Die Ursachen des Unheilbaren
Der Gang der Forschung — Die Missernährung — Die neue Ära der Ernährungsforschung — Die Überschätzung des Eiweißbedarfes — Die Wirkungen der neuen Heilnahrung bei der Herder-Heubnerschen Darmkrankheit, Erkrankung der Einsonderungsdrüsen, Beriberi-Krankheit — Der Zusammenhang zwischen Missernährung und Krankheiten.
Um lebensfeindliche Geschehnisse zu verhüten, müssen ihre Ursachen erkannt und vermieden werden. Das gilt auch für die unheilbaren Krankheiten. Ob es uns Menschen, ob es der Forschung jemals vergönnt sein wird, sämtliche Ursachen derselben zu erkennen, vermag niemand zu sagen. Wir haben uns zu bescheiden, stets dort den Kampf aufzunehmen, wo immer eine Ursache sich fassen lässt. Somit stellt sich uns die Frage, welche Hauptursachen im Entstehungsgebiet der unheilbaren Krankheiten erkannt worden sind, und was zu ihrer Behebung geschieht.
Man darf wohl den Satz aussprechen, dass unheilbare Krankheiten immer naturwidrig sind. Die Zerstörung des menschlichen Gebisses, die Lähmung des Darmes und die daraus entstehende Autointoxikation, die Schädigung der Einsonderungsdrüsen, der Kreislauforgane, die Erblindung, der Gehörverlust, die Geschwülste, die Geisteskrankheiten usw. — das alles ist naturwidrig. Der Kundige weiß, dass die Weisheit, die in dem Kunstwerk der Schöpfung, im Körper, waltet, unter Anwendung der sinnreichsten Schutzmaßnahmen jedes Organ und das Ganze zu erhalten strebt. Was also immer unheilbare Krankheiten verursacht, es hat die Macht, das Walten jener Weisheit zu verhindern oder zu besiegen.
Uns sind auch Instinkte gegeben, Leben und Gesundheit zu schützen; die Ursachen des Unheilbaren sind stärker als die Instinkte. Diese machtvollen Ursachen müssen allgemein verbreitet, überall vorhanden sein, auf jedes Individuum lauernd, ihre vergifteten Pfeile aus wohlverborgenem Hinterhalte absendend. Ihre Deckung muss so vollkommen tarnen, dass selbst die Erliegenden weder ahnen noch suchen, woher das Unheil kam. Lebensfeindliche Mächte, die in solchem Umfange Körper und Seele vernichten, müssen die Gabe besitzen, die Menschen durch verführerische Masken, unter freundschaftlichen Vorspiegelungen und Versprechungen anzuziehen. Alle Verführungskünste, die jemals dem Satan zugeschrieben wurden, müssen gerade sie besitzen. Es ist ihnen die Gabe verliehen, die Menschen dermaßen zu betören, dass sie Schädigung für Wohltat, Feind für Freund, Gift für Lebenselixier halten; dass sie ihrem größten Vernichter — weit schlimmer als der Tod — gegenüber völlig blind sind, ja dass sie sich erzürnen und ihn verteidigen, wenn jemand versucht, ihn zu demaskieren. Im Gedanken, ihn zu verlieren, werden sie von Angst befallen. Seine Wesenheit muss sich in eine Vielheit kleiner, scheinbar harmloser Einzelheiten auflösen, die sich alltäglich wiederholen, die Macht der Gewohnheit, die Selbstverständlichkeit der Sitte für sich zu gewinnen wissen. Was alle tun, wer wollte gerade darin den Todfeind suchen?
In der Tat, Tausende haben mit Ernst und Eifer nach den Ursachen der unheilbaren Krankheiten gesucht, aber zumeist dort, wo sie nicht sind. Als zu Ende des 19. Jahrhunderts die Erkenntnis von der verheerenden Wirkung des Alkohols durchbrach, wurde sie „wissenschaftlich“ bekämpft, und selbst heute noch wagt das Gros der Gebildeten, der Ärzte und Medizinprofessoren, aus Angst vor gesellschaftlicher Unbeliebtheit, nicht, vorbildlich den Alkohol aufzugeben. Und doch ist der Alkohol ein grober Polterer von zwar großer, aber dennoch geringerer Schädlichkeit als die anderen Ursachen.
Eigenartige Hemmungen und Widerstände, vorwiegend psychologischer Natur, mischten sich in den Gang der Forschung ein und sorgten dafür, dass Nebenursachen in den Vordergrund gestellt, die Hauptursachen jedoch unbeachtet blieben. So stellte man eine schöne Theorie auf, nach der die Zahnfäule durch den Angriff von Säuren aus den sich zersetzenden Speiseresten auf den Zahnschmelz entstünde, propagierte Verhütungsmaßnahmen durch Mundreinigung mit Bürste und antiseptischen Mitteln, was eine lukrative Industrie ins Leben rief, die Zahnfäule aber unbeirrt weiter wuchern ließ. Die Mundverschmutzung war in der Tat eine Nebenursache; indem man sie aber in den Vordergrund stellte, verdunkelte man um so mehr den Zugang zur Hauptursache, die, wie wir bald sehen werden, auf einem ganz anderen Gebiete liegt. Ähnliches geschah punkto Rheuma. Erkältung, Zugluft und Bakterien sollten die Ursache sein. Angstvoll schloss man das Leben von der frischen Luft ab, atmete, wo Menschen zusammenkommen, in verpesteter Luft. Mit den Bakterien wurde man sowieso nicht fertig. So griff denn das Rheuma ungehindert mehr und mehr um sich.
Noch viel derartiges wäre zu sagen. Völlige Unkenntnis der Ursachen, wie bei der Mehrzahl der unheilbaren Krankheiten, war oft noch besser als unreife Theorien. So blieb die Lage der Verursachungsfrage bis in die allerneueste Zeit; und dabei war an eine Verhütung des Unheilbaren überhaupt nicht zu denken.
Diese traurige und trostlose Sachlage hat sich nun mit einem Schlage völlig verändert. Eine der Hauptursachen, wahrscheinlich sogar die Hauptursache, all dieses Unheilbaren ist entdeckt und in weitem Umkreise bis zu einem hohen Grade der Wahrscheinlichkeit nachgewiesen worden. Sie findet sich da, wo man sie naturgemäß zuerst hätte suchen müssen, auf dem Gebiete der Ernährung. Nun fallen die Schuppen von den Augen. Man staunt über die Verblendung, die so lange Zeit geherrscht hat. Einer der größten Ernährungsforscher der Neuzeit, Mc Collum, fühlt sich angesichts der Tatsachen zu dem Ausrufe gedrängt: „Die Pathologen haben sich unfähig erwiesen, das Problem der Ätiologie zu lösen.“
Es darf als bekannt vorausgesetzt werden — ich habe darüber in einer Reihe von Veröffentlichungen1 ausführlich berichtet —, dass mit Beginn dieses Jahrhunderts eine neue Ära der Ernährungsforschung eingesetzt hat. Ebenso allgemein bekannt ist, dass ihr die Entdeckung der Vitamine zu verdanken ist. Ihre größte Leistung aber ist die Aufdeckung der ursächlichen Zusammenhänge zwischen Nahrung und Krankheit. Damit ist in die Lehre von der Entstehung der Krankheiten, in die Pathogenese und die Ätiologie, ein neues Licht gekommen. Eine Reihe schwerer Erkrankungen, deren Ursachen man nicht kannte oder verkannte, haben sich als Folgen einer Missernährung erwiesen. Bei einer weiteren Reihe ist die Verursachung durch Missernährung wahrscheinlich geworden und ihre Erforschung hat einen neuen Impuls erhalten. Wieder bei einer dritten Reihe, wozu z. B. die Tuberkulose gehört, tritt die Missernährung als vorbedingende Ursache neben die anderen Ursachen.
Der Begriff „Missernährung“ ist ein summarischer Begriff. Er umschließt eine Mehrzahl von gesundheitsschädlichen Faktoren: Mängel an verschiedenen Nährwerten, Qualitätsänderungen — oft unglaublich kleine — der Nahrung, Störungen der Gleichgewichte der Nährfaktoren untereinander, Zubereitungsfehler, Fehler der quantitativen Zufuhr, schädliche Reiz- und Rauschmittel, schlechte Gewohnheiten usw. Von dieser Vielheit von ursächlichen Faktoren können einzelne dominierend das ihnen entsprechende Krankheitsbild bestimmen, trotzdem wohl ausnahmslos eine Mehrzahl zusammenwirkt; oder es entstehen kombinierte Krankheitsbilder von reicher Mannigfaltigkeit, bei denen die Erstfolgen der Missernährung als neue Ursachen zu den weiter wirkenden Nährschädlichkeiten hinzutreten und dem Krankheitsbild besondere Charaktere verleihen. Aus dieser Sachlage erklärt sich die große Zahl verschiedenartigster Krankheiten, die alle auf die eine Ursache, eben auf die Missernährung, zurückzuführen sind.
Diese eine, vielgliederige, mächtige Krankheitsursache hat nun alle jene Eigenschaften, die oben für die Ursachen des Unheilbaren vorausgesetzt wurden. Sie ist allgemein verbreitet, ausgezeichnet getarnt, trägt verführerische Masken, versteht es durch Vorspiegelungen und Versprechungen anzuziehen, die Menschen zu betören, löst sich in eine Vielheit kleiner, alltäglich sich wiederholender Einzelheiten auf und hat die Mächte der Gewohnheit und der Sitten für sich. Sie hat aber auch noch eine äußerst verhängnisvolle Eigenschaft: sie wirkt über Generationen hin ununterbrochen weiter, wobei mit jeder folgenden Generation mehr konstitutionell geschwächte Individuen auftreten, die nun den Nährschäden rascher und schwerer verfallen als ihre Vorfahren. Dieser Sachverhalt hat wiederum einen unglücklichen Einfluss auf die Erkenntnis der Zusammenhänge ausgeübt. Der menschliche Verstand vermochte so langfristige Geschehnisse in ihrem Zusammenhange nicht zu fassen; er schob die Missernährungsfolgen in der Konstitution der späteren Generationen ganz einfach der Vererbung, der Heredität, zu. So stellte man ererbte Anlagen für die Zahnfäule, die Verdauungskrankheiten, die Herz- und Hautkrankheiten, die Gicht, die Blindheit, die Schwerhörigkeit usw. fest. Woher die Anlage ins Erbe des Kranken kam, blieb eine ungelöste Frage. Vererbung war Verhängnis, Fatum, wogegen kein Kraut gewachsen; war Degeneration, für die es keine Regeneration mehr gab; war hoffnungslos, unheilbar. Mit einer solchen Auffassung waren Heilungs- und Verhütungswille widerspruchslos gelähmt, zugleich aber auch jegliches Unvermögen entschuldigt.
Die sich Schlag auf Schlag folgenden Entdeckungen über den Zusammenhang zwischen Nahrung und Krankheit führten zu einer schauerlichen Offenbarung unserer Ernährungsirrtümer. Es gab zu allen kulturgeschichtlich bekannten Zeiten fehlerhafte Ernährung und Nährschäden bei niederen und hohen Schichten der Völker, doch hat noch kein Volk der Geschichte jemals mit einer in so vielen Richtungen fehlerhaften Ernährung...