Eros und Logos
Wenn ein Mensch in seinem Leben keinerlei energetische, tantrische Praktiken absolviert, wird die Kundalini bis ans Ende des Lebens eingerollt in der Gegend des Steißbeins ruhen und lediglich ihrer Basisfunktion nachgehen. Das ist in der heutigen Zeit insofern nicht mehr aktuell, da aufgrund bestimmter kosmischer Umstände, die ich an späterer Stelle in diesem Buch noch genau beschreiben werde, die Kundalinis aller Menschen – vermutlich bis ins Jahr 2012 – zumindest erwacht sein werden. Dies bedeutet natürlich nicht, dass alle Menschen den Kundalini-Prozess spontan beenden, es bedeutet lediglich, dass die ›Schlange‹ erwacht, ihren Aufstieg beginnt und einen intensiven Reinigungsprozess anstößt. Trotz dieser veränderten kosmischen Situation möchte ich im Folgenden den klassischen Aufstieg der Kundalini beschreiben, da er sich – spontan oder durch spirituelle Praxis – grundsätzlich auf diese Weise vollzieht.
Die im Wurzel-Chakra ruhende Kundalini liefert trotz ihres Ruhezustands dennoch Energie, denn sie gewährleistet u.a. den Ablauf sämtlicher Lebensprozesse. Die Kundalini ist in ihrem Ruhezustand keimhaft angelegt. Sie ist entfaltete vitale Urenergie und wird auch ›Samenkorn des Lebens‹ (bindu) genannt. Das Wort Bindu hat unterschiedliche Bedeutungen: Es kann Null, Tropfen, Keim oder Same genannt werden und bildet den eigentlichen Ausgangspunkt der körperlichen und meditativen Raumentfaltung sowie auch ihren höchsten Punkt der Einschmelzung. Man könnte auch sagen, dass der Bindu jenes seiende Nicht-Sein ist, in dem Raum und Zeit, Innen- und Außenwelt zu einem Punkt ohne Dimension eingeschmolzen ist – dies ist gleichbedeutend mit der in allen östlichen religiösen Strömungen vorkommenden Aufhebung der Dualität. Man könnte ihn auch als undifferenzierten, potenziellen und allumfassenden Ursprung aller Bewusstheit und Erkenntnis bezeichnen.
Die Kräfte, die sich im Keim befinden, verbinden und spezialisieren sich zu einem tragenden Ton (nada). In diesem Ton wird das Leben des Menschen hörbar. Allerdings hat dieser Ton erst dann ausreichend Substanz, wenn die Kundalini erwacht ist, um dann eine Umstrukturierung bzw. Neuorientierung der körpereigenen Energien zu bewirken. Dieser Klang oder auch göttliche Ton verdichtet sich schließlich und entwickelt sich zu einer einzigartigen, individuellen melodischen Klangfülle.
Solange die Kundalini im Menschen noch nicht erweckt ist, lebt der Mensch in einer Dualität, und sein Ich ist strikt nach außen hin orientiert. Diese Orientierung ist gewissermaßen erzwungen, da sich der Mensch in einer Subjekt-Objekt-Dualität befindet, die er selbst nicht auflösen kann. Diese Anhaftung an die Außenwelt ist von einer Reihe unterschiedlichster Gefühle begleitet, die durch das, was im Außen erlebt wird, beherrscht wird. Alles, was im Außen erlebt wird, kann ungebrochen, wie in Wellen, über das Ich hereinkommen und damit den Körper so beeinflussen, dass die ständige Reibung zwischen Ich und Außenwelt zu einem enormen Stress führt, der im schlimmsten Fall in einem Burn-out enden kann.
Die Kundalini ist in ihrem Ruhezustand dreieinhalbmal um den Keim im Wurzel-Chakra gewunden. Ihr ›Kopf‹ liegt dabei so, dass die Öffnung des Meru-Danda[8] von ihr verschlossen wird. Wird sie nun geweckt, so beginnt sie, sich zu entrollen und aufzusteigen. Während der Schöpfung des Menschen fließt die Energie von oben nach unten. Bei der Erweckung der Kundalini dreht sich diese Bewegung explosionsartig nach oben um, und das Ich wird auf diese Weise zu einer Innenschau gezwungen. Zunächst also gibt es eine Evolution[9], die den Menschen schafft, anschließend eine transformatorische Involution[10] und daraus folgend erneut eine Evolution der erscheinenden Wirklichkeit in das Sein absoluter Wahrheit.
Die Kundalini kann auf verschiedene Weisen zur Erweckung gebracht werden. Neben der Erweckung als Ergebnis verschiedener Praktiken wie im Yoga oder im Tantra gibt es auch erschütternde Ereignisse im Leben, die die Kundalini erwecken können. Das Erlebnis eines Schocks oder Unfalls, Erkrankungen oder massive Umwälzungen im Leben (zum Beispiel die Pensionierung oder der Tod eines geliebten Menschen) können das Leben so erschüttern, dass die Kundalini dabei erweckt wird. Im Idealfall bewegt sich die Kundalini wie ein Stab nach ihrer Erweckung in die Höhe und durchquert auf diesem Wege sämtliche Chakren. In der Vorstellung der Inder werden die nach unten hängenden Blütenblätter der Chakren von der Kundalini berührt, und dieser Kontakt bewirkt, dass diese Blätter umgedreht werden und sich plötzlich aufrichten. Durch diese Umkehrung wird die Neuorientierung des Einzelnen dargestellt. Das gängige Bild für diesen Vorgang ist in Indien die Lotosblüte, die sich aus der Dunkelheit des Schlammes bis zur Oberfläche des Wassers hindurch nach oben entwickelt, um sich dort – ohne jede Beschmutzung – vollständig rein und weiß zu entfalten. Der Geist, der in den menschlichen Körper geboren wurde und sich als Ich wahrnimmt (auskristallisiert), kann seine Qualitäten, die in den Blütenblättern verborgen sind, erst dann entfalten, wenn die trüberen Schichten seines Seins, zum Beispiel Leidenschaften oder Ignoranz, überwunden worden sind. Dem Menschen ist es nun möglich, die dunklen Kräfte, die in seiner Tiefe ruhen, an die lichte Oberfläche des Erleuchtungsbewusstseins zu bringen und auf diesem Wege zu transformieren.
In einigen traditionellen Texten wird die Kundalini auch als ›mystisches Feuer‹ bezeichnet. Gemeint ist damit, dass die Kundalini bei ihrem Weg nach oben die Chakren so vehement durchstoßen kann, dass dabei die Spitzen der Blütenblätter entflammt werden. Was auch immer genau an diesen Stellen geschieht, die Chakren werden in dem Moment, in dem sie von der Kundalini berührt werden, zum Leben erweckt. Sie beginnen aufzuleuchten und zu wirken. Je nachdem, wie weit der Mensch in seiner spirituellen Entwicklung fortgeschritten ist, kann es sein, dass die Chakren nicht durchlässig (blockiert) sind. In diesem Falle kann sich dieses mystische Feuer, das an den Chakren entsteht, so ausdehnen, dass es zu massiven Nebenwirkungen für den Menschen kommt. Dies können physische Phänomene sein, sensorische Symptome, intensive Gefühlsveränderungen und anderes.
In der Regel tauchen zu Beginn des Kundalini-Prozesses deutliche körperliche Symptome und Probleme auf, die jedoch nach einiger Zeit auch wieder verschwinden können. Sie werden meist durch abstrakte und auch weniger störende Phänomene ersetzt. So können in dieser Phase der Wirkung Halluzinationen auftauchen, Visionen oder Klangwahrnehmungen. Manche beginnen im Inneren Musik zu hören, die sich immer weiter verfeinert bis hin zu einem außerordentlich subtilen Klang. Später können sich Lichtphänomene und optische Effekte einstellen, die gelegentlich auch in Verbindung mit außerkörperlichen Erfahrungen erlebt werden. Während sich dem Menschen in dieser Phase der Erweckung die verschiedensten Symptome zeigen, wird im Inneren des Menschen eine Erinnerung und ein Wissen frei, das ihm eigentlich schon immer zur Verfügung gestanden hat – ein Wissen, das sehr alt und umfassend ist.
Während des Aufstiegs der Kundalini kann diese unterschiedliche Kanäle innerhalb des Meru-Danda nehmen. Je nachdem, für welche Nadi oder welche Kombination von Nadis sich die Kundalini zunächst entscheidet, stößt sie auf ihrem Weg nach oben auf bestimmte Hindernisse.
Im Yoga-Sutra des Patanjali werden insgesamt sechs von 352000 feinstofflichen Kanälen genannt, in denen sich die Kundalini nach oben bewegen kann. Dabei handelt es sich um Lakshmi-Nadi, Brahma-Nadi, Chitrini-Nadi, Sushumna-Nadi, Vajra-Nadi und Sarasvati-Nadi, wobei die beiden letzteren Sackgassen sind und nicht zu einem erfolgreichen Aufstieg führen. Wie bereits an früherer Stelle dargestellt, befinden sich vier dieser Nadis ringförmig ineinandergeschachtelt in dem Meru-Danda. Dies sind von innen nach außen Brahma-Nadi, Chitrini-Nadi, Vajra-Nadi und Sushumna-Nadi.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu verstehen, dass Ida und Pingala, die beiden Seitenkanäle, in diesem System nicht zu den Nadis gehören, in denen die Kundalini aufsteigen kann. Sie dienen lediglich dem Transport der Lebensenergie Prana.
Lakshmi-Nadi ist ein Kanal, der beim Aufstieg der Kundalini für die Ausbildung des physischen Körpers zuständig ist und später auch für die Auflösung des physischen Körpers nach dem Tod. Ein späterer Aufstieg in diesem Kanal ist eher ungewöhnlich und kann sogar sehr problematisch werden, da er nicht zum eigentlichen Ziel führt und es zu einer sogenannten Selbstverbrennung kommen kann.
Die innerste Nadi, die sich in dem Meru-Danda befindet, ist Brahma-Nadi. Ein Aufstieg in dieser Nadi ist der schnellste und wünschenswerteste, da es in ihr keinerlei Hindernisse gibt. Diese Hindernisse werden als Knoten in den Energiebahnen beschrieben. In den traditionellen Schriften findet man als Bezeichnung für diese Art von Hindernissen die Begriffe Lingas oder Granthis. Die Brahma-Nadi führt direkt aus dem Wurzel-Chakra in den Bindu oben am Scheitel, in dem die eigentliche Verschmelzung mit dem Göttlichen stattfindet.
Brahma-Nadi wird von Chitrini-Nadi umhüllt, die nicht ganz bis zum höchsten Punkt reicht. Die Kundalini kann dann aber an der Endstelle dieser Nadi in Brahma-Nadi übergehen, um den Verschmelzungspunkt erreichen zu können. Diese endet am zwölfblättrigen Lotos, der sich etwa an der Fontanelle befindet. Auf ihrem Weg nach oben muss die Kundalini...