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E-Book

Die Sucht gebraucht zu werden

AutorMelody Beattie
VerlagHeyne
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783641146856
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die Freunde und Angehörigen von Alkoholikern, Drogenabhängigen und anderen Süchtigen haben es oft schwerer als die Betroffenen selbst. Sie werden von den Problemen ihrer Partner erdrückt und fühlen sich meist nicht in der Lage, mit der veränderten Situation umzugehen.

Melody Beattie hat einige Klassiker der Selbsthilfe-Literatur verfaßt. Nimm dich endlich, wie du bist schließt inhaltlich an ihren größten Erfolg 'Codependent no more' an, allerdings handelt es sich hier, wie schon bei dem Vorgängertitel 'Kraft zur Selbstfindung', um ein Reisetagebuch, das auch die Reise nach innen beschreibt. Beatties neues Buch entspricht der persönlichen Entwicklung und dem menschlichen Wachstum einer Frau, die erkannt hat, daß es meist keine einfachen Lösungen gibt im Leben.
'In mancherlei Beziehung ist 'Nimm dich endlich, wie du bist' der Folgeband oder auch eine Ergänzung zu Codependent No More. Es ist ein Guide für all diejenigen, die dem Geistigen auf der Spur sind, wenn man so will ein Handbuch der Jahrtausendwende.' (Melody Beattie)
Die Autorin, die vor acht Jahren ihren Sohn verlor,lebt in Malibu, Kalifornien.

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Leseprobe

Einleitung


Meine erste Begegnung mit Co-Abhängigen fand Anfang der sechziger Jahre statt. Damals nannte man Menschen, die durch das Verhalten anderer in Mitleidenschaft gezogen wurden, noch nicht Co-Abhängige, ebensowenig wie man Menschen, die nach Alkohol und anderen Drogen süchtig waren, als Abhängige bezeichnete. Obwohl ich nicht wußte, wie Co-Abhängige waren, so wußte ich doch, wer sie waren. Als Alkoholikerin und Süchtige stürmte ich durchs Leben und trug dazu bei, daß weitere Menschen co-abhängig wurden.

Co-Abhängige waren ein notwendiges Übel. Sie waren feindselig, kontrollierend, beeinflussend, Schuldgefühle verursachend. Es fiel schwer, mit ihnen zu reden, erst recht mit ihnen übereinzustimmen, manchmal waren sie direkt zum Hassen und ein Hindernis für meinen Zwang, high zu werden. Sie sprachen mich an, versteckten meine Pillen, machten ein böses Gesicht, schütteten meinen Alkohol in den Ausguß, versuchten mich daran zu hindern, mir Drogen zu beschaffen, wollten wissen, warum ich ihnen das antat, und fragten, was mir denn fehle. Aber sie waren immer da, bereit, mich aus meinen selbstgeschaffenen Katastrophen zu retten. Die Co-Abhängigen in meinem Leben verstanden mich nicht, und dieses Mißverstehen beruhte auf Gegenseitigkeit. Ich verstand mich nicht, und ich verstand sie nicht.

Beruflich begegnete ich Co-Abhängigen erstmals Jahre später, 1976. Zu dieser Zeit waren Süchtige und Alkoholiker in Minnesota im Sprachgebrauch zu Suchtkranken geworden, ihre Familien und Freunde galten als Sonderlinge, die Hilfe brauchten, und ich war eine genesende Süchtige und Alkoholikerin. Inzwischen arbeitete ich als Beraterin in der Suchtkrankenhife, diesem Netzwerk von Institutionen, Programmen und Vermittlungsstellen, das Suchtkranken bei der Genesung hilft. Weil ich eine Frau bin und die meisten ›wichtigen anderen‹ zu dieser Zeit Frauen waren und weil ich das niedrigste Dienstalter hatte und keine meiner Kolleginnen diese Aufgabe übernehmen wollte, beauftragte mich mein Chef im Behandlungszentrum in Minneapolis, innerhalb des Programms Gruppen für Frauen von Süchtigen zu organisieren.

Ich war auf diese Aufgabe nicht vorbereitet. Ich hielt Co-Abhängige noch immer für feindselig, kontrollierend, beeinflussend, Schuldgefühle verursachend, schwer erreichbar und mehr.

In meiner Gruppe sah ich Menschen, die sich für die ganze Welt verantwortlich fühlten, die sich aber weigerten, Verantwortung dafür zu übernehmen, ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen und zu leben.

Ich sah Menschen, die anderen ständig gaben, aber nicht wußten, wie man nahm. Ich sah Menschen, die gaben, die wütend, erschöpft und völlig leer waren. Ich sah manche geben, bis sie aufgaben. Ich sah sogar eine Frau geben und so leiden, daß sie im Alter von 33 Jahren eines natürlichen Todes starb – ›am Alter‹. Sie war Mutter von fünf Kindern und Frau eines Alkoholikers gewesen, den man zum dritten Mal ins Gefängnis gesteckt hatte.

Ich arbeitete mit Frauen, die Expertinnen darin waren, sich um alles zu kümmern, jedoch ihre Fähigkeit anzweifelten, sich um sich selbst zu kümmern.

Ich sah bloße Hüllen von Menschen, die sich kopflos von einer Aktivität in die nächste stürzten. Ich sah Helferinnen, Märtyrerinnen, Stoikerinnen, Tyranninnen, verwelkende Reben, anklammernde Reben und – um H. Sacklers Satz aus seinem Stück The Great White Hope (›Die große weiße Hoffnung‹) zu entlehnen – »verkniffene Gesichter, die das Elend verrieten«.

Die meisten Co-Abhängigen waren auf andere Menschen fixiert. Sie konnten mit großer Genauigkeit und in allen Einzelheiten lange Listen mit Taten und Missetaten der Süchtigen aufsagen; was er oder sie dachte, fühlte, tat und sagte; und was er oder sie nicht dachte, nicht fühlte, nicht tat und nicht sagte. Die Co-Abhängigen wußten, was der Alkoholiker oder Süchtige tun oder nicht tun sollte. Und sie wunderten sich immer wieder, warum er sich nicht daran hielt.

Doch diese Co-Abhängigen, die einen so großen Einblick in andere hatten, sahen sich selbst nicht. Und wenn es ihnen doch einmal gelang, dann wußten sie nicht, wie sie ihre eigenen Probleme lösen sollten – falls sie überhaupt andere Probleme hatten als das eine: den Alkoholiker.

Sie waren eine schreckliche Gruppe, diese Co-Abhängigen. Sie litten, beklagten sich und versuchten jeden und alles außer sich selbst zu beherrschen. Und bis auf ein paar wenige Pioniere im Bereich der Familientherapie wußten viele Berater (mich eingeschlossen) nicht, wie sie ihnen helfen sollten. Die Suchtkrankenbetreuung gedieh, aber die Hilfe konzentrierte sich auf den Süchtigen. Literatur und Ausbildung für Familientherapien waren knapp. Was brauchten Co-Abhängige? Was wollten sie? Waren sie nicht einfach Anhängsel eines Alkoholikers, Besucher im Therapiezentrum? Warum konnten sie nicht mitarbeiten, statt ständig Probleme zu verursachen? Der Alkoholiker hatte eine Entschuldigung dafür, verrückt zu sein – er war betrunken. Die ›wichtigen anderen‹ hatten keine solche Entschuldigung. Was den Alkohol betraf, waren sie nüchtern.

Ich machte mir bald zwei weitverbreitete Ansichten zu eigen: Diese verrückten Co-Abhängigen sind kränker als die Alkoholiker selbst. Und: Kein Wunder, daß Alkoholiker trinken! Wer hält das bei so verrückten Partnern sonst aus?

Inzwischen war ich seit einer ganzen Weile trocken. Ich verstand mich selbst allmählich besser, aber ich verstand Co-Abhängigkeit nicht. Ich versuchte es, es gelang mir aber nicht; erst Jahre später, als ich mich im Chaos von Alkoholikern so verstrickte, daß ich aufhörte, ein eigenes Leben zu leben. Ich hörte auf zu denken. Ich hörte auf, positive Gefühle zu spüren, und was mir blieb, waren Wut, Bitterkeit, Haß, Furcht, Depression, Hilflosigkeit, Verzweiflung und Schuld. Zuweilen wollte ich nicht mehr leben. Ich hatte keine Energie. Ich verbrachte die meiste Zeit damit, mir Sorgen um andere zu machen und zu überlegen, wie ich sie unter Kontrolle halten könnte. Ich konnte nicht nein sagen (außer wenn es darum ging, etwas Fröhliches zu unternehmen), nicht einmal dann, wenn mein Leben auf dem Spiel stand – und es stand oft auf dem Spiel. Meine Beziehungen zu Freunden und Familienangehörigen waren ein Scherbenhaufen. Ich fühlte mich schrecklich geopfert. Ich verlor mich selbst und wußte nicht, wie es geschehen war. Ich wußte nicht, was geschehen war. Ich dachte, ich würde verrückt. Und ich hielt es, den Finger auf andere gerichtet, für ihre Schuld.

Leider wußte niemand außer mir selbst, wie schlecht es um mich stand. Meine Probleme waren mein Geheimnis. Anders als die Alkoholiker und andere Menschen in meinem Leben, die Schwierigkeiten hatten, schaffte ich kein Durcheinander und erwartete auch nicht, daß irgend jemand hinter mir aufräumte. Tatsächlich machte ich im Vergleich zu einem Alkoholiker einen guten Eindruck. Ich war ja so verantwortungsbewußt, so zuverlässig. Zuweilen war ich mir nicht sicher, ob ich Probleme hatte. Ich wußte, daß ich mich elend fühlte, aber ich verstand nicht, warum es mit meinem Leben nicht klappte.

Nachdem ich mich eine Weile verzweifelt abgestrampelt hatte, verstand ich nach und nach mehr. Wie viele Menschen, die andere streng verurteilen, begriff ich, daß ich einen sehr langen und schmerzlichen Gang in den Schuhen derer gemacht hatte, die ich verurteilte. Ich verstand diese verrückten Co-Abhängigen jetzt. Ich war selbst eine von ihnen geworden.

Allmählich kletterte ich aus meinem schwarzen Abgrund heraus. Auf diesem Weg entwickelte ich ein leidenschaftliches Interesse am Thema Co-Abhängigkeit. Als Beraterin (obwohl ich nicht mehr ganztags tätig war, betrachtete ich mich als solche) und als Schriftstellerin war meine Neugier erwacht. Als eine ›in Flammen stehende, kenternde Co-Abhängige ‹ (eine Formulierung, die ich von einem Al-Anon-Mitglied übernahm), die Hilfe brauchte, stand für mich auch persönlich etwas auf dem Spiel. Was geschieht mit Menschen wie mir? Wie geschieht es? Warum? Vor allem aber: Was brauchen Co-Abhängige, um sich besser zu fühlen? Und dann auch so zu bleiben?

Ich sprach mit Beratern, Therapeuten und Co-Abhängigen. Ich las die wenigen verfügbaren Bücher über dieses Thema und verwandte Themen. Ich las die Grundlagen immer wieder  – die Therapiebücher, die sich bewährt hatten –, suchte nach nützlichen Anregungen. Ich ging zu Al-Anon, einer Selbsthilfegruppe, die auf den Zwölf Schritten der Anonymen Alkoholiker basiert, aber auf die Person ausgerichtet ist, die durch das Trinken eines anderen Menschen in Mitleidenschaft gezogen wird.

Schließlich fand ich, was ich suchte. Ich begann, zu erkennen, zu verstehen und mich zu verändern. Mein Leben lief wieder. Bald leitete ich eine andere Gruppe von Co-Abhängigen in einem anderen Therapiezentrum in Minneapolis. Dieses Mal hatte ich eine vage Vorstellung davon, was ich tat.

Ich hielt Co-Abhängige noch immer für feindselig, kontrollierend, manipulierend, unaufrichtig und so weiter, wie ich sie zuvor gesehen hatte. Ich beobachtete noch immer diese eigenartigen Persönlichkeitsveränderungen, wie ich sie früher schon beobachtet hatte. Aber ich schaute tiefer.

Ich sah Menschen, die feindselig waren; sie hatten so viel Leid erfahren, daß Feindseligkeit ihre einzige Verteidigung dagegen war, erdrückt zu werden. Sie waren so zornig, weil jeder zornig geworden wäre, der ihr Schicksal ertragen hätte.

Sie beherrschten alles, weil alles um sie und in ihnen außer Kontrolle war. Ständig drohte der Damm ihres Lebens und das Leben der Ihren zu zerbrechen und alle mit schlimmen Konsequenzen zu überfluten. Und niemand außer ihnen schien das zu bemerken oder...

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