
Geheilt
Nachts im Urwald auf dem Heimweg – 20 Fledermäuse in Baumwollbeuteln um den Hals gehängt und Myriaden von Insekten im Schein meiner Stirnlampe – fingen meine Fußgelenke plötzlich an zu jucken. Dabei hatte ich die Hosen extra mit Insektenschutzmittel getränkt und in die Blutegel-Socken gesteckt und trug zur Sicherheit ein zweites Paar darunter. Eigentlich hatte ich genug damit zu tun, mich in der tropischen Hitze – nass geschwitzt, in ständiger Angst vor Tigern und geplagt von Moskitos – über die matschigen Trampelpfade zu schleppen und in pechschwarzer Nacht die Fledermäuse aus den Fallen zu sammeln. Aber jetzt war auch noch etwas durch den Schutzschild aus Stoff und Chemie bis zu meiner Haut durchgedrungen. Und es juckte.
Mit 22 lebte ich für drei Monate, die mein Leben verändern sollten, im Herzen des Krau Wildlife Resort auf der Malaiischen Halbinsel. Für Fledermäuse begeisterte ich mich seit meinem Biologiestudium und hatte sofort zugegriffen, als sich die Gelegenheit bot, eine englische Koryphäe für Fledermäuse als Geländeassistentin zu begleiten. Dass ich in einer Hängematte schlafen und mich in einem Fluss voller Warane waschen musste, wurde von den Begegnungen mit Schlankaffen, Gibbons und einer unglaublichen Zahl von Fledermausarten mehr als aufgewogen. Ich musste allerdings feststellen, dass die Herausforderungen des Lebens in einem tropischen Regenwald auch nach dem Aufenthalt noch lange andauern können.
Zurück in unserem Lager auf einer Lichtung am Flussufer, streifte ich die Schutzschichten zurück. Was mich da so plagte, waren keine Blutegel, sondern etwa 50 Zecken, die sich in meine Haut gebohrt hatten oder an meinen Beinen heraufkrabbelten. Ich streifte die losen Tiere ab und widmete mich zunächst wieder den Fledermäusen, die ich so schnell wie möglich vermaß und die Daten aufzeichnete. Später – die Fledermäuse waren inzwischen wieder freigelassen und der pechschwarze Urwald vom Zirpen der Zikaden erfüllt – zog ich den Reißverschluss meiner kokonartigen Hängematte über mir zu und pulte im Licht der Stirnlampe restlos alle Blutsauger aus meiner Haut.
Zurück in London machte sich bei mir wenige Monate später eine von den Zecken übertragene tropische Krankheit bemerkbar. Ich bekam Krämpfe am ganzen Körper, und ein Zehenknochen schwoll an. Es zeigten sich immer neue, seltsame Symptome, die immer neue Blutuntersuchungen erforderten und im Krankenhaus immer neue Spezialisten auf den Plan riefen. Immer wieder brachten ohne Vorwarnung auftretende Schmerzen, Erschöpfung und geistige Verwirrung mein gewohntes Leben zum Stillstand und verflogen dann wieder, als wäre nichts geschehen. Es sollten Jahre vergehen, bis die wahre Ursache ermittelt wurde. Die Infektion hatte sich inzwischen so festgesetzt, dass eine lange und intensive Behandlung mit Antibiotika folgte, die auch zur Heilung einer Rinderherde ausgereicht hätte. Immerhin würde ich von nun an wieder ich selbst sein.
Zu meiner Überraschung war das aber nicht das Ende der Geschichte. Ich war nicht nur von der von den Zecken übertragenen Krankheit kuriert, ich war auch keimfrei wie ein Stück Pökelfleisch. Die Antibiotika hatten zwar ihr Wunderwerk vollbracht, aber bei mir stellten sich neue Leiden ein – in derselben Vielfalt wie zuvor. Meine Haut war wund, meine Verdauung empfindlich, und ich fing mir alle möglichen Infekte ein. Mit der Zeit kam mir der Verdacht, dass die Antibiotika nicht nur die schädlichen Bakterien ausgelöscht hatten, sondern auch die, die eigentlich in mich hineingehörten. Es kam mir vor, als wäre ich durch die Behandlung unwirtlich für Mikroben geworden und begriff, wie nötig ich die freundlichen 100 Billionen kleiner Kerlchen brauchte, die ich bislang in meinem Körper beherbergt hatte.
Wir sind nur zu zehn Prozent Mensch.
Auf jede einzelne Zelle des Gefäßes, das wir unseren Körper nennen, kommen neun Zellen, die wir mehr oder weniger unbemerkt als Trittbrettfahrer dabeihaben. Wir bestehen nicht nur aus Fleisch und Blut, Muskeln und Knochen oder Hirn und Haut, sondern auch aus Bakterien und Pilzen. Wir bestehen mehr aus »ihnen« als aus »uns«. Allein in unserem Darm leben 100 Billionen von ihnen wie ein Korallenriff auf dem zerklüfteten Meeresboden unserer Darmwand. In den Falten, denen unser anderthalb Meter langer Dickdarm etwa die Oberfläche eines Ehebetts verdankt, finden mehr als 4000 verschiedene Mikrobenarten jede ihre eigene ökologische Nische. Die Masse der Gäste, die wir beherbergen, summiert sich im Lauf unseres Lebens auf das Gewicht von fünf ausgewachsenen afrikanischen Elefanten. Unsere Haut wimmelt von ihnen. Allein auf der Fingerkuppe tragen wir mehr von ihnen, als Menschen in Großbritannien leben.
Widerlich, oder etwa nicht? Eigentlich sind wir doch viel zu kultiviert, zu hygienisch und zu hoch entwickelt, um uns in solcher Weise besiedeln zu lassen. Hätten wir die Mikroben nicht ebenso ablegen sollen wie Fell und Schwanz, als wir die Wälder hinter uns ließen? Gibt uns die moderne Medizin nicht die nötigen Mittel, um sie zu vertreiben, damit wir fortan sauberer, gesünder und unabhängiger leben können? Mit der Tatsache, dass unser Körper ein Mikrobenhabitat darstellt, haben wir uns abgefunden, da uns dadurch offenbar kein Schaden entsteht. Anders als bei Korallenriffen und dem tropischen Regenwald haben wir bislang allerdings nicht daran gedacht, dieses auch zu schützen – geschweige denn in seiner Bedeutung zu würdigen.
Als Evolutionsbiologin bin ich darauf trainiert, anatomische Eigenheiten und Verhaltensweisen von Organismen auf ihren Vorteil, ihre Bedeutung hin zu untersuchen. Wirklich schädliche Eigenheiten und Wechselwirkungen werden in der Regel bekämpft oder gehen im Lauf der Evolution verloren. Das ließ mich aufhorchen: 100 Billionen Mikroben könnten sich niemals bei uns einnisten, wenn wir nicht ebenfalls etwas davon hätten. Unser Immunsystem kämpft doch ständig gegen Krankheitserreger und heilt unsere Infekte – warum sollte es eine derartige Invasion dann widerstandslos geschehen lassen? Da ich meine eigenen Eindringlinge, und zwar die bösen wie auch die guten, in monatelangem Kampf mit Chemiewaffen vertrieben hatte, wollte ich mehr über den angerichteten Kollateralschaden wissen.
Wie sich zeigte, stellte ich diese Frage genau zum richtigen Zeitpunkt. Jahrzehntelang hatte die Wissenschaft nur mit mäßigem Nachdruck versucht, über Kulturen in Petrischalen mehr über Mikroben zu erfahren, aber inzwischen waren die technischen Möglichkeiten unserer Neugierde ebenbürtig geworden. Die meisten Mikroben, die wir in uns tragen, sterben bei Kontakt mit Sauerstoff, weil sie an die sauerstofffreie Umgebung in unseren Gedärmen angepasst sind. Es ist nicht einfach, sie außerhalb des Körpers zu kultivieren, aber das Experimentieren mit ihnen ist noch schwieriger.
Das Humangenomprojekt mit der Entschlüsselung aller menschlichen Gene hat Wissenschaftler in die Lage versetzt, auch große Mengen von DNA äußerst schnell und kostengünstig zu sequenzieren. Selbst tote Mikroben, die wir mit dem Stuhl ausscheiden, können nun identifiziert werden, weil ihre DNA intakt geblieben ist. Wir dachten, unsere Mikroben würden keine Rolle spielen, aber die Wissenschaft ist dabei, diese Vorstellung zu verändern: Unser Leben ist mit diesen Trittbrettfahrern eng verbunden. Mikroben bestimmen die Vorgänge in unserem Körper, und ohne sie kann man kein gesunder Mensch werden.
Meine Gesundheitsprobleme waren nur die Spitze des Eisbergs. Wie ich erfuhr, finden sich immer mehr wissenschaftliche Belege dafür, dass Beeinträchtigungen der Mikroben unseres Körpers nicht nur Störungen im Magen-Darm-Trakt auslösen können, sondern auch Allergien, Autoimmunerkrankungen und sogar Fettleibigkeit. Beobachtet werden aber nicht nur unsere körperliche Beeinträchtigungen, sondern auch geistige von Angststörungen und Depressionen bis zu Zwangsstörungen und Autismus. Viele Krankheiten, die wir als Teil des Lebens ansehen, scheinen ihre Ursache nicht in fehlerhaften Genen oder einem Versagen unseres Körpers zu haben, sondern müssen völlig neu bewertet werden, weil wir die Mikroben als seit Langem bestehende Erweiterung unserer eigenen menschlichen Zellen nicht genügend gewürdigt haben.
Ich hoffte, durch meine Forschung zu entdecken, welchen Schaden die von mir eingenommenen Antibiotika in meiner Mikrobenkolonie angerichtet hatten, wie mich das krank gemacht hatte und wie ich das mikrobielle Gleichgewicht von vor der Nacht mit dem Zeckenbiss acht Jahre zuvor wiederherstellen konnte. Um mehr zu erfahren, tat ich den ultimativen Schritt zur Selbstentdeckung: Ich meldete mich an für eine DNA-Sequenzierung. Statt meiner eigenen Erbanlagen wollte ich allerdings die Gene meiner persönlichen Mikrobenkolonie – mein Mikrobiom – bestimmen lassen. Wenn ich erst wusste, welche Arten und Stämme von Bakterien ich in mir trug, dann besaß ich einen Ansatzpunkt dafür, meine Gesundheit zu verbessern. Anhand aktueller Erkenntnisse darüber, was in mir leben sollte, konnte ich vielleicht besser bewerten, wie viel Schaden ich genau angerichtet hatte und wie sich die Scharte wieder auswetzen ließ. Ich meldete mich also beim American Gut Project, einem populärwissenschaftlichen Forschungsprogramm am Labor von Professor Rob Knight an der Universität von Colorado in Boulder. Dort kann jeder gegen eine Spende Proben mit Mikroben des menschlichen Körpers sequenzieren lassen und so mehr über die Spezies, die wir beherbergen, und ihren Einfluss auf unsere Gesundheit erfahren. Ich schickte also eine Stuhlprobe mit den Mikroben aus meinem Darm ein und erhielt einen Schnappschuss des Ökosystems in meinem...